Die größte Herausforderung dieser Krise ist es, diesen extrem schmalen Grat zwischen Richtig und Falsch entlang zu tänzeln, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und in den Abgrund zu stürzen. Gesundheit, Wirtschaft, Freiheit – was zählt mehr? Heute früh empörte ich mich noch über die Stadtbevölkerung, die sich unisono einig war, dass das Coronavirus nicht gefährlicher sei als eine Grippe und deshalb das Leben sofort wieder weitergehen müsse, wie vorher. Aussagen wie diese lösen bei mir umgehend Schnappatmung aus. Und was tut der gesetzestreue, regierungsbefürwortende Beamte selber am Nachmittag?
Fast zwei Monate lang haben unsere Kinder ihre geliebten Großeltern nicht mehr gesehen. Es war für uns klar, dass diese radikal vor dem Virus und uns als potentiellen Träger geschützt werden müssen. Aber seit einigen Wochen schon wurde auch bei uns die Stimme der Vernunft immer leiser und übertönt vom Geschrei der anderen Stimme, die einforderte, den größten Wunsch der Kinder (und der Großeltern) endlich zu erfüllen. Was also tun? Wir haben uns ganz rational noch einmal die Corona-Verordnungen des Freistaats Bayern durchgelesen. Und da stand die klare Empfehlung, dass man die Großeltern nur im Notfall besuchen solle. Aber war das inzwischen nicht schon ein Notfall?
So schnell kippt man also auf die andere Seite. Wir saßen im Auto nach Freilassing. Die Kinder erfuhren erst, als wir um die Kurve zum Haus von Oma und Opa abbogen, dass wir tatsächlich zu ihnen fuhren. Und der Jubel war natürlich groß. Schwieriger war es, ihnen einzubläuen, dass sie unbedingt Abstand halten mussten.
Es fühlte sich ein wenig an, wie ein Treffen unter Hochsicherheitsbedingungen. Wir blieben draußen. Der Opa hielt eine Krücke bereit, mit der er die Kinder lachend auf Infektionsschutz-Abstand verwies, wenn sie ihm zu nahe kamen. Und nach kürzester Zeit war klar, dass sich – zumindest Leo auf etwas anderes genau so gefreut hatte, wie auf Oma und Opa: Das Wiedersehen mit seiner geliebten Garten-Eisenbahn.
Es ist gerade ein kritischer Zeitpunkt dieser Krise. Es läuft gut im Land, die Zahlen entwickeln sich sensationell. Gleichzeitig rauscht die Wirtschaft steil bergab. Gestern wurden 10 Millionen Kurzarbeiter in Deutschland gemeldet. Die Politik war hoch alarmiert. Die einzigen, die nicht überrascht waren, waren wohl wir Mitarbeiter, die täglich die Kurzarbeit-Anträge bearbeiten. Der eine Teil der Menschen hat das Gefühl, das Thema habe sich erledigt, weil ja kaum einer erkranke. Der andere fordert ein Ende der Beschränkungen, weil es um seinen Job geht. Und der Rest, Leute wie wir, sind einfach müde, weil sie seit sieben Wochen die Kinder bespaßen und kein Sozialleben mehr führen. Auch ich gehöre zu denjenigen, die einfordern, dass vieles gelockert werden soll, dass die Verantwortung an die Menschen zurückgegeben wird. Aber ich wehre mich vehement gegen jede Aussage, das Virus sei nicht gefährlich oder gar besiegt, oder auch nicht gefährlicher als die Grippe. Meine Hoffnung ist es, dass wir inzwischen genug über Social Distancing und Infektionsschutz wissen, um wieder eigenverantwortlich unser Leben zu führen. Dazu gehört aber auch ganz klar, die Gefährlichkeit dieses Virus anzuerkennen. Auch wenn der Kollege eines Bekannten ein Youtube-Video gesehen hat, in dem ein hochdekorierter ehemaliger Virologe gesagt hat, dass das alles nicht so schlimm sei und alle Länder dieser Welt einem mittelmäßigen Grippevirus auf den Leim gegangen sind.
Seid ihr noch da? Ich schreibe das auch deshalb auf, weil auch ich – ähnlich wie die Virologen – meinen Standpunkt regelmäßig ändern muss. Die Forscher wissen leider einfach immer noch zu wenig über Sars CoV-2. Also zurück zu den Kindern:
Bastian will bekanntlich Polizist werden. Diesen seit Jahren gefestigten Berufswunsch hat er inzwischen revidiert. Er fragte uns neulich verschämt, welchen Beruf denn der Nachbar gegenüber, der mit dem riesigen Haus und dem Garten, der so groß ist, dass man mit dem Auto darin herumfahren kann, gehabt hätte. „Der war Zahnarzt!“ Jetzt ratet mal, was Bastian seitdem werden will? Er will so reich werden wie die Zahnärzte!
Wie ging unser illegaler Besuch bei Oma und Opa eigentlich weiter? Während die Kinder mit den Zügen spielten, gab es beim Zaun zum Nachbarn das nächste subversive Event. Die Nachbarn der umliegenden Grundstücke hatten sich in Lederhose und Dirndl aufgebrezelt und sich rund um den Gartenzaun gesetzt. Die Oma servierte Grillwürstel, es wurden Bierkrüge über den Zaun angestoßen. Und Opa Jochen sorgte für ein original bayerisches Maibaumaufstellen. Wenigstens in Miniaturversion. Auf seiner Gartenbahnanlage gab es nämlich einen kleinen Maibaum. Zusätzlich baute er drei Miniatur-Stützen und Meter für Meter wurde der Mini-Maibaum aufgestellt. Es war eine harte Arbeit und zwischen den „Hauruck! Hauruck“-Rufen musste eifrig getrunken werden, aber nach einer guten Stunde stand der Maibaum schließlich. Das muss man den Leuten schon lassen, Corona macht ungemein kreativ und man kann auch gemeinsamen Spaß haben, ohne die Infektionsschutz-Regeln zu verletzen.
Der Abschied fiel den Kindern natürlich schwer. Die anderen Nachbarn nickten uns verschwörerisch zu. Sie sagten, sie hätten unsere Großeltern seit Wochen nicht mehr so glücklich gesehen. Auf dem Weg nach Hause hatte ich trotzdem ein zwiespältiges Gefühl. So richtig es war, dass sich die Familie wiedersah, es bleibt eine Rest-Unsicherheit, ob wir trotz aller Schutz-Vorkehrungen nicht doch irgendeine Kleinigkeit übersehen haben. Aber dieses Risiko gehört nun mal mit dazu zum Leben.
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