Verrückt

Alltag Weißblau verrückt
Mein Alltag in Weißblau: Verrückt

Die Sonne scheint, es ist schön warm. Ein freier Tag, ich bin allein daheim. Ich ernte die Oktober-Gurken. Vielleicht mache ich den Garten heute winterfest. Das Beet hatte ich angelegt, als Corona begann. Weil ich Zeit hatte. Und Angst. Dann griff Russland die Ukraine an und ich vermisste das Haben von Zeit. Und das, was ich zu Beginn der Pandemie für Angst hielt. 

Diesen Monat auf Rechtsrutsch der Bayernwahl, der Krieg im Nahen Osten. Als sei etwas verrutscht. Etwas verrückt. Nicht nur nach rechts. Früher hätte ich mich nicht so genau geächtet, hätte Angst gehabt. Aber ich habe gar keine Zeit dafür. Die Kinder müssen noch von A nach B gefahren werden. Neun fixe Termine haben allein die Buben. Woche für Woche. Wir haben nur ein Auto, um CO₂ einzusparen. Stimmt, den Klimawandel gibt's ja auch noch. Abends muss mit Kind 1 gelernt werden. Gymnasium und so. Während ich im Garten Tomaten ernte, denke ich an eine meiner ersten Kolumnen. Wie ich mich über das Hamsterrad beklagt hatte. Ich hab inzwischen auf den Turbo-Knopf dieses Hamsterrades gedrückt. Auch im Familienleben ist etwas verrückt. Ist denn die ganze Welt verrückt geworden? Eine Kolumne löst den Anspruch, gerscheit klingende einfache Antworten auf komplexe Fragen in unterhaltsame Texte einzuflechten. Aber selbst das habe ich aufgegeben. Ich habe keine Antworten mehr. Ich bin einfach erschöpft. Und froh, wenn ich jeden Tag meinen eigentlich verrückten Alltag halbwegs meistere. Wie soll man sich da abends noch einen Kopf um die Palästinafrage und rechtes Gedankengut in Bayern machen? Ich möchte am liebsten einfach dazusitzen, mich in einen freiwilligen Lockdown begeben und warten, bis der Klimawandel soweit fortgeschritten ist, dass ich auch im Winter Radieschen ernten kann. Ich habe eine große Hecke. Da kann ich nicht sehen, ob draußen Flüchtlingskrise ist oder die AFD inzwischen in der Regierung sitzt. Während ich davon träume, einfach aufzugeben und mich der Resignation hinzugeben, wehrt sich in mir etwas. Vielleicht ist das Leben absurd, vielleicht ist die Menschheit verrückt geworden. Aber es ist immer noch mein Leben, ich immer noch ein Teil der Menschheit. Also raffe ich mich auf, gehe die To-Do-Liste an und stelle mich den Herausforderungen des Alltags. Ich werde das Leid im Nahen Osten nicht lindern können. Aber ich werde Kind 1 helfen können, besser in Latein zu werden. Und Kind 2 können Fussballspielen lernen. Und vielleicht ist es verrückt, dass ich mich Tag für Tag in dieses Hamsterrad begebe. Aber im Vergleich zur Verrücktheit der restlichen Welt bin ich dankbar, dass mein Hamsterrad im schönen Bayern steht. Und ich wenigstens in Sicherheit bin und keine existenzielle Angst haben brauche.

 

Bernhard Straßer ist Schriftsteller und lebt in Traunstein. Mehr von ihm auf www.chiemgauseiten.de.

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