Eine kurze Lesereise mit Benjamin von Stuckrad-Barre

Es ist Frühjahr 2003. Ich gehe mit einem Mädchen, das nicht meine Freundin ist, ins Kino in Mannheim. Soloalbum. Wir schmeißen uns beide weg, als Matthias Schweighöfer einen Passanten anbrüllt: „Wir haben über 3 Millionen Arbeitslose, also grins nicht so blöd!“. Wir sind beide Studenten für die Bundesagentur für Arbeit und finden das furchtbar witzig.

Der Film basiert, so erfahre ich, auf dem Spiegel-Bestseller von Popliteratur-Sensation Benjamin von Stuckrad-Barre. Das ist doch der von der Anke Engelke, dachte ich mir, und kümmerte mich nicht weiter darum. Das Buch bestellte ich mir trotzdem. Es war eine meiner ersten Bestellungen bei diesem neumodischen Online-Buchhändler namens „Amazon“. Das Buch war ein Dammbruch. Nicht nur, weil ich auch einer dieser jungen Idealisten war, der Musik, selbst Oasis (immer noch) liebte, sondern weil ich auch Schriftsteller war. Und nach dem perfekten Stil suchte. Und dachte, dass mir John Irving und Thomas Mann alles beigebracht hätten, was man in der Literatur wissen musste. Und dann knallt da dieses Soloalbum von diesem Stuckrad-Barre rein und ich weiß: Ich will nie wieder anders schreiben versuchen als so. Und natürlich bin ich viel zu spät dran, ich weiß es nur nicht, weil Soloalbum halt der erste Poproman war, der in mein Leben gekracht ist. So wie ich immer zu spät dran bin. Außer einmal, da war ich zu früh. Ich erfahre später, dass Stuckrad-Barre einen Sommer lang in Prien gelebt hat. Klinik Roseneck. Nicht der schönste Ort dort. Nicht der schönste Grund, in Prien zu leben. Bei mir war es der Zivildienst. Zwei Jahre früher. Ich lebte in der Jugendherberge. Und träumte davon, Autor zu werden. 


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Er, der Patient mit Gewichtsthemen, war längst der gefeierte Popliteratur-Superstar. Hatte ihm offensichtlich auch nicht so gutgetan. Zu einer zufälligen Begegnung, so wahrscheinlich sie auch gewesen wäre, kam es so natürlich nicht. Mein erstes Buch musste allerdings ein Poproman werden. „Kleinstadtrebellen“, mein Soloalbum. 10 Jahre lag da Stuckrad-Barres Buch bereits im Bücherschrank, ehe ich es Andi lieh, der es irgendwo in der Adria versenkte. Er fand es nicht so gut. Erst bei einer Recherche zu einem anderen Romanprojekt merkte ich, dass auch in Soloalbum ein lebendiges Huhn von betrunkenen Nachtschwärmern am Hamburger Fischmarkt gekauft wird. Literarische Aneignung? Fast, denn meine Anekdote war autobiografisch. Aber vielleicht war es die in Soloalbum ja auch. Irgendwie war es mir auch egal, ich war inzwischen Vater geworden und wusste, dass ich zu alt war, um noch ein Popliterat zu werden. Außerdem hatte ich neue Helden. Thomas Glavinic, John Green, und über allem Wolfgang Herrndorf. Stuckrad-Barre interessierte mich lange nicht mehr, bis mich meine Lektorin auf das Hörbuch von „Panikherz“ auf Spotify aufmerksam machte. Und ein zweites Mal krachte Stuckrad-Barre in mein Leben. Und er war nicht allein. Ich liebte so ziemlich alles an dem Hörbuch. Wie er es vorlas. Wie er die Stimmen imitierte. Und der Inhalt sowieso. Ich träumte mich ins Chateau Marmot. Und ich lernte Künstler zu lieben, die mich vorher nicht interessiert hatten, oder die ich aus dem Blick verloren hatte. Einen Frühling lang, die Corona Lockdowns hatten gerade begonnen, hörte ich nur Udo Lindenberg und las jede Biografie die mir in die Finger kam. Auch an Bret Easton Ellis wagte ich mich wieder ran. Und richtig gepackt hatte mich Helmut Dietl. Das alte München, mein altes München das ich schon als Kind so sehr geliebt hatte. Wehmütige Monaco-Franze Kindheitserinnerungen vermischten sich mit Popkultur. Und wer hatte all dies miteinander zusammengebracht? Ja, ich war dankbar für dieses Buch. Life changing book #2. „Noch wach“ besaß ich dann wieder ab Auflage 1.

Und dann sitze ich im Publikum der Lesung von „Noch wach“ im Internat Schloss Stein. Neben mir mein Urologe. Er schaut mich die ganze Zeit mit diesem Blick an: „Woher kenne ich den Typ?“ Die Lesung ist super. Die Texte aus dem Buch besser als ich sie in Erinnerung habe. Und dann liest er noch aus Panikherz. Großartig, alles großartig. Aber ich sitze einfach da, wie ein Gast auf einer Lesung. Das hatte ich mir vor 22 Jahren so ganz anders vorgestellt. Dass ich einen großen Popkultur-Roman schreibe und sie mir alle auf die Schulter klopfen, Stucki, Ronja von Rönne, Benedict Wells und als einen der Ihren ansehen. Und dann stehe ich doch wieder wie der ganz normale 0815-Fan in der Schlange und warte darauf, mir mein Exemplar signieren zu lassen. Vor mir Julia, sie hält ihm „Panikherz“ hin und er schaut sie verdutzt an: „Da ist ja schon eine Widmung drin“.

Jetzt beginnt mein Herz panisch zu schlagen, und ich prüfe nach. Nein, da hat noch keiner was signiert. Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass man sich trauen muss, seine Träume wahr werden zu lassen. Das würde bedeuten, dass ich Stuckrad-Barre erzählen müsste, dass er meine Leidenschaft für die Literatur neu erweckt hat, dass wir beide gemeinsam auf den Plakaten vom „Leseglück“ zu sehen sind, dass ich beinahe das Interview des regionalen Käseblatts mit ihm geführt hätte, dass wir uns in Prien nur um knappe zwei Jahre verpasst hätten, Blablabla. Das ist mir gleichzeitig alles irgendwie zu blöd und ich halte ihm nur mein Buch hin. Also sein Buch. Und dann zeige ich ihm, wie auf Autopilot mein Buch und sage, dass ich ein Buch über „Falco“ geschrieben habe. Und sage, dass ich ihm das auf keinen Fall geben werde. Er sagt, er nimmt es trotzdem, er sei ja ein Riesen Falco Fan. Und dann muss ich mein Buch für ihn signieren und ich schäme mich für meine Schrift und irgendwie ist alles so peinlich, dass ich mich neben meinen Urologen zurückwünsche. Aber irgendwie ist es auch schön. Mein Falko verschwindet im Koffer von Benjamin von Stuckrad-Barre und sein signiertes „Noch wach“ in meinem Rucksack. Sinnbildlich für unsere Leben gehen wir danach getrennte Wege. Er wird auf die Wohnzimmer-Aftershow-Party des Schulbesitzers eingeladen, ich fahre nach Hause zu den Kindern. Meine Frau beschwert sich am nächsten Tag, dass er nicht „Für Nicole“ ins Buch geschrieben hat. Ich kann in dieser Nacht nicht schlafen. Und denke, irgendwann, wenn er seinen Koffer auspackt, wird er „Falko“ in die Hand nehmen. Vielleicht liest er den Klappentext. Vielleicht blättert er rein. Vielleicht denkt er sich: „Interessant.“ Vielleicht legt er es auch einfach ins Regal – zwischen Udo, Dietl und Easton Ellis. Und vielleicht, nur vielleicht, wird er es eines Nachts aus genau diesem Regal ziehen und die ganze Nacht hindurch lesen. Wenn er noch wach ist.

Hier noch der offizielle Pressetext zur Lesung von Stuckrad-Barre in Stein:

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