Beim Naschen

Lustige Geschichte von früher: Kinder erkunden heimlich die nostalgische Welt ihrer Oma. Beim Naschen in der Vorratskammer entdecken sie die Schätze einer längst vergangenen Zeit. Ein humorvolles Abenteuer, das die Verbindung zwischen Tradition und Moderne auf liebevolle Weise zeigt.

Eine lustige Geschichte von früher

Wir stampften im Gleichschritt die Treppe hinauf und riefen singend, streng den Takt der Füße folgend: „Oma gehen! Oma gehen!“ Es war eine alte Holztreppe, die laut polterte, wenn man kräftig darauf trat, und die knarzte, selbst wenn man auf Zehenspitzen versuchte, hinaufzuschleichen. Sie war überzogen von einem grüngrauen Linoleum, und die Kanten der Absätze bestanden aus schwarzem Gummi. Schon im Treppenaufgang roch es nach längst vergangenen Zeiten.

 

Die Treppe war die Verbindung zwischen der Moderne, die im Erdgeschoss zurückgeblieben war, und einer längst vergangenen Zeit, die man immer noch im ersten Stock besuchen konnte. Das ganze Haus war so anders als die Häuser meiner Schulkameraden, den Hammerschmiedbuben mal ausgenommen, aber der wohnte ja auf einem Bauernhof. War dieses Haus meiner Großmutter vielleicht auch einmal ein Bauernhof gewesen?

 

Zumindest hatte es hier früher einmal einen Stall gegeben. Und Schafe. Außerdem befand sich im Erdgeschoss in einem abgetrennten Raum ein Klo. Dieses Klo war wohl deshalb im Treppenhaus, damit es die verschiedenen Familien, die nach dem Krieg dort gewohnt hatten, gleichzeitig benutzen konnten.

 

Das Haus war weitläufig, und man konnte sich darin leicht verirren.

 

Der Kern des alten Häuschens meiner Großmutter, das mein Großvater im Krieg gebaut hatte, war in den Grundrissen unverändert geblieben. Um diesen Kern herum hatte mein Onkel ein weiteres, größeres Haus gebaut, das wie in einer ausschweifenden Umarmung das alte Häuschen für sich einverleibte.

 

Unten wohnten meine Cousins in einer Umgebung, wie ich sie als normal kennengelernt hatte: mit einem Wohnzimmer, dessen Möbel alle auf den großen Fernsehapparat zentriert waren, und einer modernen Küche samt Elektroherd. Im hinteren Teil des Hauses führte eine Treppe nach oben, wo sich die Kinderzimmer meiner Cousins befanden. Diese Treppe klang nicht alt, sie klang modern, nach Stahl, und sie vibrierte, wenn man hinauflief. Oben gelangte man über eine Tür zum Balkon, und der Balkon war gleichzeitig der Balkon meiner Oma. Es gab also in jedem Teil des Hauses eine Verbindung zwischen der modernen Welt, in der ich aufwuchs, und der alten Welt, in der meine Großmutter noch immer lebte.

 

„Oma gehen! Oma gehen!“, schrien wir und stapften an der Galerie von an der Wand hängenden Rehbockgeweihen vorbei. In der Mitte befand sich eine beige, eingerahmte Urkunde. „Meisterbrief“ stand dort in gotischer Schrift, die ich damals noch Ritterschrift und erst später Nazischrift nannte und die ich nur schwer entziffern konnte.

 

„Oma gehen! Oma gehen!“

 

Wir waren vier Buben und meine kleine Schwester, die immer dabei war und sich unauffällig gab, um nicht als Mädchen ausgegrenzt zu werden. Meine kleine Schwester gab erst spät auf, das Bieseln im Stehen zu erlernen, was sie für ein Mädchen überraschend gut beherrschte.

 

„Oma gehen! Oma gehen!“, riefen wir im Chor, Silbe für Silbe, Stufe für Stufe die Treppe aufsteigend.

Die Oma wartete bereits bei geöffneter Türe. Sie lächelte milde, als wir „Oma gehen!“ sangen. Sie trug ihre karierte Hausfrauenschürze und hatte ihre langen grauen Haare zu einem Dutt zusammengebunden. Ihre müden, herzlichen Augen lugten hinter den dicken Linsen einer riesigen schwarz umrandeten Brille hervor. Die Oma bat uns herein. Sie hatte eine sanfte, fast brüchige Stimme, in der die Schicksalsschläge ihres Lebens mitschwangen.

 

„Kimmts nei“, sagte sie in ihrem schweren bayerischen Dialekt, und wir folgten ihr in die Stube, die Küche, Esszimmer und Wohnzimmer in einem war.

 

Die Küche bestand aus einem Holzofen, von dem ein langes silbernes Rohr quer über die Wand verlief, wo es im Gemäuer wieder verschwand. Sie besaß aber auch schon einen Elektroherd.

 

Neben der Tür zum Schlafzimmer befand sich eine Kommode, auf der die Miniaturnachbildung eines röhrenden Hirsches stand. Das Zentrum der „Kuchel“, wie sie meine Oma nannte, war die Eckbank, ein Herrgottswinkel und der große Esstisch. Vor der Heizung unter dem Fenster stand eine gelb-goldene Couch, die die Oma „Kanapee“ nannte und die aus einem rauen Stoff bestand, der sich anfühlte wie der uralte Teddy meiner Mutter.

 

Die Couch war stark gefedert und quietschte, wenn man auf ihr wippte. Saß man auf ihr, konnte man gar nicht anders, als zu wippen. Die Oma fragte, was wir trinken wollten. Die Wahl fiel auf Zitronen- oder Orangenlimonade, die bei ihr weißes oder gelbes Kracherl hießen. Weil es bei uns daheim nur Mineralwasser und Apfelsaft zu trinken gab, fühlten wir uns bei unserer Oma, als seien wir im Paradies.

 

Die Oma redete manchmal wie in einer fremden Sprache. Sie sagte zum Beispiel nicht „Danke“, sondern „Gäiz Gohd“, zwei Worte, die sie so brillant und in einer ihr ganz eigenen Betonung aussprach, dass ich dieses „Vergelt’s Gott“ nie wieder so hörte, wie sie es sagen konnte.

 

Wie eine lebende Zeitmaschine vermittelte sie mir einen Eindruck davon, wie die Menschen vor hundert Jahren wohl gesprochen hatten.

 

Es war Samstag, und die Oma wusste genau, warum wir gekommen waren. Sie warf einen Scheit in den Holzofen und kramte im Küchenschrank nach einem Topf. Wir schoben die Stühle an den Herd, damit wir besser in den Topf hineinschauen konnten, und sie kochte Milch auf. Sie arbeitete ruhig und konzentriert und erklärte uns jeden Schritt. Sie streute Puddingpulver in die kochende Milch und trug uns auf, umzurühren und ihr zu rufen, wenn es blubberte. Als wollte sie uns das Gefühl geben, dies sei eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, widmete sie sich in der Zwischenzeit anderen Dingen, und wir starrten konzentriert auf die braune Melasse im Topf. Wir wussten, dass es bald blubbern würde, aber immer wenn die erste Blase sich ihren Weg durch die zähe Masse bahnte und auf der Oberfläche explodierte, war es für uns dennoch ein aufregendes Ereignis, dass die Oma recht gehabt hatte. Dass wir bei diesem Ereignis zugegen waren, war aufregend und wundervoll zugleich, und wir schrien sofort im Chor nach der Oma.

 

Von früheren Puddingnachmittagen wussten wir, dass dies die kritische Phase der Puddingzubereitung war, weil der Pudding leicht anbrennen konnte und die Oma zügig und sorgsam arbeiten musste. Begeistert, wie Kinder sein können, beobachteten wir sie dabei und sahen ihr schließlich zu, wie sie den Pudding in die Formen goss. Sie hatte kleine Gugelhupfformen und eine gelbe und eine rote Fischform. Diese waren die beliebtesten, und die anderen waren immer neidisch auf die beiden, die von ihr die Fischformen zugewiesen bekamen. Dann stellte die Oma die Formen raus auf den Balkon und sagte, dass wir warten müssten, bis sie abgekühlt sind.

 

Die Oma hatte noch Hausarbeiten zu erledigen und sagte, dass sie uns kurz alleine lassen müsse. Als sie in ihrem Schlafzimmer verschwand, blieben wir alleine am Tisch sitzen und tranken unser Kracherl.

 

Das Puddingmachen hatte uns hungrig gemacht, und wir schauten uns nach etwas Essbarem um, aber die Küche war fast steril; es befanden sich weder Brot noch die erhofften Süßigkeiten in der Küche. Einer der Cousins wusste, wo sie die Schokolade versteckte. Im Treppenhaus gab es neben der Tür zum Balkon nämlich eine Geheimtür, die in eine kleine, niedrige Kammer führte, die die Oma „Speis“ nannte. Dort drin hatten wir Kinder eigentlich nichts verloren, besonders weil sich darin die Schokolade befand. Aber wir sagten uns, dass wir im Recht seien, da die Oma vergessen hatte, uns heute Schokolade zu schenken, und bekräftigten uns darin, dass wir somit die Erlaubnis hatten, uns die Schokolade eben selbst zu holen.

 

Da von der Oma nichts zu hören war, schlichen wir nach draußen und standen vor der Vorratskammer. Niemand traute sich, etwas zu tun, und wir standen davor wie damals die englischen Archäologen, bevor sie das Grab des Tutanchamun öffneten. Schließlich öffnete der Cousin die Tür, die mit einem simplen, in einer Öse steckenden Haken verschlossen war. Wie damals in Ägypten, als den Forschern der heiße Dampf aus dreitausend Jahren entgegenblies, trat uns sogleich eine Wand aus süßen Düften entgegen. Es fühlte sich an, als hätte der Cousin soeben die Tür zum Schlaraffenland geöffnet.

Keiner von uns war je in der Speis der Oma gewesen, umso verheißungsvoller erschien uns jetzt dieser verführerische Raum. Auf Regalen standen Marmeladengläser, überall gab es mit Obst gefüllte Eimer, Einmachgläser und sämtliche Lebensmittel, die ein gut geführter Haushalt benötigte. Vorsichtig betraten wir, einer nach dem anderen, den niedrigen Raum. Ein Erwachsener hätte sich tief bücken müssen, aber für uns Kinder war er hoch genug, um aufrecht zu stehen.

 

Meine Bedenken, die ich immer hatte, wenn wir etwas Verbotenes taten, wischte ich rasch beiseite. Denn wenn wir mehrere waren, dann konnte es gar nicht so verkehrt sein, und zumindest würde sich die zu erwartende Strafe, da durch fünf geteilt, deutlich abmildern.

 

Von Schokolade aber war keine Spur. „Wir können ja was anderes naschen“, schlug der Cousin vor und öffnete eine Dose mit Rosinen. Einer nach dem anderen griff hinein und naschte an den süßen Früchten. Sie schmeckten mir nicht, den anderen sehr, und sie naschten mit vollen Händen aus dem Topf. Ich suchte inzwischen nach anderen essbaren Dingen und entdeckte eine Dose mit Spaghetti. Ich zog mir einige der harten Nudeln heraus und biss hinein. Sie waren hart und schmeckten nach nichts. Aber das war für mich immer noch besser, als etwas zu essen, das mir nicht schmeckte. Während die anderen nach den Rosinen auch die weiteren Töpfe öffneten und von Marmelade, Kakao und anderen süßen Dingen naschten, knabberte ich an den Spaghetti, als seien es Salzstangen.

 

Die Oma hatte nicht immer eine so reich gefüllte Speis gehabt. Als der Krieg vorbei war und niemand etwas hatte, ging es ihr noch schlechter als den anderen. Der Hans, ihr Mann, hatte den Krieg zwar überlebt, aber er war schwer krank. Als ihn die Nazis in Frankreich wegen Wehrkraftzersetzung ins Gefängnis geworfen hatten, kehrte er als Tuberkulosekranker heim. Er musste nach ärztlicher Verordnung in der Hütte im kleinen Wäldchen in Quarantäne leben. Aber er wohnte trotzdem heimlich im Haus bei seiner Familie. Tuberkulose hin oder her. So ansteckend wird das schon nicht sein, hatte er gedacht.

 

Er hatte nicht mehr viel davon, als die Feindsender die Meldung verbreiteten, dass der Hitler sich in seinem Bunker in Berlin selbst erschossen hatte, und er dachte wieder an diesen einen Satz, der ihm die Haft und die Tuberkulose und die Angst eingebrockt hatte. Dann wünschte er sich, dass er den Hitler tatsächlich auf 200 Meter vor sein Jagdgewehr bekommen hätte, dann wäre der ganze Spuk schon viel früher vorbei gewesen. Jetzt hatte er es also selber erledigt, der Führer.

 

Als kurz darauf die ersten Panzer mit dem weißen Stern rasselnd ins Dorf fuhren, war die Hoffnung groß, dass jetzt alles besser würde. Die Amerikaner schlugen ihr Quartier am Dorfplatz auf, und all die Fahnen und Nazireliquien wurden verbrannt, in den Bach geworfen oder im Wald vergraben, und jeder wollte nun ein Widerstandskämpfer gewesen sein.

 

Der Oma war es egal, ob ihr Mann einer war oder nicht, sie wollte lieber einen gesunden Mann als einen toten Helden, aber er tat ihr den Gefallen nicht und starb noch im selben Jahr. Und sie, die Oma, stand auf einmal alleine mit vier Kindern da.

 

Mit dem Kriegsende war, anders als erhofft, nicht alles besser geworden. War die Versorgung im Krieg bereits mäßig gewesen, brach diese nach dem Krieg vollständig ein. Die Amerikaner teilten strenge Lebensmittelrationen ein. Ein paar Gramm Butter, ein wenig Brot. Zu viel zum Sterben, aber zu wenig zum Leben, wie man so sagt.

 

Das Leben war nach Kriegsende vom Magen bestimmt. Und wer den Magen befriedigen konnte, der kontrollierte die Macht oder konnte reich werden. Die Macht war in den Händen der Amerikaner, aber die eigentlichen Gewinner dieser neuen Zeit waren die, die das Essen produzierten, also die Bauern. Ein blühender Schwarzmarkt entstand, und die Bauern waren gerne bereit, Eier, Milch, sogar schwarz geschlachtetes Fleisch zu tauschen, wenn man ihnen nur etwas Wertvolles dafür anbot. Geld war nichts mehr wert, Geld nahmen sie nicht. Aber sie nahmen alles, was golden war, modernen Technikschnickschnack, und es gibt die Geschichte, dass der unmusikalischste Bauer von allen sogar ein Klavier in Tausch nahm.

 

Wer nichts hatte, musste betteln gehen, und es war typisch für die Zeit, dass diejenigen, die wenig hatten, von ihrem kleinen bisschen ein wenig hergaben und diejenigen, die etwas hätten geben können, es für sich behielten. Auch jener Spruch traf zu, dass in schlechten Zeiten die guten Menschen noch besser wurden und schlechte Menschen noch schlechter. Drei Jahre dauerten die Hungerjahre, dann läutete Adenauers Währungsreform die fetten Jahre der neuen Bundesrepublik ein. Allerdings nicht für die Oma.

 

Der Hans, mein Großvater, hatte eine Firma gehabt, aber die gehörte seit seinem Tod dem Onkel Max, und der konnte der Witwe und den Kindern nicht den Anteil, der ihnen zustand, auszahlen. Dem ging es wie allen anderen nach dem Krieg selbst schlecht. Vor allem, weil der Max als NSDAP-Mitglied und Gewinner der Hitlerzeit nach dem Krieg kaum noch Aufträge bekam.

 

Meine Oma war eine von Millionen Kriegswitwen, aber weil der Hans nicht von einer Kugel der Franzosen getroffen worden war, galt er nicht als Kriegsopfer. Und obwohl jeder wusste, dass er sich im Gefängnis der Nazis die Tuberkulose eingefangen hatte, galt er nicht als Verfolgter der Nationalsozialisten.

 

Als man ihn nach der Denunziation in Frankreich ins Gefängnis geworfen hatte und die Klage wegen Wehrkraftzersetzung lief, hatte man nämlich daheim im Dorf Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn, der immerhin der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters war und den alle gut leiden konnten, vor Freisler und dem sicheren Todesurteil zu bewahren. Der Bürgermeister Jochum intervenierte beim Gauleiter, und man stellte den Hans als völlig unpolitischen Saufbruder und Wirrkopf dar, der im Rausch eine unbedachte Bemerkung gemacht hatte und den niemand, der irgendwie bei Verstand war, ernst nehmen brauchte. Diese Notlüge ersparte ihm eine Hinrichtung, aber die Todesstrafe in Form der Tuberkulose konnten sie nicht verhindern, und so war der Hans laut Aktenlage statt eines Widerständlers also nur ein Wirrkopf.

 

Die Oma sah keinen Pfennig von der Kriegsopferversorgung und musste von der kargen Sozialhilfe ihre vier Kinder aufziehen.

 

Sie schickte die Älteste zum Arbeiten, um ein Maul weniger zu stopfen zu haben, aber es reichte an allen Ecken und Enden nicht. Da sie wenigstens ein bisschen Grund zur Verfügung hatte, legte sie vor dem Haus einen breiten Garten an, in dem sie das Überlebensnotwendige anbaute, Gemüse und Kartoffeln. Um die Familie halbwegs ernähren zu können, kaufte sich die Oma Ziegen. Aus dem Schuppen hinterm Haus wurde ein Ziegenstall.

 

Die Arbeit war hart und beschwerlich, und die meiste Zeit brachte sie die kleinen Jungs gut durch, aber wenn sie ihnen an den Namenstagen oder den Feiertagen etwas Besonderes bieten wollte, musste sie betteln gehen. Manchmal gab die Verwandtschaft in Kühnhausen etwas ab, meist Schlachtabfälle, aber die Kinder freuten sich auch über einen Schweinskopf, an dem sie nagen konnten. In den ganz schlechten Zeiten musste sie sogar nach Laufen fahren, um dort zu betteln.

 

Weil es meistens außer Suppe nichts zu essen gab, konnte mein Papa Zeit seines Lebens Suppe nie leiden, egal, wie gut sie auch zubereitet war.

 

Es gab nur selten Fleisch, und die Verzweiflung war so groß, dass einmal sogar ein toter Hund ausgenommen und zubereitet wurde.

 

Der Alltag bestand aus Stallarbeit, Gartenarbeit, Essensbeschaffung und immer wieder dem Kampf mit den Behörden, dem Ringen mit dem Onkel, der kein Geld aus der Firma zahlen wollte, und der ständigen Sorge, dass es einfach nicht reichte.

 

Die Oma wusste, dass ein gewisser Bestand an Milchvieh alle Sorgen gelöst hätte, aber das Grundstück, so idyllisch es auch war, direkt am Bach, war zu klein. Es reichte zwar für die Ziegen. Aber um Milchkühe zu halten, was die Familie mit Sicherheit gerettet hätte, benötigte sie mehr Weidegrund. Kurzzeitig verhandelte sie sogar mit dem Einsiedler, der ein Auge auf das schöne Grundstück am Bach geworfen hatte: Es wurde ernsthaft in Erwägung gezogen, die Grundstücke zu tauschen.

 

Da die Verwandtschaft sich vehement dagegen aussprach, verwarf meine Großmutter glücklicherweise das Tauschangebot.

 

Stattdessen kaufte sie sich einen jungen Stier, den sie in mühseliger Kleinarbeit aufpäppelte und großzog. Als aus dem Kalb ein stattlicher Stier geworden war, verkaufte sie ihn für gutes Geld. Gleichzeitig machte ihr der Schwager vom Jellbauer ein gutes Angebot, den letzten Grund an der Ache, der ihr noch nicht gehörte, zu verkaufen. Und so wurde das Geld vom Stier in weiteren Grund umgewandelt.

 

Über zehn Jahre nach dem Tod vom Hans bekam sie überraschend einen behördlichen Brief, in dem ihr eine Rente als Kriegswitwe anerkannt wurde. Von einem Tag auf den anderen waren sie keine arme Familie mehr, und sie konnte endlich ihre Speis bis zum Bersten füllen.

 

„Ja schauts, dass ihr rauskommt!“, rief die Oma und zog den erstbesten der Cousins an den Ohrwascheln, und wir anderen rannten so schnell wir konnten weg. Flüchteten polternd die Treppe hinunter, vorbei an den Rehbockschädeln, und stoben in alle Richtungen davon.

 

Die Oma schrie uns noch sakrale Flüche hinterher, und als auch der Cousin sich seine Standpauke abgeholt hatte und weinend die Treppe nach unten rannte, stand sie kopfschüttelnd vor dem Chaos in ihrer Speis. Überall lagen Rosinen auf dem Boden. Alle Dosen waren geöffnet und nicht mehr verschlossen worden, sogar die rohen Spaghetti hatte jemand angebissen.

 

Kopfschüttelnd ging sie zurück in die Stube und telefonierte sofort nach ihren Schwiegertöchtern.

 

Die Mama legte den Hörer auf und schaute uns entsetzt an. „Was habt ihr bei der Oma gemacht?“, fragte sie.

 

Ich zuckte die Achseln. „Nichts“, sagte ich, „Pudding gemacht.“

 

Meine kleine Schwester grinste: „Und genascht“, sagte sie und lächelte selig. Zwischen ihren Zähnen sah man noch die Reste der Rosinen. „Ich glaub, ich hol gleich den Kochlöffel“, schimpfte die Mutter und schaute uns sorgenvoll an. „Hat einer von euch Bauchweh?“

 

Wir schüttelten den Kopf.

 

„Die Oma hat nämlich in der Speis erst gestern Rattengift gestreut. Na Gnade euch Gott, dass ihr euch nicht vergiftet habt.“

 

Die Mama schimpfte noch eine Weile, und auch die Cousins bekamen von ihren Mamas geschimpft, aber vergiftet hatte sich keiner. Allerdings hatten wir auch alle Speisverbot bekommen, und ich habe die Speis meiner Oma nie wieder von innen gesehen.

 

Ende

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