Das Weihnachtswunder

Das größte Wunder an Weihnachten ist natürlich das Wunder einer Geburt. Noch dazu in einer ganz außergewöhnlichen Situation. Diese Geschichte habe ich, inspiriert von meinem ganz persönlichen Weihnachtswunder, noch einmal neu aufs Papier gebracht. Denn auch ich wurde am 23.12. Vater.

Nur der ungeschmückte Christbaum stand noch im leeren Wohnzimmer. Es hallte seltsam bei jedem Schritt. Draußen begann es, dunkel zu werden. 

Wir hatten den ganzen Tag die Umzugskartons verpackt. Die meisten waren im Sprinter verstaut, oder in der Garage, die wir kurzfristig angemietet hatten. Der Rest stapelte sich im Flur. Wir würden uns während der Feiertage die Zeit nehmen, die Wohnung endgültig auszuräumen. Und hoffen, dass wir endlich in die neue Wohnung durften.

„Ich brauch jetzt unbedingt eine Pause!“, sagte Maria und setzte sich auf einen der Küchenstühle, die nun im Flur standen. 

„Pass auf dich auf!“, ich legte meine Hand auf ihren Bauch. „Überanstreng dich nicht. Denk an den Kleinen.“

Sie nickte. „Kannst du dir vorstellen, dass wir in zwei Wochen vielleicht schon Eltern sind?“ Sie lächelte erschöpft. 

„Magst du dich hinlegen? Das Bett haben wir zum Glück noch nicht auseinandergebaut.“

Sie nickte. 

„Als der Anruf kam, dass wir so bald aus der Wohnung raus müssen, war das wirklich ein Schock. Aber schön langsam freue ich mich auf die neue Wohnung.“

Sie strich sich über den Bauch. „Mir wäre es trotzdem lieber gewesen, wir hätten noch so lange hier bleiben können, bis wir in die neue Wohnung dürfen. Oder wenigstens, bis der Kleine da ist.“

„Wir schaffen das schon!“, versuchte ich sie aufzumuntern. „Ich geh jetzt noch, wie ausgemacht, runter zum Christkindlmarkt. Ist das in Ordnung?“

„Natürlich. Du freust dich doch schon so darauf, deine Freunde zu sehen.“

„Ich gehe nur, wenn es dir gut geht. Wie geht es dem Wuzi?“

„Ich denke gut“, sagte sie. „Ich fürchte nur, er spürt die Aufregung. Ich habe seit einiger Zeit wieder diese Probewehen. Am besten lege ich mich jetzt einfach in die Badewanne.“

„Ruf mich an, falls was ist!“, sagte ich noch lächelnd, aber sie winkte ab. Ich verabschiedete mich und spazierte in die Stadt.

Der ganze Stadtplatz war weihnachtlich beleuchtet. In den Platanenbäumen hingen Lichterketten. Zwischen den Häusern waren die leuchtenden Weihnachtssterne aufgehängt. Dazwischen die vielen Hütten des Christkindlmarktes. Vor der Kirche stand der große Christbaum, auf dem hunderte Lichter leuchteten. Es waren viele Menschen unterwegs. Kein Wunder, es war der letzte Tag vor den Weihnachtsferien und ein Tag vor Heilig Abend. Von überall her, waren die Menschen zurück in die Stadt gekommen, um die Feiertage bei ihren Familien zu verbringen. All die Freunde von früher würden heute am Christkindlmarkt sein. Ich zwängte mich durch die Menschenmenge, die sich zwischen den Hütten gesammelt hatte. Die anderen würden, wie jedes Jahr, beim Glühweinstand vor der Kirche stehen. 

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Tatsächlich. Schon von weitem winkten sie mir zu. Eine Traube von einem guten Dutzend der Jungs und Mädels mit denen ich die Jahre vor meiner Hochzeit so manche Partynacht verbracht hatte, stand um zwei der Stehpulte herum und tranken Glühwein. Unsere Clique war längst über ganz Deutschland verstreut. Einige studierten in München, die anderen waren nach Berlin umgezogen. Eine lebte in Kopenhagen. Aber jetzt waren sie hier. Zu Hause. Es war jedem einzelnen anzusehen, wie sehr sie sich über das Wiedersehen freuten. Ich nahm mir Zeit, um jeden einzelnen mit Handschlag oder einer Umarmung zu begrüßen. Ich bestellte mir einen Glühwein und wir tauschten uns angeregt aus, wie es jedem die letzten Monate ergangen war. Jeder war gerade dabei, einen interessanten Studienabschluss zu machen oder einen spannenden neuen Job zu beginnen. Die einen erzählten von den besten Partys in Berlin, die anderen von Kunst-Projekten an denen sie gerade arbeiteten. Und obwohl ich einen langweiligen Job hatte und der einzige war, der in der Stadt geblieben war, interessierten sich alle am meisten dafür, wie es mir ging. Ein erstes Mal merkte ich, dass die anderen mein Leben ganz und gar nicht langweilig fanden. Ich hatte zwar kein aufregendes Studium oder ein außergewöhnliches Kunst-Projekt. Aber ich wurde Vater. Und alle wollten wissen, wie es mir ging, wie es sich so anfühlte, bald Vater zu werden. Ich erzählte ihnen auch, dass wir gerade sozusagen auf der Straße standen. Dass wir unsere Wohnung kurzfristig kündigen mussten und noch nicht in die neue umziehen konnten. Ich erzählte, dass wir die nächsten Tage wohl auf einer Luftmatratze in der alten Wohnung schlafen müssten und ein paar Tage in meinem alten Kinderzimmer bei meinen Eltern. „Das ist ja krass“, fanden die anderen.

Wir tranken unseren Glühwein in der geselligen Runde und freuten uns über das Wiedersehen. Ich schaute mir immer wieder die vielen Lichter an, die den Glühweinstand, den Christkindlmarkt, den ganzen Stadtplatz beleuchteten. Es roch nach gebrannten Mandeln und Bosna. Alle standen lächelnd im Kreis und schauten sich selig an. Alle? Gegenüber von mir stand Elisabeth, die lange Zeit eine meiner besten Freundinnen gewesen war. In der allgemeinen Weihnachtsvorfreude hatte ich gar nicht gemerkt, dass sie die einzige war, deren Blick nachdenklich blieb und die den ganzen Abend noch nicht gelacht hatte.

Als wieder Bewegung in unsere Gruppe kam, weil sich einer nach dem anderen einen frischen Glühwein holte, oder auf die Toilette musste, stellte ich mich neben sie. Sie lächelte mich an. „Wie geht’s deiner Frau?“, fragte sie. Sie war die erste, die nach ihr gefragt hatte. „Den Umständen entsprechend gut“, antwortete ich. „Und dir? Du wirkst niedergeschlagen.“

Als ich den Satz ausgesprochen hatte, bereute ich es schon. Ihre Augen begannen zu flackern und sie wischte rasch eine Träne vom Gesicht.

„Was ist los?“, fragte ich, doch meine Frage ging im schallenden Gelächter der anderen unter. Jemand hatte eine lustige Anekdote über von früher erzählt. Ich nickte Elisabeth zu und wir stellten uns einige Schritte weiter unter den Weihnachtsbaum vor der Kirche. Ich gab ihr ein Taschentuch und sie tupfte sich über das Gesicht.

„Eigentlich ist alles gut“, sagte sie.

„Eigentlich ist ein ziemlich trauriges Wort“, sagte ich.

Sie schaute nachdenklich in ihre halbleere Glühweintasse. „Normalerweise freue ich mich jedes Jahr auf Weihnachten. Aber dieses Jahr fühlt es sich an, als hätte ich den Anschluss verloren.“

„Wie meinst du das?“

„Alle machen Karriere, haben eine großartige Zukunft vor sich.“

„Ich nicht“, entgegnete ich.

„Du erst! Weißt du überhaupt, wie glücklich du sein solltest? Du gründest gerade eine Familie!“

Ich verstummte.

„Es ist manchmal echt nicht leicht, sich anzuhören, wie supertoll jeder einzelne der anderen sein Leben im Griff hat, wenn man selber das Gefühl hat, dass alles festgefahren ist.“

Ich nickte und dachte eine Weile nach, was ich antworten sollte. Schließlich sagte ich: „Ich kann nur für mich sprechen. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich ziemlich Angst. Ich habe Angst, dass bei der Geburt etwas schiefgehen könnte. Dass wir danach immer noch nicht in die neue Wohnung können. Und vor dem, was nach der Geburt kommt, habe ich erst recht Angst. Vor dem sogenannten Rest vom Leben.“

Sie versuchte, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern. „Ihr schafft das schon!“, sagte sie.

Ich nickte. „Und die Wahrheit ist aber auch, dass etwas in mir noch größer ist, als die Angst.“

Sie schaute mich gespannt an.

„Liebe“, sagte ich. „Ich freue mich auf alles was jetzt kommt. Einfach, weil ich jede einzelne der Entscheidungen des letzten Jahres aus Liebe getroffen habe.“ Da sie immer noch mit leerem Blick in ihre Tasse schaute, fügte ich hinzu: „Manchmal beneide ich dich für die Wege, die du eingeschlagen hast. Ich finde, du hast bisher alles richtig gemacht.“

„Ab jetzt klingst du wie ein Weihnachtsprediger“, sagte sie und lachte. „Danke, du hast mich zum Lachen gebracht.“

Nach unserem Gespräch merkte ich, wie Elisabeth deutlich auftaute und wieder mehr und mehr als Teil der Gruppe aufging. Die Gespräche drehten sich bald mehr um mehr um Clubs und wilde Partys und bald merkte ich, dass nun ich es war, der sich gedanklich weiter und weiter von der Gruppe entfernte. Schließlich musste ich in mich hineinlachen, trank meinen Glühwein aus und beschloss, dass es einen Ort gab, wo ich mehr gebraucht wurde, als hier. Ich nickte Elisabeth zu und formte ein „Alles Gute“ mit meine Lippen. Ich winkte in die Runde und verabschiedete mich.

„Lad uns zum Papa-Bier ein!“, riefen sie mir nach, als ich zurück über den Christkindlmarkt schlenderte.

Kaum hatte ich das Stadttor durchschritten, war es unendlich still. Ich ging die Stiege nach unten und hörte den Mühlbach gluckern. Mir war es, als nahm ich jeden Geruch und jedes Geräusch so intensiv wahr wie noch nie. Ich spazierte langsam den Weg zurück nach Hause und erst jetzt wurde mir bewusst, dass dies vielleicht mein letztes Mal war.

Zurück in der Wohnung fand ich ein leeres Wohnzimmer vor. „Wo bist du?“, rief ich.

„In der Badewanne!“

Ich lugte ins Badezimmer. „Alles gut bei dir?“

„Weiß nicht. Die Probewehen sind heute extrem stark. Normalerweise gehen sie beim Baden weg.“

„Bist du sicher, dass es Probewehen sind?“

Sie zuckte die Achseln.

„In welchen Abständen kommen sie?“

„So alle fünf Minuten“, sagte sie. Und starrte mich mit weit aufgerissenem Mund an.

„Scheiße!“

Sie zog den Stöpsel aus der Badewanne. Ich wühlte mich durch die Kartons im Flur. „Wo ist deine Krankenhaustasche?“, schrie ich.

„Ist sie nicht da? In der Garage vielleicht.“

„Die wird doch nicht im Umzugswagen sein? Sie muss da sein!“

So schnell sie konnte, zog sie sich an und half mir suchen. Immer wieder krümmte sie sich vor Schmerzen, als sie wieder eine Wehe bekam. Endlich fanden wir die fertig gepackte Krankenhaustasche zwischen den Kartons.

Wir löschten das Licht und stürmten nach unten. „Kannst du noch fahren?“

„Ich hatte nur einen Glühwein.“

Bei der nächsten Wehe schaute ich auf die Uhr. „Das waren nur vier Minuten!“

Sie hielt sich den Bauch und schrie: „Fahr schneller!“

Das Krankenhaus war am anderen Ende der Stadt. Auf einmal kam mir die Strecke unendlich weit vor. Als wir an einer roten Ampel standen, kam die nächste Wehe. „Fahr einfach! Fahr!“, schrie sie. Die Straßen waren menschenleer und ich drückte aufs Gas.

Mit leicht überhöhter Geschwindigkeit raste ich Richtung Notaufnahme. Gemeinsam eilten wir Arm in Arm so rasch es ging zur Rezeption. Auf halbem Weg kam schon die nächste Wehe. „Es tut so weh!“, rief sie.

„Komm! Du schaffst das schon.“

Ich stützte sie und ich half ihr bis zur Theke. Die Dame grüßte uns freundlich. „Die Krankenkassenkarte bitte!“

„Die ist im Auto“, antwortete meine Frau.

„Die brauche ich aber!

Auf einmal brüllte Maria in einer Stimme, die ich nie zuvor so erlebt hatte: „Ich krieg jeden Moment ein Kind, verdammt noch Mal!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und eilte Richtung Kreissaal.

Entschuldigend blickte ich die Frau an der Notfallaufnahme an und versprach, die Krankenkassenkarte nachzureichen.

Wir fuhren mit dem Lift in den dritten Stock, wo uns endlich eine Hebamme in Empfang nahm. Sie zeigte uns ein winziges Zimmer und sagte, dies sei der Kreißsaal. Ich hatte gar keine Zeit, mich zu wundern, denn nun ging es erst richtig los.

Die folgenden drei Stunden erlebte ich wie in einer Trance. In einem traumartigen Zustand erlebte ich etwas, das gleichsam faszinierend, geheimnisvoll, aber auch erschreckend und unheimlich war.

Nach Stunden des Bangens, des Hoffens, des Schreiens und des Beruhigens, hielt ich auf einmal eine Schere in der Hand, mit der ich die Nabelschnur meines Sohnes durchschnitt. Auf einmal wurde es noch einmal hektisch. Der Arzt faselte etwas von einer Nachgeburt und ich wurde mit einem Mal nicht mehr gebraucht. Und nach und nach verschwanden die Ärzte, Schwestern und Hebammen wieder aus dem Raum und alles wurde ruhiger. Bald war im Raum nichts mehr zu hören bis auf das unruhige Atmen eines neugeborenen Säuglings, der in den Armen seiner Mutter lag. Erst jetzt begriff ich, dass ich gerade Vater eines gesunden Jungens geworden war. Ich beugte mich über die beiden und konnte es nicht fassen, dass wir nun eine Familie waren.

„Schau mal!“, sagte meine Frau auf einmal und deutete ans Fenster. Dichte Schneeflocken tanzten vor dem Fenster. Es hatte zu schneien begonnen.

Ich blieb noch einige Stunden, bis Maria ein Zimmer zugewiesen wurde und sie müde genug war, um kurz einzuschlafen. Auch ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten und war überwältigt von diesem Gefühl, dass gerade ein ganz neues Leben begonnen hatte. Im doppelten Wortsinne. Ich verabschiedete mich von meiner kleinen Familie und fuhr mit dem Lift nach unten.

Als sich die automatische Türe vor der Notaufnahme öffnete, war alles weiß. Ich stapfte durch den Schnee und musste erst das Auto vom Schnee befreien. Es war ganz still, als ich das Auto schließlich knirschend durch den Zentimeter hohen Schnee lenkte. Alle Wege waren verweht und ich fuhr vorsichtig und ganz langsam den Berg zurück nach Hause hinauf. Als ich das Auto neben dem Umzugswagen parkte, stellte ich mich in die klirrend kalte Nacht in den Schnee und schloss die Augen. Schneeflocken fielen auf meine Nase und kein Laut war zu hören.

Als ich die Augen wieder öffnete, schaute ich hinauf zu den Fenstern unserer Wohnung, in der wir so viele Jahre gelebt hatten. Dann sah ich, dass über dem Dachgiebel etwas leuchtete. Ein Stern. Ein hell leuchtender Stern. Ich dachte erst, dass mir meine übermüdeten Sinne einen Streich spielten und kniff die Augen zusammen. Als ich die Augen wieder öffnete, war er immer noch da. Es war tatsächlich ein ungewöhnlich heller Stern.

Ich seufzte und ging zurück ins Haus, legte mich auf die Luftmatratze und schlief so fest, wie ich noch nie zuvor geschlafen hatte.