Das Corona-Tagebuch - Allerheiligen und der Tod

Der Umgang mit dem Tod ist auch während einer Pandemie überwiegend ein Tabuthema. Wir dachten immer, wir wären eine Familie, die sehr offensiv mit dem Tod umgeht. Immerhin ist unser wichtigster Familienfeiertag nicht Weihnachten, sondern Allerheiligen. Dieses Jahr fiel zwar die große Familienfeier aus, aber wir hatten genug Zeit, um einmal alle unsere Gräber abzufahren. Drei Gräber lang war es ein heiteres Ritual. Aber beim vierten waren die Kinder aufrichtig bewegt.

Noch am Morgen hatte ich mich auf eine Diskussion eingelassen, ob eine Sterblichkeitsrate von 0,3 bei einem Virus viel oder wenig sei. Es ist bei vielen Menschen immer noch nicht angekommen, dass die eigentliche Gefahr die exponentielle ansteigende Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus ist. Sicher, sterben werden wir alle. Und 85, 86 ist kein schlechtes Alter. Unter den Vorzeichen einer Pandemie und so vielen Einschränkungen, dass wir den Überblick verloren haben, wurde unser Allerheiligen 2020 ein ganz besonderes Fest. Denn ein erstes Mal blieben wir vier zusammen und fuhren gemeinsam zu allen Gräbern der Menschen, die uns in unseren gemeinsamen 20 Jahren verlassen hatten. Die hätten übrigens alle nichts dagegen gehabt, wenn sie wenigstens 70 geworden wären – womit ich allerdings nichts relativieren will.

Obwohl wir kaum Kontakt zu anderen Menschen hatten, draußen blieben und Abstand hielten, fühlten wir uns wie Corona-Rebellen. Und zwar, weil wir als erstes nach Freilassing in den Lockdown-Landkreis Berchtesgaden fuhren. Fassungslos blickte ich rechts und links: „Alle Straßen sind leer. Echt gruselig!“, murmelte ich. Meine Frau lachte: „Das ist ein ganz normaler Sonntag in Freilassing.“

 

Am Friedhof besuchten wir zuerst das Grab vom Vater meiner Frau. Die Kinder grübelten interessiert, ob da drin tatsächlich alle Leute lagen, die auf dem Grabstein standen. Noch mehr interessiert waren sie aber beim Grab gegenüber: "Wie viel das wohl gekostet hat?" Es bestand nämlich aus einer riesigen Marmorplatte. „Die waren sicher sehr reich!“ „Selbst wenn“, antwortete ich, „jetzt sind sie tot und es kann ihnen Wurst sein.“

Kinderspiele 2020: "Wir machen einen Coronatest"
Kinderspiele 2020: "Wir machen einen Coronatest"

Die nächste Station war Fridolfing. Dort sind die Großeltern meiner Frau begraben und nur zwei Reihen dahinter unser Schwager Daniel. Die Jungs ließen wir in der Zwischenzeit bei dessen Kindern spielen. Mein Neffe hatte nämlich ein neues Spielzeug-Labor geschenkt bekommen. Und was spielten die Kinder mit großer Begeisterung? „Wir machen einen Corona-Test“. Da die Familie frisch und negativ getestet war, wollten die Kinder uns natürlich zeigen, wie so ein Coronatest geht. Ich hoffe sehr, sie haben jeweils frische Wattestäbchen benutzt, sonst lande ich doch noch als Superspreader-Papa auf der Titelseite der Bildzeitung.

Als nächstes fuhren wir nach Kirchanschöring zum Grab meiner Eltern. Meine Kinder spielten Fangen und schrien und plärrten ausgelassen, dass wir kurzzeitig Angst hatten, dass die Nachbarn die Polizei riefen – nicht wegen Brechen der Corona-Regeln, sondern wegen Ruhestörung.

 

Auf dem Weg zurück nach Traunstein blieb das Gefühl, dass wir noch ein Grab vergessen hatten. Schweren Herzens bogen wir nicht in den Ettendorfer Tunnel ab, sondern Richtung Traunstein Nord. Wir fuhren zum Waldfriedhof in Traunstein. Die Kinder fragten verwundert, zu welchem Grab wir jetzt noch fuhren. Ich schaute sie noch verwunderter an, weil wir schon unzählige Male hier waren. Scheinbar haben die Kinder die Gabe, manche traurigen Geschichten erfolgreich zu verdrängen. „Wir gehen zum Grab der ungeborenen Kinder“, erklärte ich. „Wieso? Wer ist da?“

Ich zählte alle Kinder auf, für die wir hier regelmäßig Kerzen anzünden: „Euer Cousin Maximilian. Der kleine Louis. Und euer Geschwisterkind.“ Als hätten sie diese Information noch nie gehört, fragten sie erstaunt: „Welches Geschwisterkind? Haben wir noch eine Schwester?“ „Vielleicht. Wir wissen nicht, was es geworden wäre.“

Wir zündeten auch hier eine Kerze an und stellten sie zu den Dutzenden leuchtenden Kerzen, die rund um das Grab der ungeborenen Kinder standen. Die Kinder schauten sich still die vielen kleinen Kinder-Gräber an. „Wären wir eigentlich zu fünft?“, fragten sie. „Nein, dann wäre nämlich der Leo nicht da. Und wir sind ja froh, dass der Leo jetzt da ist!“ „Ist das kleine Mädchen jetzt ganz alleine?“, fragten sie immer wieder. „Nein, das Kind gehört ja trotzdem immer noch zu uns. Auch wenn es nicht da ist.“

Wir mussten noch viele Fragen beantworten und waren wirklich überrascht, dass das Thema Tod selbst in einer Familie, in der offen damit umgegangen wird, immer wieder neu thematisiert werden muss.

Dieser Spaziergang am Waldfriedhof war für uns und die Kinder sicherlich nicht leicht. Aber noch am selben Tag zeigten die Kinder, dass sie Meister der Resilienz sind. Das Thema Tod beschäftigte sie zwar noch kurz. Aber schneller als uns lieb war, konzentrierten sich die Kinder wieder auf die Themen, die ihnen dann doch noch ein Stückchen wichtiger sind und heckten folgenden Streich aus:

Nachdem sie nicht wenig Fernsehen durften, gingen sie zunächst anstandslos ins Bett. Nach einer Weile kam Bastian herunter und bat darum, dass wir die Wohnzimmertüre schließen sollten. Weil er sonst nicht einschlafen könne. Verdächtig, verdächtig.

Wir ließen die Türe offen. Immer wieder hörten wir oben Kichern. Als das Kichern zu lautstarkem Partylärm anschwoll, amüsierten wir Eltern uns noch ein wenig. Erst als es oben krachte und schepperte, schaute ich doch mal rauf, was da los war. Kaum war ich oben, war es aber mucksmäuschenstill. Leos Bett war leer. In Bastis Zimmer brannte noch Licht. Er lag allein Bett und begann völlig irre und außer sich auf der Matratze auf und ab zu hüpfen und mit schriller Stimme zu quieken: „Ich kann nicht einschlafen! Ich kann nicht einschlafen! Ich kann nicht einschlafen!“ "Was ist denn mit dem los?",  dachte ich. Und wo ist Leo? Kein Leo in Sicht. Ich zog den Vorhang unter dem Stockbett beiseite. Auch kein Leo. Dennoch musste ich grinsen: Sie hatten mit dem alten Laptop, einer USB-Tastatur und dem Kleinkinder-Wählscheibentelefon eine Art Büro aufgebaut. Als ich sah, dass sich eine Decke daneben ganz leicht hob und senkte und ich mir einbildete, ein leises Kichern zu hören, wusste ich wo Leo war. „Gute Nacht!“ Ich ging wieder nach unten.

Keine fünf Minuten schwoll der Partylärm wieder an. „Haben wir denen aus Versehen wieder Kaffee eingeschenkt?“, fragte ich verwundert. „Die flippen ja völlig aus!“ Des Rätsels Lösung schließlich, als Bastian mit schelmischem Grinsen und großen Pupillen in der Tür stand: „Papa, Mama! Ich muss euch was sagen!“ „Was ist denn los?“ „Der Leo hat die ganze Halloween-Schokolade geklaut und alles aufgegessen!“

Oh mein Gott. Das erklärte so manches. Aber es erklärte nicht, warum Bastian so wirkte, als hätte er einen mittleren Zuckerschock erlitten.

Wir ließen beide Kinder antreten. Leo gab zu, dass er die Schokolade geklaut und gegessen hatte. „Ich hab soooooo Hunger gehabt!“ „Bist du sicher, dass du es ganz allein warst?“ Leo verzog sein Gesicht zu einer Unschuldsmine. Bastian stubste ihn an und nickte bestätigend. „Jo!“, behauptete Leo und die Routine mit der uns beide ins Gesicht schwindelten, war faszinierend und erschreckend zugleich.

„Das glaube ich dir nicht! Wie viel von den vier Kinderschokoladen hat der Bastian gegessen?“

„Keine!“, schrie Bastian

„Eine Halbe!“ Leo und schnitt eine Grimasse.

„Aber nicht mehr!“, gab Bastian zu.

 So oder so. Wir wurden beklaut, belogen und am Allerschlimmsten war: Ich hatte gerade selbst einen riesigen Appetit auf Kinderschokolade. Wir schickten die Kinder endgültig ins Bett und erteilten als Strafe vierzehn Jahre Medienverbot.

Seit heute morgen haben wir übrigens die nettesten Kinder der Welt. Sie unternehmen alles, um das Medienverbot auf vier oder fünf Jahre zu verkürzen.

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