Der Bogen des Lebens
Ein Mann reflektiert über das Leben seines Vaters, der nach dem Tod seiner Mutter eine unkonventionelle und bescheidene Lebensweise annahm. Nachdem er das Haus seines Vaters besucht und Pfeil und Bogen gefunden hat, die er mit ihm früher gebaut hat, hat er eine mysteriöse Erfahrung, die ihn den Frieden mit dem Tod seines Vaters finden lässt.
Dies ist eine der Kurzgeschichten, die im Kurs von Arwed Vogel unter dem Eindruck des Todes meines Vaters entstanden ist. Vorgabe war, eine zuvor herausgearbeitete Szene im Stil des Magischen Realismus nachzuerzählen. In der ursprünglichen Szene half mir mein Vater dabei, einen Pfeil für meinen Bogen zu schnitzen. Eine Interpretation dieser Kurzgeschichte findest Du hier.
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Eine Kurzgeschichte im Stil des magischen Realismus
Seine letzten Jahre war mein Vater wieder ein Junge geworden. Er fuhr stundenlang mit dem Rad durch die Landschaft, legte sich an einem sonnigen Plätzchen in die Wiese oder staute das Wasser des Baches hinter seinem Haus auf, damit er darin schwimmen konnte. Es gab keinen Einfluss einer Frau mehr, die ihn an die Gepflogenheiten erwachsener Menschen unseres Kulturkreis erinnerte und so hauste mein Vater in bescheidenen, andere sagten, ärmlichen Verhältnissen, wie er es auch als Junge in den Nachkriegsjahren getan hatte.
Seit er gestorben ist, versuche ich zu verstehen, warum er diesen Weg für sich gewählt hatte und gelangte immer wieder zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass ihn diese Lebensweise glücklich gemacht hatte.
Anders als beim Tod meiner Mutter hatte ich keine Möglichkeit, mich von meinem Vater zu verabschieden, als er sich, wie es so seine Art war, ohne große zu verlieren, dieser unserer Welt, die nicht mehr die seine war, zu entziehen. Ich wartete verstört im sterilen Flur der Intensivstation und wusste noch nicht, dass er längst neben mir saß.
Ohne eine Zeremonie und unter dem Zeitdruck des Unternehmens wurde drei Tage später die Maschinerie in Gang gesetzt, die seinen Sarg in einen Industrieofen fuhr, wo er hinter einer massiven Türe in einer glühenden Hitze verschwand.
Draußen vor dem Gebäude schaute ich noch eine Weile zu, wie weißer Rauch aus dem Kamin in den Himmel stieg.
Einige Wochen später, als es Frühling wurde, spazierte ich über das Grundstück meiner Kindheit. Wie immer, wenn ich das leere Haus besuchte, um das eine oder andere Aktenstück zu suchen, oder die Zimmer zu lüften, hatte ich dieses unbestimmte Gefühl, dass mein Vater noch immer dort lebte und nur auf einer längeren Radfahrt unterwegs war.
In der Wiese vor dem Haus entdeckte ich im vom Schnee noch plattgedrückten Gras einen Gegen-stand. Ich hob ihn auf und erkannte das alte Taschenmesser meines Vaters, das dieser vor Jahr-zehnten einmal verloren hatte.
Der Schaft war schon damals verwittert gewesen. Ich zog die Klinge heraus. Sie war an den Seiten etwas angerostet.
Während ich das Messer betrachtete, erinnerte ich mich daran, dass mein Vater das Messer in meiner Gegenwart oft benutzt hatte, wenn er mir einen Pfeil oder einen Bogen baute.
Das Messer war unweit des alten Hollunderstrauches gelegen, aus dem er damals die Pfeilspitzen geschnitten hatte. Der Baum, der eigentlich vor Jahren schon abgestorben war, stand in diesem Frühling wieder in voller Blüte. Ich testete die Schärfe der Klinge und es gelang mir, problemlos einen Ast von der Hollerstaude herunter zuschneiden.
So wie es mir mein Vater damals gezeigt hatte, schnitzte ich mir eine Pfeilspitze daraus.
Für den Pfeil benötigte ich Schilf. Mein Vater hat-te früher stets größere Mengen Schilf auf dem Speicher über der Garage aufbewahrt. Ich ging zurück zum Haus und setzte die Leiter unter die Türe zum Garagenspeicher und kletterte hinauf. Hinter der Tür schlug mir ein modriger Geruch entgegen. Zwischen Styroporplatten und Brettern entdeckte ich tatsächlich ein Bündel Schilf und zog ein Schilfrohr heraus. Dabei sah ich unter den Styroporplatten meinen alten Bogen hervor lugen. Verwundert, dass dieser immer noch existierte, nahm ich ihn und kletterte die mit jedem Schritt vibrierende Leiter wieder herunter.
Mit gezielten Schnitten ins Schilf bastelte ich mir einen Pfeil zurecht und während ich in die Arbeit vertieft war, blickte mir mein Vater dabei über die Schultern.
Den fertigen Pfeil spannte ich in den Bogen, der trotz der 20 Jahre, die er inzwischen alt war, noch genau so geschmeidig war wie in meinen Kinder-tagen.
Ich zielte mit dem Pfeil in den Himmel und stellte mir vor, dass dort oben irgendwo mein Vater saß.
Mit einem lauten Zischen schoss der Pfeil in die Luft und stieg höher und höher, bis er verschwunden war. Eine Katze miaute und zwischen meinen Beinen schmiegte sich eine schwarz weiß gefleckte Katze, die exakt so aussah wie die Lieblingskatze meines Vaters.
Ich hob sie hoch und sie sah mich mit grünen Katzenaugen an. Die Katze bewegte ihren Mund und sagte: „Es ist jetzt gut. Du darfst mich nun loslassen.“ Erschrocken warf ich die Katze zu Boden und sie verschwand zwischen den Büschen.
Dies war in derselben Woche passiert, als ich das Haus zum Verkauf ausschreiben ließ. Ich werde die Käufer des Hauses bitten, sich um die Katze zu kümmern.
Ende
Mögliche Interpretation der Kurzgeschichte "Der Bogen des Lebens"
"Der Bogen des Lebens" ist eine tiefgründige Kurzgeschichte, die durch die Linse des magischen Realismus verschiedene Aspekte des menschlichen Lebens und Erlebens betrachtet. In der Geschichte reflektiert der Protagonist über das Leben und den Tod seines Vaters, wobei die Elemente des Alltags mit dem Mystischen verschmelzen. Diese Erzählung bietet reichhaltigen Stoff für eine ausführliche Interpretation.
**Lebensweise des Vaters und symbolische Bedeutung**
Der Vater des Erzählers kehrt in seinen letzten Lebensjahren zu einer einfachen, kindlichen Lebensweise zurück. Diese Rückkehr zu den Wurzeln und zur Unschuld der Kindheit kann als eine Form des Widerstands gegen die Komplexität und den Stress des modernen Lebens gedeutet werden. Die einfache Lebensweise des Vaters nach dem Tod seiner Frau könnte auch auf eine tiefere spirituelle Suche oder eine Abkehr von materiellen Werten hinweisen. Es scheint, als ob der Vater durch seine Art zu leben, eine Form der Freiheit und des inneren Friedens gefunden hat, die außerhalb der konventionellen gesellschaftlichen Normen liegt.
**Umgang mit Trauer und Verlust**
Der Erzähler kämpft mit dem Verlust seines Vaters und der Tatsache, dass er sich nicht richtig von ihm verabschieden konnte. Diese unvollständige Trauer wird durch das Fehlen eines Abschiedsrituals verstärkt. Das unpersönliche und schnelle Ende des Vaters, symbolisiert durch den Industrieofen, steht im Kontrast zur natürlichen, lebensbejahenden Art, wie der Vater gelebt hat. Dieser Kontrast könnte die Spannung zwischen der natürlichen Ordnung des Lebens und des Todes und der oft klinischen, entfremdeten Weise, wie die moderne Gesellschaft damit umgeht, darstellen.
**Erinnerung und Verbindung**
Die Entdeckung des Taschenmessers und des Bogens löst beim Erzähler Erinnerungen aus, die ihn emotional mit seinem Vater verbinden. Diese Gegenstände dienen als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Sohn und Vater. Sie sind physische Manifestationen von Erinnerungen und Gefühlen, die über den Tod hinaus Bestand haben.
**Elemente des magischen Realismus**
Die Geschichte nutzt Elemente des magischen Realismus, insbesondere die sprechende Katze, um das Übernatürliche nahtlos in die Realität zu integrieren. Dieses Element könnte als symbolische Darstellung der inneren Stimme des Erzählers interpretiert werden, die ihm hilft, seinen Frieden mit dem Tod des Vaters zu finden. Die Katze, die die Worte „Es ist jetzt gut. Du darfst mich nun loslassen.“ ausspricht, könnte eine Verkörperung der Akzeptanz und des Loslassens sein.
**Natur und Lebenszyklus**
Der blühende Hollunderstrauch, der eigentlich schon tot sein sollte, symbolisiert die Kontinuität des Lebens und den ewigen Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Der Baum, der trotz seines vermeintlichen Todes wieder blüht, könnte auch die anhaltende Präsenz des Vaters im Leben des Sohnes darstellen. Diese Naturmetapher betont die Idee, dass das Leben weitergeht, auch wenn geliebte Menschen sterben.
**Interpretation des Schlusses**
Das Abschießen des Pfeils in den Himmel, wo der Sohn sich seinen Vater vorstellt, und die Begegnung mit der Katze, symbolisieren den Abschluss des Trauerprozesses. Durch diese Handlungen findet der Sohn eine Art von Versöhnung und innerem Frieden. Es ist, als ob er durch diese symbolischen Gesten seinen Vater in eine andere Welt entlässt und gleichzeitig seinen eigenen Frieden mit dem Verlust macht.
**Gesamtinterpretation**
Insgesamt ist "Der Bogen des Lebens" eine eindrucksvolle Geschichte, die die tiefen emotionalen Verbindungen zwischen Vater und Sohn sowie die komplexen Wege der Trauer, des Erinnerns und des Loslassens erkundet. Sie zeigt, wie Erinnerungen und die Verbindung zu unseren geliebten Verstorbenen weiterleben, selbst nach ihrem körperlichen Tod. Die Geschichte betont auch die Bedeutung von Natur und Einf
achheit im menschlichen Leben, als Gegenpol zu den oft entfremdenden Aspekten der modernen Gesellschaft.
Die Verwendung des magischen Realismus erlaubt es dem Leser, die Grenzen des Realen zu überschreiten und sich auf eine tiefere emotionale und spirituelle Ebene zu begeben. Dadurch wird "Der Bogen des Lebens" zu einer Geschichte, die nicht nur den Verstand anspricht, sondern auch das Herz berührt und zum Nachdenken über die grundlegenden Aspekte des Lebens anregt.
Dieses Buch von Bernhard Straßer solltest Du lesen:
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Fazit zur Kurzgeschichte:
"Der Bogen des Lebens" ist eine bewegende Kurzgeschichte, die die tiefe Bindung zwischen Vater und Sohn und den Umgang mit Trauer und Verlust thematisiert. Der Vater, der in seinen letzten Jahren zu einer kindlichen, einfachen Lebensweise zurückkehrt, symbolisiert die Sehnsucht nach Freiheit und Authentizität. Der Sohn, konfrontiert mit dem Verlust und dem Fehlen eines Abschiedsrituals, findet durch die Erinnerung und symbolische Handlungen - das Finden des Taschenmessers, das Schnitzen des Pfeils und die Begegnung mit der magischen Katze - seinen Frieden. Diese Elemente des magischen Realismus verweben das Mystische mit dem Realen, unterstreichen die Kraft der Erinnerung und die fortwährende Präsenz geliebter Menschen. Die Geschichte ist eine tiefgründige Reflexion über den Lebenszyklus, die Bedeutung von Natur und die Unvergänglichkeit der emotionalen Verbindungen, die über den Tod hinaus Bestand haben.
Interpretierer (Dienstag, 21 März 2023 11:59)
Die symbolische Bedeutung des Bogens und des Pfeils kann je nach Kontext variieren. In dieser Kurzgeschichte stehen sie für den Lebensweg und das Ziel des Erzählers und seiner Familie. Der Bogen ist das Werkzeug, mit dem der Erzähler seinen Pfeil abschießt. Er symbolisiert die Fähigkeit, sich ein Ziel zu setzen und darauf hinzuarbeiten. Der Pfeil ist das Geschoss, das den Bogen verlässt. Er symbolisiert den Lebensweg des Erzählers und seiner Familie sowie die Hoffnung auf ein Wiedersehen nach dem Tod. Der Pfeil fliegt in den Himmel, wo der Vater wartet.