Auf einer wilden Silvester-Party zieht ein junger Mann eine bittere Bilanz über sein Beziehungsleben und sein Verhältnis zu Frauen. Das neue Jahr wird mit einer Abrechnung starten. Kurzgeschichte des Thüringer Autoren Christian Wicklein. Mehr Info zu seinen Büchern findet ihr hier: https://www.amazon.de/Christian-Wicklein/e/B0722P7SRK%3Fref=dbs_a_mng_rwt_scns_share
Silvester, das letzte Aufbäumen. Der Tag, der dafür gemacht wurde, hintenraus alles schön zu reden, die Vorsätze, das Geschehene, sogar die Beziehung. Zeit zum Reflektieren und zum Abgewöhnen. Die Welt ganz oben, die Welt ganz unten – und ich mittendrin.
Mein Name ist Hagen, und ich stehe auf dem Balkon der Wohnung eines Typen namens Axel, der sich schon lange verabschiedet hat und in seinem Zimmer schläft, während sich in den anderen Räumlichkeiten ballermannartige Szenen abspielen. Und ich bin mit einer Frau hier, die nicht neben mir steht, sondern im Wohnzimmer sitzt und lacht.
Sie heißt Denise Chiara Herzog. Der Zweitname war die Idee ihres Vaters gewesen, einem Hardcore-Italien- Urlauber, der seine Familie seit zwanzig Jahren an den Gardasee schleift, von den Kellnern im Hotel per Handschlag begrüßt wird und den Zustand bereut, dass er nicht als Italiener geboren wurde, sich in Deutschland jedoch vorwiegend von Sauerkraut und Schweinshaxen ernährt. Der einmal im Jahr zu einem aalglatten Lebemann mutiert, nur noch Wein trinkt und in gebrochenem Italienisch Carpaccio bestellt, das er im Zitronensaft ertränkt und innerhalb weniger Minuten in sich hineinschlingt, als wären es die letzten Reste Rindfleisch auf Erden. Aber das tut nichts zur Sache, denn vielmehr geht es um seine Tochter. Denise Chiara und ich schlafen regelmäßig miteinander. Obwohl ich ihr gleich zu Beginn klar und deutlich gesagt habe, dass es mir nur ums Körperliche geht, werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mehr will. Damals war sie einverstanden gewesen und meinte, es ginge ihr auch nur um Sex und sollten Gefühle aufkommen, würde sie es beenden. Das klang für mich nach dem Deal des Tages oder dem Samstagskracher, wie man in der Konsumbranche sagen würde. Doch nach und nach veränderte sich ihr Verhalten. Die Menge an WhatsApp-Nachrichten nahm zu. Auf einmal wollte sie auch abseits des Beischlafs Unternehmungen starten: etwas trinken gehen, Kino, und so weiter. Wir hatten vorgestern erst darüber gesprochen, und sie versicherte mir erneut, dass sie keine Gefühle für mich hatte. Ich solle mich nicht so wichtig nehmen, hatte sie gesagt. Ich glaube ihr nicht. Seit einer Stunde sitzt Denise Chiara im Wohnzimmer und quatscht mit Ben, einem muskelbepackten Schönling, der zwei Jahre älter ist als sie. Leider merkt man ihm das nicht an. Aber Denise Chiara scheint er zu gefallen. Sie will mich testen, denke ich, wie ich draußen in der Kälte stehe und rauche.
Im Grunde sind Beziehungen, egal ob aus Liebe oder sexueller Begierde geführt, ja immer Tests. Irgendwann bekommt man ein Zwischenzeugnis und dann entscheidet sich, ob es weitergeht oder nicht. Ich sehe ihr dabei zu, wie sie herzhaft lacht, wenn dieser halbseidene Kerl etwas erzählt, was mit Sicherheit nicht witzig ist, und beobachte ihn, wie er immer näher an sie heranrutscht.
Peinlich ist das. Da mache ich nicht mit. Da scheiß ich drauf. Genau wie auf Silvester. Das ist doch nichts als Kommerz. Ich stehe also auf dem Balkon, schaue in die Sterne und rauche eine Winston Blue. Winston Blue, so wurde mir erzählt, ist die Nachfolger Marke von F6-Blue, meiner großen Tabakliebe, die leider abgesetzt wurde.
Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber ich klammere mich an den Gedanken. Denn mir wurde vieles, was ich liebte, genommen, nicht nur die Zigaretten.
Als kleiner Junge aß ich immer »Ed von Schleck«- Eis. Wenn man den Stiel reinschob, ploppte und beim Schieben quietschte es. Angeblich gibt es das noch. Ich habe es seit den Neunzigern nicht mehr gesehen. Oder der Gang zu meiner Stammvideothek. Als ich eines Abends Filme zurückgeben wollte, stand ich vor der mit Brettern vernagelten Eingangstür. Später erfuhr ich, dass Kostas Mastrotis, der griechische Inhaber der Videothek, diese aufgrund des schleichenden Umsatzes schließen musste. Ich machte mir Vorwürfe, redete mir ein, dass ich mehr hätte tun können als die drei VHS-Filme, die ich mir im Monat ausgeliehen hatte.
Die Neunziger liegen hinter mir, und doch kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen als nach und nach alles wegbrach. Aber ich will jetzt nicht rumheulen. Dafür nerven mich die Menschen auf dieser Party viel zu sehr. Ich bin ja nur hier, weil ich Denise Chiara einen Gefallen schuldete und sie mich gebeten hat, mitzukommen.
Jetzt sitzt sie da und amüsiert sich. Und ich stehe in der Kälte und kenne so gut wie keine Sau. Die Geschichten einiger sind mir bekannt, aber persönlich habe ich nie längere Gespräche mit ihnen geführt.
Es sind noch dreißig Minuten bis Mitternacht. Die Musik macht mich aggressiv. Diese Kombos, bei denen ein Rapper umgarnt von leicht bekleideten Frauen Phrasen ins Mikrofon drischt, machen mich fertig. Captain Jack, Mr. President – Relikte aus einer Zeit ohne Schamgefühl. Wenn jetzt noch einer auf die Idee kommt und DJ Bobo einlegt, spring ich in die Tiefe.
Zwei Typen werfen sich eine Schneekugel zu. Das Teil fliegt quer durch den Raum und zerbricht letztendlich an der Wand. Auf dem Tisch tanzt Maria, die gerade das Studium geschmissen hat. Ihr Vater ist erfolgreicher Immobilienmakler und die Mutter macht derweil einen auf Carmen Geiss mit Silikontitten und aufgespritzten Lippen. Maria bewegt ihre Hüften zum Takt der Musik. Sie sieht gut aus, das ist unbestritten. Aber die Optik steht in keinem Verhältnis zur Intelligenz.
Der Schöpfer hatte nicht an Sexappeal gespart, dafür jedoch an Hirnmasse. Ein fauler Kompromiss, der die Männer immer wieder in die Falle tappen lässt.
Einige realisierten die fehlenden Gehirnwindungen und brachen die Beziehung ab. Andere wiederum hielten ihr die Stange und himmelten sie regelrecht an. Das war für mich das Zeichen, dass diese Kerle ebenfalls mit einem IQ knapp über der Grasnarbe gesegnet waren.
Womit wir bei John wären. Der ist einer von den Männern, die um den Tisch herumstehen und zu Maria aufschauen, als wäre sie die letzte verbliebene Frau in einer Welt voller Schürzenjäger. Wenn man den Namen John hört, denkt man unweigerlich an einen sexy Typen mit Charisma bis unter die Decke. Einer, mit dem die Mädels ins Bett wollen, der aber gleichermaßen hohes Ansehen bei den Jungs genießt. Der trotz seiner Erfolge beim weiblichen Geschlecht auf dem Boden bleibt und nicht mit einem müden Lächeln auf die Zurückgebliebenen herabsieht, sondern auf Augenhöhe mit ihnen kommuniziert, als wäre er einer von ihnen, obwohl sie wissen, dass dem nicht so ist. Doch John ist das genaue Gegenteil von all dem. Ein kindliches Gesicht ohne Konturen und Bartwuchs ragt aus dem Strickpullover heraus und lächelt so, dass man nicht sicher sein kann, ob er es ernst meint, oder nicht. Sein Auftreten wirkt im Bezug zu seinem Namen als wäre es der Versuch seiner Eltern gewesen, dem Baby, dem man schon kurz nach der Geburt die Hilflosigkeit ansah, wenigstens etwas Coolness anzuheften.
John tut mir leid.
Sein Vater arbeitet auf dem Bau, solider Job, kein Schnick-Schnack. Ein klasse Kerl. Typ Kumpel im Holzfällerhemd. Johns Mutter sitzt bei Aldi an der Kasse. Ihrem Sohn hatte sie dort einmal ein Praktikum verschafft. Ich weiß noch, als ich eine Flasche Martini kaufte und dann bei ihm an der Reihe war. »Ist das alles bei Ihnen?«, fragte er mich, und ich lachte und sagte:
»John. Ich bin’s.« Darauf antwortete er: »Das macht dann sechsneunundneunzig.« Im Grunde ist John ein netter Kerl. Man kann sich gut mit ihm unterhalten.
Aber er hat eben dieses Problem namens Maria.
In einiger Entfernung explodiert ein Böller. Der Blick auf die Uhr verrät mir, dass noch zwanzig Minuten Zeit sind. Gleich wird irgendeiner aufstehen und den Fernseher einschalten, weil man sich ja nicht auf eine Uhrzeit festlegen kann, weil jeder in diesem Raum seine Zeit anders eingestellt hat. »Bei mir sind es noch drei Minuten.« – »Bei mir noch eine.« – »Also bei mir ist es schon nach zwölf.« Zusammenkünfte wie diese stressen mich. Deshalb stehe ich auch gerne auf dem Balkon und beobachte und denke mir meinen Teil.
Meine Zigarette ist mittlerweile aufgeraucht. Ich bin nach wie vor der Einzige, der draußen steht. Es gibt noch eine weitere Person hier draußen, aber sie steht schon lange nicht mehr. Links von mir liegt Hannes.
Er sieht aus, als würde er meditieren.
Mit ihm gab es mal einen Zwischenfall auf der Schultoilette.
Meine damaligen Klassenkameraden und ich standen in der Mittagspause in der Ecke und tranken ein Bier, was natürlich verboten war. Hannes kam herein und nestelte mit der linken Hand an seinem Hosenstall herum. Tim drückte ihm das Bier in die freie Hand und innerhalb von Sekunden brach Hannes in Tränen aus, weil plötzlich der Lehrer im Türrahmen stand. Wir waren fein raus. Hannes musste zum Direktor und bekam einen Schulverweis. Ein Fallbeispiel in Sachen zur falschen Zeit am falschen Ort.
Nun liegt er zugedröhnt auf dem kalten Beton. Hannes ist, genau wie John, ein Opfer seines eigenen Lebens.
Der Vater Anwalt, die Mutter Direktorin bei der
Sparkasse.
Und Hannes? Der will nach dem Studium in die USA. Dorthin, wo jeder an das Land glaubt, aber das Land nicht an jeden. Das Leben mit Inhalt füllen, hat er mal gesagt, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich halte das für absoluten Schwachsinn. Er will Karriere machen und später, wenn er alt ist, als gefeierter Macher zurückkommen. Doch jeder, der ihn kennt, weiß, dass er das, zum einen niemals gebacken bekommt, und zum anderen, nur wegen des elterlichen Drucks machen wird.
Im Suff hat er mir mal sein Herz ausgeschüttet. Er sagte, dass er lieber Koch werden wolle, dass aber für seine Eltern kein ordentlicher Beruf sei. »Aber ich gewinne vielleicht bald im Lotto und dann haben sich alle meine Probleme erledigt«, hat er mit einem traurigen Lächeln gesagt. Da war mir klar, dass ich es mit einem Träumer zu tun hatte. Einer, der dem Wunsch nach Freiheit abgeschworen hat und nach der Pfeife seiner Erzeuger tanzte. Irgendwann, mit vierzig, oder so, wenn seine Eltern beide weggestorben wären, würde er aufwachen und es wäre zu spät. Armer Hannes.
Noch fünfzehn Minuten bis zum neuen Jahr.
Die Glastür öffnet sich, und Jenny tritt auf den Balkon. Die hat mir gerade noch gefehlt. Wir sind im gleichen Semester, und sie ist mir suspekt. Ihr ganzes Auftreten wirkt rebellisch. Sie trägt eine schwarze Hose aus Leder und eine graue Jacke. Ihre Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden und ihre Nase ist an der Stelle gerötet, an der sie seit einigen Tagen ein Piercing hat.
Zuerst sagt sie nichts, läuft an mir vorbei, als wäre ich Luft. Sie schaut in den Nachthimmel mit diesem reumütigen Blick, der viele überkommt, wenn sie der Meinung sind, sie müssten zurückblicken und in Erinnerungen schwelgen, weil ein neues Jahr beginnt und so weiter und so fort. Mir ist klar, dass ich jetzt nicht einfach reingehen kann, obwohl ich fast fertig geraucht habe. Das würde wie eine Flucht aussehen. Also bleibe ich stehen. Da wird mir klar, dass es mich treffen wird. Denn es trifft ja immer ein armes Schwein, das die Gefühlsausbrüche eines anderen abbekommt, weil Herr oder Frau Soundso getrunken hat und dann sentimental wird.
Irgendwie ziehe ich solche Gestalten an.
Erst auf der letzten Feier, die ich besucht hatte, war es Jaqueline Rauschenmann, die mir mit ihrer gescheiterten Beziehung zu Anton Schiffer die Ohren vollgeheult hatte. Und ich weiß, dass ich mir jetzt Jennys Genöle anhören muss.
»Was für ein Jahr«, sagt Jenny, ohne mich anzusehen, und bestätigt meine Befürchtung. »Weißt du, wenn ich so zurückdenke, haben wir das definitiv ganz gut hinbekommen.«
Ich könnte kotzen, möchte an ihr vorbei und vom Balkon springen in der Hoffnung, dass mein Genick beim Aufprall in tausend Stücke zersplittert.
Obwohl ich nicht antworte, redet Jenny einfach weiter.
Ich trete meine Zigarette aus und zünde mir eine neue an. Wo soll ich schon hin? Denise Chiara ist ja beschäftigt.
»Ich bin definitiv stolz auf uns«, sagt Jenny. Ihre Stimme klingt brüchig. Liegt das an Silvester? Scheinbar macht dieser Abend die härtesten Widerständler zu weichgespülten Dateianhängen.
Wenn sie jetzt losheult ist es vorbei. Vor zwei Jahren, ebenfalls an Silvester, ist eine junge Austauschstudentin heulend ins neue Jahr gestartet. Drei Tage später sprang sie von einer Brücke in den Tod. Niemand hatte gemerkt, dass sie unter Depressionen litt. Alle dachten, es war nur einer dieser sentimentalen Momente zum Jahreswechsel.
Doch Jenny scheint sich im Griff zu haben. Apropos Griff, sie umklammert das Geländer, als wolle sie es abreißen. Ihr ganzer Körper ist steif vor Anspannung.
»Weißt du, ich mag dich, Hagen. Du bist nicht so ein Spasti, wie die anderen da drin. Bei dir hatte ich immer das Gefühl, dass du definitiv nicht so einer bist.« Das Wort definitiv verwendet sie inflationär. Wenn sie richtig einen im Tee hat, wird aus definitiv öfters mal defensiv, was ich bei unserem letzten Aufeinandertreffen sympathisch fand. Irgendwann macht die Zunge eben nicht mehr mit. Ich ziehe an meiner Zigarette, stelle aber fest, dass sie nicht richtig angezündet ist, und krame nach dem Feuerzeug in meiner Jackentasche.
»Aber bei der Herzog verzettelst du dich. Das wird nicht funktionieren«, sagte sie.
Meine Zigarette glüht wieder. »Wie meinst du das?«
Ein hämisches Grinsen durchzieht ihr Gesicht. »Ich weiß, dass ihr es miteinander treibt. Aber denkst du nicht, dass sie vielleicht mehr will?«
Ich verkneife mir die Frage danach, woher sie das weiß. »Wir haben das besprochen. Es ist nur der Sex.«
Jenny lacht. »Du hast keine Ahnung davon, wie wir Frauen ticken, oder? Natürlich will sie mehr. Sie sagt es dir nur nicht.«
Ich trete einen Schritt an Jenny heran, stehe neben ihr am Geländer. Im Licht der Straßenlaternen zünden zwei Jungs einen Chinaböller. Es knallt. Das Echo hallt durch die Straßen. »Sie hat gesagt, wenn Gefühle aufkommen, beenden wir es«, erkläre ich. »Ich will schließlich nicht mehr von ihr als das.«
»Um dich geht es nicht. Sie will definitiv mehr.«
»Und woher willst du das wissen? Ihr seid doch gar nicht befreundet.« Allmählich nervt mich diese Unterhaltung. Ich verstehe nicht, weshalb ich mich hier rechtfertigen muss, wo doch alles geklärt ist.
»Weil ich eine Frau bin, du Idiot. Und ich weiß, wie wir ticken. Und ich weiß, dass sie da drin bei dieser Hohlbirne hockt, um dich eifersüchtig zu machen. Glaub mir. Ich sehe die Zeichen. Du kannst nichts dafür, dass du das nicht erkennst. Du bist auch nur ein Mann.«
»Na du musst es ja wissen. Beziehungsexpertin Jenny. Schonmal dran gedacht, dass wir gleich alt sind? Und außerdem, wie viele Beziehungen hattest du eigentlich?«
»Du verhältst dich wie ein kleiner Junge. Statt mir zuzuhören, kommst du mir hier mit diesem eingeschnappten Gelaber. Es geht nicht darum, wer wie viele Beziehungen hatte, du Depp. Es geht darum, dass ich eine Frau bin und du ein Mann. Ich weiß, wie wir ticken und du eben nicht.«
Ich könnte kotzen. Kommt die einfach so raus zu mir auf dem Balkon und fängt an mir das Leben zu erklären.
»Na komm, dann bring aber auch noch das Klischee des Mannes, der nur mit seinem Schwanz denkt«, sage ich spöttisch.
»Dass sie jetzt da drin mit einem anderen flirtet und immer wieder raus zu dir schaut, gibt dir nicht zu denken?«
»Wieso sollte es?«, antworte ich.
Jennys Theorie ist völlig absurd. Ich will nur noch weg, nach Hause, in mein Bett, alleine.
Sie schüttelt den Kopf. »Ihr Kerle seid doch alle gleich. Aber ich glaube, du magst sie auch.«
Sie dreht sich an mir vorbei und geht zurück in die Wohnung.
Die Tür bleibt einen Spalt geöffnet.
Drinnen zählt Maria die Uhr runter. Sie steht in Unterwäsche auf dem Tisch. Zehn. Neun. Ich schaue zu Denise Chiara, unsere Blicke treffen sich, sie lächelt verlegen. Acht. Ich hasse es, wenn mir Frauen sagen, dass ich so wie alle anderen Männer bin. Sieben. Ich schnippe meine Zigarette übers Balkongeländer und blase den Rauch durch den Türspalt in die Wohnung.
Sechs. Da dreht sich Jenny in meine Richtung, zwinkert mir zu und vielleicht liegt ein Funken Wahrheit in ihren Worten, denke ich, wie ich so dastehe, zitternd vor Kälte und ohne ein Glas Sekt in der Hand. Fünf. Jenny kommt wieder raus zu mir. Vier.
»Du bist ein Idiot, und so solltest du defensiv nicht ins neue Jahr starten.«
Drei. Ihr Gesicht kommt näher. Zwei. Meine Füße kleben am Beton. Eins. Jenny küsst mich.
Ich bin so überrascht, dass ich die Augen nicht schließen kann. Der Kuss schmeckt nach Himbeere. Maria springt vom Tisch in Johns Arme, und der wird sofort rot wie eine Tomate. Ich sehe, wie sich Denise Chiara an all dem Trubel vorbeischleicht, alleine, mit hängendem Kopf. Sie öffnet die Haustür gerade so weit, dass sie hindurchschlüpfen kann, und dann ist sie weg.
Die Meute im Wohnzimmer merkt nichts davon, was sich gerade auf dem Balkon abspielt. Jenny löst sich von mir. Während ich konsterniert rumstehe und nicht weiß, wie ich mit dieser Situation umgehen soll, sagt sie: »Frohes neues Jahr.«
Ich stehe noch eine ganze Weile draußen. Jenny sitzt in der Wohnung und trinkt mit Hannes Schnaps.
Die Kälte spüre ich nicht mehr. Der Geruch aus tausend Feuerwerkskörpern steigt mir in die Nase. Nebel, entstanden aus unzähligen Knallkörpern, schwebt hoch zum Balkon und umgarnt mich. Unten fährt ein Rettungswagen vorbei. Sein blaues Licht streift die Häuserwände. Und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Denise Chiara könnte bereits zu Hause sein oder Gott weiß wo.
Ihr Verhalten passt zu Jennys Erklärung. Insgeheim hatte ich es ja geahnt. Doch die Aussicht auf Sex ließ mich die Vermutung unterdrücken. Ich hatte ein Herz gebrochen. Nicht zum ersten Mal, aber unnötiger denn je. Ich öffne die Schiebetür, trete ins Wohnzimmer und schlängle mich an den Gesichtern vorbei, die mir wie stumme Puppen erscheinen. Ich kann nichts hören. Maria springt auf mich zu und umarmt mich. Ich stoße sie weg und verlasse die Wohnung, will nur noch raus aus diesem ganzen Elend. Wieso muss immer alles so kompliziert sein?
Als ich auf der Straße stehe, winken mir die Nachbarn zu. Ich nicke stumm und laufe nach Hause. Männer und Frauen, Kinder und Rentner, wünschen mir ein frohes neues Jahr. Dabei gibt es nichts, wozu man mich beglückwünschen kann. Das Handynetz ist wie jedes Jahr überlastet. Ich wollte Denise Chiara schreiben und mich entschuldigen. Kurz bevor ich mein Zuhause erreiche, habe ich wieder Netz. Mein Handy piept. Ich will nicht der sein, der die Frauen ausnutzt und verarscht. Das wollte ich nie. Die SMS ist von Denise Chiara Herzog. Ich habe sie unter Baby eingespeichert.
Die Nachricht enthält nur ein Wort: Scheißkerl.
Christian Wicklein ist Autor der Romane »Schuster«,
sowie »Und die Spitalbesucher kamen in Engelskostümen«.
2019 erschien sein Kurzgeschichtensammelband »Holt die Kuh vom Eis«.
Seine Kurzgeschichte »Niemandsland« wurde im Rahmen des
"Literaturwettbewerbs 2019 der Gruppe 48" in einer Anthologie veröffentlicht.
Er lebt in Südthüringen.