Zirkus Corona Tag 57 – Tage der Befreiung

 

Motivationsspruch des heutigen Tages? Vormittags ruft mich meine Frau in der Arbeit an und macht mir Mut: „In der Zeitung steht heute, dass es schon einmal schlimmer war, als jetzt.“ „Ach so?“, frage ich und blicke vom Kurzarbeitergeld-Antrag auf, den ich gerade bearbeite. „Wann denn?“ „Am 8. Mai 1945!“, ruft sie vergnügt ins Telefon und legt auf. Nach einer Weile nicke ich zustimmend. Wo sie recht hat, hat sie recht.

So rebellisch wie jetzt die Erwachsenen sind auch die Jugendlichen in diesem Buch
So rebellisch wie jetzt die Erwachsenen sind auch die Jugendlichen in diesem Buch

 

Der Tag der Befreiung in Traunstein war aber bereits am 6. Mai 2020. Natürlich nicht wirklich, aber ein wenig fühlt es sich so an, wenn man mit dem Rad durch die umliegenden Siedlungen fuhr. Überall standen die Familien vor ihren Häusern und ratschten so aufgeregt miteinander, als hätten sie sich wirklich zwei Monate lang nicht mehr gesehen. Die Spielplätze waren so gerammelt voll, als wären sie nicht nur von Söder zur vorsichtigen Öffnung freigegeben worden, sondern als wäre es umgehend zur Bürgerpflicht erklärt worden, dass alle Familien ihren Beitrag zur künftigen Herden-Immunität jetzt und sofort leisteten. Ich radelte mit Leo in großem Sicherheitsabstand vorbei. Sicher ist sicher. Es war trotzdem ein Tag des Wiedersehens. In den Siedlungen durfte Leo, der seine Freunde seit zwei Monaten nicht mehr gesehen hatte, einigen seiner Fußball-Spezl zuwinken. Und da wir nur zu zweit waren, durfte er sogar ein erstes Mal seit Ewigkeiten wieder mit in den Supermarkt. Und dort trafen wir gleich den Gerhard vom Kindergarten, den Leo trotz Gesichtsmaske gleich wiedererkannte.

Gescheiter ist es, weniger Facebook zu lesen, dafür mehr süße Hasenfotos anzuschauen!
Gescheiter ist es, weniger Facebook zu lesen, dafür mehr süße Hasenfotos anzuschauen!

 

Die Tage fühlen sich tatsächlich an wie eine Befreiung, obwohl wir ja im Vergleich zu anderen Ländern eine Kindergeburtstags-Ausgangsbeschränkung erlebt hatten. Runter mit den Nerven waren trotzdem auch hier alle und es war eine ungemeine Freude, wie viele Leute, die wir seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatten, auf der Straße zufällig zu treffen. Trotzdem bleibt ein mulmiges Gefühl. Vor lauter Freude über die Lockerungen scheint es, dass das Thema Corona für erledigt erklärt wurde. Aber von wem? Von Christian Lindner und Hubert Aiwanger vermutlich. Denn die podcastenden Virologen, so uneinig sie sich in vielen Dingen sind, verpfänden wohl schon ihr Vermögen, um bei Tipico auf die zweite Welle im Herbst zu wetten.

 

Traunstein erlangte kurz Bundesweite Bekanntheit, weil es vom Robert Koch Institut als einer der Landkreise mit einer gefährlichen Inzidenz über 50 (Neu-Infektionen innerhalb von 7 Tagen pro 100000 Einwohnern) genannt wurde. Glücklicherweise waren die Zahlen veraltet und Landrat Walch konnte gleich beschwichtigen, dass Traunstein aktuell weit unter 50 liegt.

 

Noch eine weitere Erkenntnis ist mir heute gekommen: Ich lese seit einer Weile kein Facebook mehr, weil ich zu viele Beiträge nervlich nicht mehr ausgehalten habe. Eine der Personen die mich mehrmals beinahe das Notebook gegen die Wand werfen ließen, hat nun seinerseits einen Einblick in seine Gemütswelt gegeben: Er wurde wegen seiner Suche nach Wahrheit (so nennt er es) derart angefeindet, dass er nicht mehr schlafen konnte und alle Beiträge inzwischen gelöscht hat. Was sagt das über mich, über ihn, über uns alle und das, was Facebook aus uns gemacht hat, aus? Der Facebook-Algorithmus hat uns in unsere jeweiligen Empörungs-Ecken gedrängt, aus denen wir nun nicht einmal mehr herauskämen, falls sich eines Tages herausstellen sollte, dass die Wahrheit doch irgendwo in der Mitte lag. Einen der klügsten und reflektiertesten Beiträge zum Thema – so fand ich – hat übrigens Daniel Kehlmann in seinem Interview mit der Süddeutschen geboten. Aber entscheidet selbst. https://www.sueddeutsche.de/kultur/kehlmann-interview-coronavirus-1.4898386?reduced=true.

Sieht noch chaotisch aus - aber es wächst!
Sieht noch chaotisch aus - aber es wächst!

 

Was bleibt von diesen seltsamen Tagen der Befreiung? Nachdem die Freude über offene Spielplätze und diverse Möglichkeiten, sich mit Freunden oder befreundeten Familien zu treffen, verflogen war, blieb die triste Realität von übervollen Spielplätzen, Supermärkten und Baumärkten übrig. Geht es so weiter, werde ich noch seltener zum Einkaufen gehen als während der Ausgangs-Beschränkung.

 

Mein Garten wächst und gedeiht übrigens. Das Home-Schooling ist längst zur Routine geworden und ich habe seit zwei Monaten nicht mehr Tanken müssen. Eigentlich ist es ja ganz schön so wie es ist. Eigentlich, sinniere ich - und dann fällt mir wieder ein, wie viele Kurzarbeits-Anträge ich nächste Woche wohl wieder bearbeiten muss.

 

Leos REde zur Lage der Nation:

Das neuartige Corona-Virus hat unser Land in die schwerste Krise seit Ende des zweiten Weltkriegs geführt. Doch jede Krise ist auch eine Chance. 

In einer bewegenden Rede appelliert Corona-Opfer Leo, der seit zwei Monaten nicht mehr im Kindergarten gewesen ist, an das Volk, weiter durchzuhalten und erklärt, warum das Corona-Virus öde ist und gibt allgemeine Tipps für das Leben. Die große Rede im Wortlaut: Hier klicken

Alle vorherigen Geschichten aus dem Zirkus Corona hier:

www.chiemgauseiten.de/das-elterntagebuch
www.chiemgauseiten.de/das-elterntagebuch
Der Funkturm bei Einham ist von Weitem zu sehen und lädt zu einem schönen Spaziergang ein.
Der Funkturm bei Einham ist von Weitem zu sehen und lädt zu einem schönen Spaziergang ein.

Und noch einen Tipp für einen tollen Spaziergang in Traunstein mit oder ohne Kinder habe ich noch für Euch:

Auf der Suche nach schönen Spaziergängen während der Corona-Krise habe ich diesen malerischen Rundgang abseits der bekannten Traunsteiner Wanderwege entdeckt. Die kleine Wanderung führt über Haslach zum Axdorfer Feld und über die Einhamer Kapelle zurück nach Traunstein. Hier klicken

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