In einer subtropischen Hitze während der anhaltenden Pandemie begibt sich der Protagonist auf eine Zugfahrt, die sich zu einer qualvollen Odyssee entwickelt. Enge, Hitze und die Grenzen der eigenen Belastbarkeit prägen diese beklemmende Kurzgeschichte über den Kampf um Freiheit und das Ringen mit den Missständen der Gesellschaft. Tauche ein in ein tropisches Inferno auf Schienen, das den Leser mitfiebern und die eigene Erleichterung am Ende spüren lässt. Der neue Gastbeitrag meines südthüringer Autorenkollegen Christian Wicklein.
Juli 2022. Der Hochsommer begräbt das Land unter einer Decke subtropischer Hitze. Die Pandemie ist noch nicht am Ende und doch gefühlt schon wieder am Anfang. Deshalb gilt es, die wenigen Wochen ohne größere Einschränkungen sinnvoll zu nutzen.
Ich stehe am Bahnsteig und halte ein Ticket für neun Euro in meiner Hand. Neun Euro, die es mir erlauben, das ganze Land zu bereisen. Damit könnte ich nach Hiddensee fahren und den längst überfälligen Besuch bei meiner Tante hinter mich bringen. Jetzt, wo die Ausrede mit dem fehlenden Reisebudget nicht mehr zählt. Oder ich schließe mich den Punks an, die ihrerseits Sylt belagern, um die Insel unter ihre Fittiche zu nehmen und ihr einen neuen soziokulturellen Anstrich zu verleihen. Alles ist möglich. Und doch entscheide ich mich für … Bamberg.
Als der Zug einfährt wird mir das volle Ausmaß des Neun-Euro Wahnsinns bewusst. Nur Sekunden später stehe ich eingekeilt wie auf der Rolltreppe im KaDeWe am Adventssamstag zwischen schwitzenden Geschäftsmännern und acht Meter gegen den Wind nach Bier stinkenden Partyurlaubern, die zu allem Überfluss noch eine groteske Menge an Reisegepäck dabeihaben. Es müssen ungefähr vierzig Grad hier drinnen sein. Die Fahrt beginnt. Ich bin zwischen schwitzenden Leibern eingeklemmt. Um mir den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, müsste ich mir den Arm auskugeln. Etwas weiter vorne sitzt eine Frau und stillt ihr Baby. »Zustände sind das«, schimpft eine andere Frau. Wenig später hält der Zug zum ersten Mal. Die Türen öffnen sich. Niemand steigt ein oder aus. Inmitten der oberfränkischen Provinz weht eine laue Brise Bedeutungslosigkeit herein. Ein Kind fängt an zu weinen. Irgendwo entkorkt jemand eine Flasche Sekt. Gelächter. Ich will mich festhalten und greife ins Leere. Trotzdem falle ich nicht. Ich kann gar nicht fallen. Und wenn doch, dann fallen wir alle. Die Toilettentür öffnet sich, gleichzeitig schließen sich die Türen des Zugs. Der Duft von Urin vermischt sich mit der Wolke aus Hautausdünstungen, die uns alle umgibt. Der Mann neben mir kämpft mit seinem Kreislauf. Das wars, denke ich, als wir uns wieder in Bewegung setzen. Hier endet es. Irgendwo zwischen Sonneberg und Bamberg werde ich ersticken und leblos in Klein Venedig einrollen. Ich bin für jeden noch so kleinen Windhauch dankbar. Selbst ein Zugunglück erscheint mir plötzlich angenehmer als das, was sich hier drin abspielt. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Schlagzeile »Junger Schriftsteller stirbt bei Zugunglück nahe Bamberg«. Dabei denke ich an die Bild Zeitung, bei der allein die Überschriften ihr Geld wert sind. Die werden ebenfalls darüber berichten und dort wird es heißen: Letzter Halt, Wagen 27. Es wird im Bericht die Rede davon sein, dass nur in unserem Wagon die Klimaanlage nicht richtig funktionierte und so die Menschen den Tod fanden. Ich schiebe die Gedanken beiseite. Weiter vorne beschwert sich eine Frau, »warum dieser scheiß Zug in jedem Nest anhalten muss«. Es sind noch zwanzig Minuten bis zum Ziel. Halt durch, Junge, rede ich mir gut zu, du schaffst das. Plötzlich kommt Bewegung in die Sache und die Masse wird unruhig. Von hinten drückt mir jemand seine Faust in die Lende und ich werde in Richtung Tür geschoben. Dort liegen zwei Rucksacktouristen auf dem Boden und schlafen. Eine Durchsage ertönt. Emotionslos liest eine Männerstimme die nächste Haltestelle vor und verweist darauf, dass der Zug nicht weiterfahren wird, sollte den anderen Zugreisenden nicht das Einsteigen ermöglicht werden. Die Worte »lächerlich« und »Arschloch« sind zu hören. Wir halten, die Türen öffnen sich. Menschen drängen nach draußen und schnappen nach Luft. Ich werde weiter in Richtung Tür gedrängt. Ein Baby schreit, vielleicht ist es aber auch eine Sirene, ich kann die Geräusche nicht mehr auseinanderhalten. Dumpfe Schmerzen machen sich in meinem Kopf breit. Es fehlt nicht mehr viel und ich werde von der Welle mit nach draußen geschwemmt. Mit letzter Kraft umklammere ich den Monitor, der die Haltestationen anzeigt, wie einen Rettungsring. Dann treten wieder Menschen ins Innere dieses tropischen Infernos auf Schienen. Wie eine Flutwelle schwemmt es mich zurück in den Gang. Die Türen schließen sich wieder. Ein untersetzter Mann mit Schnurrbart sackt in sich zusammen, er hat es nicht mehr rechtzeitig raus geschafft. »Haßfurt« sagt er nach einem Blick auf den Monitor und schlägt die Hände vors Gesicht. Ich verspüre kein Mitleid. Jetzt ist jeder auf sich allein gestellt, und nur die Stärksten werden diesen Höllentrip hier überleben. Prompt wird mir schwarz vor Augen. Mittlerweile bin ich nassgeschwitzt bis auf die Unterhose. Aber immerhin kann ich nicht umkippen.
Als wir in den sicheren Hafen einfahren, komme ich wieder zu mir. Die finale Destination ist erreicht. Sofort verspüre ich den Drang zu applaudieren. Es ist mir egal, ob das deutsch ist. In diesem Moment ist mir alles egal. Ich will hier nur noch raus. Schweiß rinnt mir in die Augen. Ich bekomme Wahnvorstellungen. Ich sehe mich aussteigen und den Boden küssen, während mir ein durchtrainierter Chippendale ein isotonisches Getränk reicht. Der Zug steht und die Türen bleiben geschlossen. Mein Blick fällt auf die stillende Frau. Ihr hellblondes Haar umgibt sie wie einen Heiligenschein und fällt sanft auf ihre blaue Bluse. Ihr Kind hält sie an die Brust. »Süßes, kleines, unschuldiges Geschöpf, bist heute knapp der Apokalypse entronnen, ohne es auch nur zu ahnen.« Engel singen Hallelujah vom Himmel herab und Sonnenstrahlen zerschneiden den Dunst, als sich die Türen endlich öffnen. Es fühlt sich an, als würde ich nach draußen schweben, getragen von einer klimatisierten Leichtigkeit. Luft. Freiheit. Endlich wieder das Gefühl, dass alle Gliedmaßen in die ihnen zugewiesenen Himmelsrichtungen weisen. Gleichzeitig ergreift meinen Körper eine tiefe Erschöpfung. Wieder verschwimmen die Bilder vor meinen Augen. Ich stütze mich am Snackautomaten ab. Ein kleiner Junge boxt mir in die Rippen und sagt, dass er etwas kaufen will. Ich torkle zur Seite. Unter meinen müden Blicken zieht das Kind ein Snickers aus dem Automaten, streckt mir die Zunge raus und verschwindet. Ohne zu wissen, wie ich dorthin gelangt bin, stehe ich unvermittelt vor dem Bahnhofsgebäude. Links steuern Truppen durstiger Menschen auf die Innenstadt zu. Rechts am Taxistand glänzt ein gelber Wagen in der Sonne. Neben mir unterhalten sich zwei Männer über die steigenden Dönerpreise. Da wird mir, wo ich dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen bin, bewusst, was in diesem Land schiefläuft. Während wir über eine Dönerpreisbremse diskutieren, gehen Menschen in klimaunfreundlichen Zügen für neun Euro vor die Hunde. Ich fühle mich wie nach einer Weltumsegelung, mit heftigem Seegang und verfaultem Essen. Deshalb fällt mir das Prüfen meiner Optionen nicht schwer.
Der Taxifahrer heißt Alfred und fragt mich dreimal, ob das wirklich mein Ernst sei. Dann einigen wir uns auf Kartenzahlung. Auf der Autobahn sagt Alfred, es sei schön, dass es noch Leute wie mich gebe, die auch in Zeiten des Neun-Euro-Tickets an die Anderen denken. Ich antworte nichts darauf. Alfred richtet den Rückspiegel und dreht das Radio lauter. Udo Jürgens singt »Die Sonne und du«. Draußen zieht Oberfranken wie eine Fata Morgana an mir vorbei. Ich drehe die Klimaanlage in meine Richtung. Morgen bin ich mit Sicherheit erkältet.
Die Stücke von Christian Wicklein sind in seinem neuen Buch "Im Handstand singend Hamlet zitieren" erschienen.
Erhältlich auf Amazon (Hier klicken)
Alle Infos zu Christian Wicklein und seinen Büchern hier: http://www.christianwicklein.com/
Christian Wicklein ist ein deutscher Autor, der vor allem für seine Romane und Kurzgeschichten bekannt ist. Er wurde in Südthüringen geboren und lebt dort auch heute noch. Sein erster Roman “Schuster” erschien 2017 und handelt von einem Mann, der das Beste in seinem Leben bereits hinter sich hat. Sein zweiter Roman “Und die Spitalbesucher kamen in Engelskostümen” folgte 2018 und erzählt von einem jungen Mann, der nach einem Unfall im Koma liegt und von seinen Freunden besucht wird. 2019 veröffentlichte er seinen Kurzgeschichtensammelband “Holt die Kuh vom Eis”, in dem er humorvoll und tragisch von Liebe, Tod und Trauer schreibt. Eine seiner Kurzgeschichten, “Niemandsland”, wurde im Rahmen des Literaturwettbewerbs 2019 der Gruppe 48 in einer Anthologie veröffentlicht. Sein neuester Roman “Nur wenn ich lachen muss, tut es noch weh” kam 2021 heraus und handelt von einem Zeitungsredakteur, der durch ein Missverständnis seinen Job verliert und nach Berlin zieht, um sein eigenes Theaterstück auf die Bühne zu bringen.