Ein weiterer historischer Tag in diesem Jahr. Seit heute hat das Jahr der Gesichtsmasken offiziell begonnen. Und wie immer ist es faszinierend. Vor zwei Tagen noch war es einzig die Vernunft, die erklärt hat: Tragt eine Maske – und es hat sich in der Stadt nur eine Minderheit daran gehalten. Heute sagt es die Landesregierung unter Androhung von Strafen – und schon tragen Leute die Maske den ganzen Tag – sicher ist sicher. Und dann ist mir deswegen auch noch mein Sohn abhanden gekommen.
Der erste Tag der neuen Masken-Ära verlief zunächst recht unspektakulär. In der Arbeit feierte ich ausgelassen, als es mir endlich gelungen war, meinen ersten fehlerfreien Kurzarbeitergeld-Antrag festzustellen. Mittags gab es eine viel beachtete Ansprache unserer Chefin, die sich via Skype bei den momentan knapp 50 Kurzarbeitergeld-Bearbeitern allein in unserer Region bedankte und auf neue Herausforderungen einstimmte. Am Nachmittag arbeitete ich im Home-Office und es verlief überraschend stressfrei. Die Kinder hatten es sich am Balkon in der neuen Hängematte gemütlich gemacht und beschallten die Nachbarschaft mit dem Hörspiel zu „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“.
Nach getaner Arbeit beschlossen wir eine Radtour in die Stadt. Allerdings legte die halbe Familie kurzzeitig ihr Veto ein und ich fuhr mit Leo alleine. Das veränderte Stadtbild war gleichzeitig faszinierend wie beunruhigend. In jedem zweiten Auto saß jemand mit Gesichtsmaske am Steuer. In der Stadt strömten Menschen mit Masken aus den Geschäften und niemand machte Anstalten, sie draußen wieder abzunehmen. Kurz fühlte ich mich nackt, weil ich ohne Maske auf dem Radl unterwegs war. Wir schauten uns die Züge am Bahnhof an. Aber nur kurz, weil ich mich sehr unwohl fühlte, weil auch am Bahnhofsgelände inzwischen Maskenpflicht herrscht. Leo beruhigte mich: „Wenn die Polizei kommt, laufen wir davon!“ Danach zündeten wir eine Kerze in der Lourdes-Kapelle in der Stadt an. Dort drin herrschte keine Maskenpflicht, aber alle Gläubigen, die sich kürzlich in Risikogebieten wie Südtirol, vielleicht sogar Lourdes aufgehalten hatten, war der Zutritt verweigert.
Wieder zu Hause angekommen, wollte Leo gleich den Opa anrufen. Seit Tagen geben wir die Kinderbetreuung teils stundenlang wieder an Oma und Opa ab, die inzwischen ihr Gefallen an der Whatsapp Video-Funktion gefunden haben. Noch während sich der Anruf aufbaute, verabschiedete ich mich von Leo, weil ich noch ganz kurz (mit Maske) eine Kleinigkeit einkaufen musste. Kein Problem, die Mama und der Basti waren ja oben im Yogaraum.
Dachte ich.
Während ich feststellte, dass im einen Aldi die Angestellten Plexiglas-Visiere trugen, im anderen klassische Stoffmasken, spielte sich daheim ein kleines Drama ab. Die Mama und der Basti waren nämlich nicht zu Hause. Sie waren beim Nachbar Alex auf illegalen Kurz-Besuch. Als Leo nach mehrmaligem Tuten feststellte, dass der Opa den Video-Call nicht annahm, legte er das Handy beiseite und suchte seine Mama. Die war nicht im Yogaraum. Sie war nicht im Schlafzimmer. Sie reagierte nicht auf seine Rufe. Plötzlich begriff Leo: Er war mutterseelenallein zu Hause.
Was macht man nun in so einer Situation? Er hätte rüber zur Doppelhaus-Nachbarfamilie gehen können, wie es eigentlich vereinbart war. Leo behauptete später er hätte sich nicht getraut.
Man muss nun wissen, dass Leo letzte Woche bei einem Kurz-Besuch mitgekriegt hat, dass der Nachbar gegenüber ungefähr den größten und schönsten Garten hat, den man sich nur vorstellen kann.
Als ich von meinem Einkauf zurückkehrte, lief mir bereits die aufgeregte, aufgelöste Familie entgegen. „Was ist passiert?“
„Du hast Leo allein gelassen!“
„Ich dachte, du warst daheim!“
„War ich nicht!“
„Und was hat der Leo gemacht?“
Tja. Was hat der Leo gemacht? Erst stand er verdutzt im Flur: "Ich bin allein!" Einen Moment lang war er erschrocken. Dann begriff er: "Ich bin allein!"
Grinsend schlich sich der Leo aus dem Haus. Er postierte sich auf der Straße und schrie vorsichtshalber laut nach seiner Mama. Als er sicher war, dass sie definitiv nicht da war, näherte er sich Schritt für Schritt dem Haus seiner Träume. Dem vom Nachbarn. Wieder schrie er nach seiner Mama. Diesmal aber so, dass es zwar keine Mama, aber definitiv die Nachbarn mit dem riesigen Garten hörten. Die entdeckten bald das mutterlose Kind und schauten nach dem Rechten. Der kleine Ausreißer schaute sie mit seinen großen blauen Augen an und klagte: „Ich bin ganz allein! Niemand ist mehr da!“
Die Nachbarn boten dem wie ein Honigkuchenpferd strahlende Kind eine Tour durch den Garten und trösteten das vermeintlich verängstigte Kind mit Keksen. So jedenfalls hat es Leo anschließend grinsend erzählt.
Corona bringt uns halt alle ein Stück weiter zusammen. Mist, ich habe das Wort gesagt. Prost!
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Sandra (Dienstag, 28 April 2020 15:30)
Ich kann mir genau vorstellen wie der Tag war. Ein Highlight in der Coronazeit