In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs brach auch in Kirchanschöring das Chaos und das Grauen des Krieges herein. Zahlreiche Zeitzeugen dokumentierten in offiziellen Amts-Anfragen und in Zeitzeugenberichten die erschütternden Ereignisse, die sich in der gesamten Region abspielten. Auch in Kirchanschöring kulminierte sich der komplette Nazi-Terror des Zweiten Weltkriegs innerhalb weniger denkwürdiger Tage Ende April und Anfang Mai des Jahres 1945.
Kurz bevor das Dorf vor den anrückenden Amerikanern kapitulierte, durchquerten versprengte Soldatentrupps, einzelne SSler, aber auch zahllose KZ-Häftlinge den Ort. Die Begegnungen mit den KZ-Häftlingen haben sich tief in die Erinnerung der Kirchanschöring eingebrannt, und sie sind unter anderem im Heimatbuch und im Bericht von Pfarrer Lutz an die Erzdiözese München-Freising nachzulesen. Auch in die Literatur gingen die Geschehnisse ein. So berichtete Luise Rinser in ihrem Buch „Den Wolf umarmen“ von der Begegnung mit einem Todesmarsch. Und hier beginnen die Probleme der geschichtlichen Aufarbeitung. Bei einem Versuch, die genaue Route des Todesmarsches durch Kirchanschöring zu rekonstruieren, stellte sich rasch heraus, dass dieser unmöglich die Route über Voglaich, Luise Rinsers Wohnsitz, genommen haben konnte. Zudem deckten sich die Augenzeugenberichte nicht mit den amtlichen Berichten. Dennoch soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, den Todesmarsch, die erschossenen KZ-Häftlinge von Kirchanschöring zu rekonstruieren.
Die wichtigste Erkenntnis dieser Bemühung war, dass es sich nicht um einen einzigen Todesmarsch handelte, sondern um zwei. Beim ersten handelt es sich um den sehr gut dokumentierten Todesmarsch von Buchenwald über Flossenbürg in die Lebenau (damals zu Leobendorf gehörend). Im Arolsen Archiv – dem International Center on Nazi Persecution sind zahllose Akten archiviert und Online zugänglich. Der damalige ITS (International Tracking Service) hat nach Kriegsende sämtliche Gemeinden und Polizeistationen aufgefordert, die jeweiligen Todesmärsche zu rekonstruieren und die Todesopfer zu identifizieren. So musste auch Kirchanschörings Bürgermeister Josef Hogger Stellung nehmen. Er erwähnt nur beiläufig, dass sich am 1. März in der Nachbargemeinde Berg (Fridolfing) ein Todesmarsch Richtung Lebenau aufgelöst hatte. Seine eigentliche Stellungnahme gilt dem Todesmarsch, der einen Tag später, am 2. Mai 1945 in Watzing einquartiert wird. Beide haben enorme Auswirkungen auf die Gemeinde. Nachdem bei Berg die SS vor der heranrückenden 20th Division der US Army die Flucht ergriff, versuchten Dutzende der überlebenden KZ’ler sich in Sicherheit zu bringen. Sie waren „Frei aber nicht befreit“.
Während ein Teil weiter ins eigentliche Ziel, dem Frauengefängnis Lebenau weitermarschierte, versteckten sich viele in den Bauernhöfen rund um Kirchanschöring. Zahllose Kirchanschöringer berichteten von ihren Begegnungen mit den Buchenwald-KZ’lern. Darunter der spätere zweite Bürgermeister Sebastian Straßer, der mehrere Tage lang einen KZ’ler versteckte. Aber auch die Überlebenden berichteten über den Todesmarsch. Darunter der Pole Tadeusz Sobolewicz, der in seinem eindrucksvollen Buch „Aus der Hölle zurück“ unter anderem beschreibt, wie er von Bauern in Muttering versteckt und gerettet wurde. Auch Zbigniew Kolakowski berichtet in seinen Erinnerungen, von der Bäuerin von Berg, Kreszenz Portenkirchner gerettet worden zu sein. Er wurde nicht müde, seine Geschichte zur Wachhaltung der Erinnerung wieder und wieder, auch bei Auftritten in Laufen, zu erzählen.
Während die Überlebenden des Flossenbürger Todesmarschs teils in der Gemeinde Kirchanschöring Schutz suchten, nahte von der anderen Seite, aus Petting, der nächste Todesmarsch. Dieser kam, laut Auskunft von Bürgermeister Hogger, aus Richtung Waging / Altenmarkt. Allerdings sind keinerlei Akten bezüglich dieser Kolonne vorhanden. Es existieren weder Namen der Teilnehmer noch Berichte der Überlebenden, und es gibt keine Hinweise, aus welchem KZ die Todesmarsch-Kolonne stammte. Dennoch hat die Bevölkerung die Ereignisse sehr detailreich festgehalten. Ignorieren kann man Luise Rinsers Behauptung, dieser wäre durch Voglaich marschiert. Denn Augenzeuge Ludwig Haas berichtete in einem Interview, dass er als junger Bub von Kühnhausen aus gehört hatte, dass die KZ’ler nach Petting kämen. Man kann davon ausgehen, dass der Zug aus Waging kam, da bei Buchwinkel, nahe des Waginger Sees, eine Leiche aus diesem Zug gefunden wurde. Zusammen mit seinem Freund eilte Haas nach Petting und beobachtete, wie die KZ-Häftlinge in ihrer blau-weiß gestreifter Kleidung durch das Dorf getrieben wurden. Er erinnerte sich, dass diese von den Wachen sogar am Trinken gehindert wurden. Ludwig Haas berichtete auch, dass er den Zug auch noch in die Wälder in Richtung Mandlberg hinauf verfolgt hat. Als sie nach einem Schuss auf eine Leiche stießen, bekamen sie es mit der Angst zu tun und kehrten wieder um. In den Akten findet sich der Hinweis eines Skeletts, das im folgenden Januar in diesem Abschnitt gefunden wurde, der den Augenzeugenbericht bestätigt. Der Zug marschierte ab Petting weiter in Richtung Lebenau. Sie erreichten die Kirchanschöringer Gemeindegrenze in Reichersdorf. Dort wurden zwei KZ-Häftlinge erschossen.
Da es Abend wurde, beschlossen die SS’ler beim nächsten Bauern Quartier zu machen. Es handelte sich um den Bauern Ferdinand Schnellinger. Während Bürgermeister Hogger von 100-200 Häftlingen ausging, korrigierte Ferdinand Schnellinger Junior, dass es sich damals um nur noch 42 überlebende KZ-Häftlinge gehandelt hatte. Diese waren total ausgehungert und versuchten das eigentlich als Viehfutter gedachte Getreide zu essen. Als die SS mitbekam, dass Schnellinger die Häftlinge zu essen gab, schossen diese auf Schnellinger hinauf und trafen Teile des Dachs. Schnellinger und die Hofbewohner wurden während der Einquartierung wie in einem Arrest behandelt. Nur mit großer Mühe konnte er die SS’ler überreden, nach einem der fohlenden Stuten sehen zu dürfen. Schnellinger berichtet in seinen Erinnerungen, dass zwei Häftlinge zu fliehen versuchten. Sie hatten sich durch ein paar Bretter des Stadels nach draußen gedrückt. Der SS Offizier, der dies mitbekommen hatte, schaute den Flüchtenden noch nach. Kurz bevor sie den rettenden Wald erreicht hätten, zielte er und erschoss die beiden.
Im Wald wurden die Leichen provisorisch verscharrt. Im Heimatbuch Kirchanschöring wird berichtet, dass anschließend die SS noch zwei Bauern und den Forstverwalter zwangen, den Zug zu begleiten und den SS’lern den Weg durch den Wald in die Lebenau zu zeigen. Dies alles geschah am 3. Mai. Kurz bevor die Amerikaner anrückten. Wenige Tage später, als Deutschland kapituliert hatte und die Überlebenden der KZ-Todesmärsche endgültig befreit waren, kehrten einige nach Watzing zurück. Sie ließen die beiden Bauern und den Forstverwalter verhaften. Pfarrer Lutz konnte beim amerikanischen Kommando in Laufen intervenieren und die Unschuld der Beteiligten wurde anerkannt. Auch die 4 auf Kirchanschöringer Gemeindegebiet Ermordeten wurden von ihren Kameraden ausgegraben und im Lager Lebenau bestattet. Einige Tage nach Kriegsende fand man im Wald bei Schwaig einen Fünften ermordeten KZ’ler, erkennbar an der gestreiften Kleidung. Jemand hatte ihn erschlagen. Es konnte weder rekonstruiert werden, um wen es sich handelte, noch zu welchem der Todesmärsche er gehörte. Er wurde allerdings in einer feierlichen Beerdigung bestattet, bei der neben Bürgermeister Hogger halb Kirchanschöring teilnehmen durfte – oder musste. Das Grab wurde regelmäßig geschmückt und Kirchanschöring war mehrere Jahre lang ein offizieller KZ-Friedhof. Das Grab wurde in den 50er Jahren nach Flossenbürg umgebettet. Luise Rinser hat den Todesmarsch von Watzing vermutlich nicht gesehen, aber mit Sicherheit die Schüsse gehört. Sie hat nach den Erlebnissen die viel beachtete Erzählung „Jan Lobel aus Warschau“ geschrieben. Auch in Kirchanschöring wird immer wieder an dieses dunkle Geschichte der eigenen Dorfgeschichte zu erinnern. Vielleicht gelingt dies dann am eindrucksvollsten, wenn man sich verinnerlicht, dass es sich nicht nur um einen namenlosen „Zug schweigender Hungerskelette“ handelte. Sondern um Menschen mit einem Namen, mit einer Familie, einer Geschichte.
Quellen:
Arolsen Archives (ITS, International Tracing Service)
Heimatbuch Kirchanschöring
Berichte von Pfarrer Lutz an das Erzbistum
Tadeusz Sobolewicz: Aus der Hölle zurück
Zbigniew Kolakowski: Zeitzeugenberichte
Augenzeugeninterviews (Ludwig Haas, Hofgeschichte Ferdinand Schnellinger)