Diese gleichsam erschütternde und humorvolle Erzählung entstand in einer Zeit extremster Krisen (siehe auch "Geschichten über den Tod"). Ähnlich wie der Erzähler erlebte ich schreckliche Todesfälle in der Familie. Durch ein gleichzeitiges Hochgefühl aufgrund literarischer Erfolge, entstand eine extreme emotionale Zerrissenheit. Dieses Gefühl, gleichzeitig ein Märchen und einen Horrorfilm zu erleben, habe ich in diese Erzählung gesteckt.
"Da kommt der Adel" ist der erste Satz eines Kapitels von Ernest Hemingways Roman "Fiesta".
Irgendwo zwischen dem Friedhof der ungeborenen Kinder und dem Grab meiner Eltern lief sie mir über den Weg. Besser gesagt, sie sprach mich an. Greta von Kotzebue. Was macht eine wie die am Friedhof, fragte ich mich, sie sah ganz passabel aus und war höchstens 20 oder 29. Sie grüßte mich und stellte mir dieselbe Frage.
"Bist du nicht etwas zu jung für Friedhöfe?"
Was soll ich sagen? Ich glaube, ich habe seit Jahren auf so etwas gewartet. Ich meine, auf eine schöne junge Frau wartet man ja immer, aber eine die genau die Frage stellt, die sich niemand zu stellen traut, das war schon ungewöhnlich. Das war so eine Art Dammbruch. Eigentlich wusste ich genau, dass man jungen schönen Frauen nicht gleich die Geschichte vom toten Hund erzählt und die vom toten Kind erst dreimal nicht, aber Greta hatte gefragt und machte keine Anstalten, mir nicht interessiert zuzuhören. Also setzten wir uns auf eine der Bänke im Waldfriedhof, die Vögel zwitscherten aggressiv und beinahe wäre es schön gewesen. Ich erzählte Greta von Kotzebue vom Krebs und wie der meine Eltern aufgefressen hat. Und von Katharina, die damals unser Kind verloren hat, weil sie das alles nicht aushalten konnte. Ich betonte, dass Katharina jetzt in Bielefeld wohnte, um klarzumachen, dass es nichts mehr zwischen mir und Katharina gab. Außer dieser kleinen feuerbestatteten Pappschachtel im Grab der ungeborenen Kinder. Greta sagte erst, als ich ihr so ziemlich alles, was es über mich zu wissen gab, gesagt hatte, dass sie für ihren Blog recherchiere. Dass sie etwas über den Tod bringen wolle, aber sie wisse noch nicht genau was. Aber es sei richtig gewesen, sich mal auf dem Friedhof umzuschauen, sagte sie und tippte mir dabei irgendwie auf das Bein und sofort zuckte etwas in mir zusammen. Sie sagte, sie wolle mir etwas zeigen und weil ich unbedingt wollte, dass sie mir etwas zeigte, folgte ihr durch die Reihen aus Grün und Gräbern.
"Das ist unsere Familiengruft", sagte sie. "Hier werde ich irgendwann mal liegen. Vermutlich mit 27", sagte sie, lachte und zündete sich eine Zigarette an. So erfuhr ich, dass Greta einen Adelstitel trug. Sie erzählte, dass ihre Familie irgendwie von August von Kotzebue abstammte. Dem Dichter, den einer in Mannheim erstochen hatte.
"In Mannheim, da habe ich mal gelebt", sagte ich.
"Ich nicht." Sie schüttelte den Kopf. Greta sagte, sie lebe jetzt in Wien. Und ihr Blog sei recht erfolgreich, sie könne die Miete davon bezahlen. Dann lachte sie und meinte, die Mieten in ihrem Bezirk seien aber auch recht günstig.
Sie schnippte die Kippe auf ihre Familiengruft. Ich schaute ihr dabei scheinbar perplex zu. "Die Toten interessiert das doch nicht mehr", erwiderte sie.
Ich begleitete sie zum Parkplatz. Sie kramte einen Füllfederhalter aus der Tasche und hielt mir ein Moleskin hin. Den Füllerdeckel im Mundwinkel nuschelte sie, ich solle ihr meine Handynummer geben. "Damit ich dir den Entwurf des Artikels schicken kann", sagte sie. "Darf ich deinen Namen verwenden? Wie heißt du eigentlich mit vollem Namen?" "Hans", sagte ich. "Hans Irlbach."
"Ich melde mich", rief sie mir aus der heruntergelassenen Fensterscheibe ihres Autos nach und verschwand.
Da kommt der Adel, dachte ich mir eine Woche später, als ich im Café Lenz auf sie wartete. Ich wusste inzwischen, dass sie in Wien eine kleine Berühmtheit war, einen Wikipedia-Eintrag und zehntausend Twitter Follower hatte. Es irritierte mich, als sie mich mit schmatzenden Wangenküsschen begrüßte, so gut kannten wir uns auch wieder nicht. Aber scheinbar machte man das so, wenn man eine Berühmtheit in Wien war. Meine Euphorie, natürlich war ich am Waldfriedhof ein wenig begeistert von ihr gewesen, wich der misstrauischen Erkenntnis, dass jede von Gretas Gesten und Bewegungen affektiert, fast exaltiert waren. Ich hielt das ganze plötzlich für eine saublöde Idee und bestellte mir statt eines Kaffees gleich einen Zweigelt, jetzt war es eh schon Wurst. Nur ein Idiot konnte auf die Idee kommen, dass sich ein Wiener Twitterstar mit einem melancholischen Landei treffen wollte, um mehr als geschäftliches zu besprechen. Ich kam mir vor wie ein verdammter Träumer. "Was hast du gesagt?", fragte ich sie. Greta lächelte. "Ob dir der Artikel gefällt?" Ich nickte. "Natürlich. Gut schreibst du. Sehr gut."
"Und du hast nichts dagegen, dass ich das so mit dem Hiob-Verweis bringe? Dass du am Ende deine ganze Familie, dein Kind und deine Frau verloren hast und trotzdem dankbar für dein Leben bist? Und die Ironie im Text stört dich nicht? Wirklich nicht?"
Ich hatte keine Ahnung was sie meinte und schüttelte noch einmal den Kopf.
"Du schreibst ja nur auf, was gewesen ist. Wenn das Ironisch ist, dann ist es halt so." Ich zuckte die Schultern.
Greta sah mich an, sah mich lange an, irgendwie prüfend. So als könnte sie mit ihrem Blick herauskriegen, ob ich nicht ganz dicht sei oder so. "Wie geht's dir eigentlich?", fragte sie ganz unvermittelt.
Ich war überrascht, weil sie es so fragte, als erwartete sie eine Antwort. Keine Interviewfragen-Antwort, sondern sie wollte wirklich wissen, wie es mir ging. So kam es mir jedenfalls vor, vielleicht irrte ich mich aber auch. Die Leute von früher oder die Arbeitskollegen fragten schon lange nicht mehr. Denn was soll man schon antworten, wenn man innerhalb eines Jahres drei Mal am Friedhof steht und "Oh Haupt voll Blut und Wunden" singen muss.
"Gut", sagte ich. Die Zeiten in denen ich versucht hatte, das unsägliche in Worte zu fassen, waren lange vorbei.
Greta schaute mir weiter in die Augen, manche meinen ja, man könne anhand der Augen herauslesen, ob jemand verrückt ist. Das unangenehme war nur, dass jetzt auch ich lange in ihre Augen schauen musste. Dunkelbraun waren die, relativ schön sogar. Und eine große schwarze Pupille hatte sie. Man kann sich übrigens nicht zu lange in die Augen schauen, denn dann wird man wirklich verrückt, das weiß man. Aber eine Minute oder so geht schon. Sie lächelte, als sie nach ungefähr vier Minuten, vielleicht auch fünf, den Blick senkte. Ich fand es schade, weil ich wieder wie am Friedhof diese Schmetterlinge im Bauch hatte, aber das ist wohl normal, wenn man mit dem Adel beisammensitzt, noch dazu mit einer adeligen Berühmtheit, dafür will ich mich nicht entschuldigen.
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Von meinen 453 Facebook-Freunden hatte sich seit Monaten keiner mehr gemeldet. Unter dem Trauerpost hatten immerhin 99 von ihnen auf "gefällt mir" geklickt. Es ist natürlich total unwichtig, aber es hat mich maßlos geärgert, dass ich die 100 nicht voll bekommen habe, obwohl ich selber auch auf „gefällt mir“ geklickt habe. Twitter ist da irgendwie persönlicher. Wenn da jemand auf den Stern drückt, dann meint er das wirklich so. Bei mir klickte so gut wie nie jemand auf den Stern. Umso überraschter war ich, als es irgendwann, als der Hochsommer begann, in meinen Mitteilungen hieß: Greta von Kotzebue gefällt dein Tweet. Ich hatte nichts Weltbewegendes mitgeteilt. Etwas wie "Endlich scheint die Sonne wieder" oder "Im Frühling sterben ist scheiße".
Jedenfalls nahm ich ihr "gefällt mir" als Anlass, ihr zu schreiben.
Allerdings ist nicht jeder ein Meister darin, in 140 Zeichen die richtigen Worte zu finden. Deshalb kam ich mir blöd vor, als ich zwei Mal auf "Senden" drücken musste. Und noch blöder, als drei Stunden später immer noch keine Antwort gekommen war. Greta hatte in dieser Zeit gefühlte zwanzig Mal gepostet. Ich war unendlich enttäuscht. Aber eigentlich war es mir auch egal. Ich las gerade eine Geschichte in der Wolfgang Herrndorf nach Italien trampt und versuchte nicht über den Tod nachzudenken.
Am nächsten Morgen hatte ich eine einzige Nachricht. Greta von Kotzebue schrieb: "Lese am Samstag in Mannheim!!! Treffen?"
Sie wusste, dass ich die Stadt mochte und ich wusste, dass dort mal was mit einem Ihrer adeligen Vorfahren war.
Bis Mannheim bräuchte man fünf Stunden im ICE. Greta hatte nicht erwähnt, welchen Zeitumfang sie einem "Treffen" beimaß und ich hatte zu viel Respekt vor 140 Zeichen und der Handynummer eines Stars, um mehr als "Ja" zu schreiben beziehungsweise sie danach zu fragen.
Es war wie früher, als ich noch mit Katharina nach Mannheim fuhr: Die Klimaanlage im ICE, die es im Sommer kälter als im Winter machte. Der Hauptbahnhof, an dem ich sonntags immer einkaufen gegangen war. Und die Pension Gerich, in die ich mich nur deshalb einmietete, weil Frau Gerich mich hasste. Weil ich in ihrer Pension einmal lauten Sex gehabt hatte. Vielleicht wollte ich aber auch dorthin, weil Katharina und ich in dieser Nacht damals das Kind gezeugt hatten. Ich hätte lieber in der Goldenen Gans reservieren sollen.
Frau Gerich gab mir missmutig den Schlüssel und fragte, wo meine Begleiterin sei. "Sie ist gestorben" behauptete ich. "Brustkrebs" fügte ich hinzu und fand es irgendwie lustig, weil Katharina eher kleine Brüste hatte. Wobei das ja nicht mit Brustkrebs zusammenhängt. Was nichts daran ändert, dass ich es lustig fand.
Nebenan im Andechser trank ich drei Bier. Als Greta Ort und Zeit nannte, sie brauchte meist weniger als die Hälfte der 140 Zeilen, schlug ich die Zeit im Park tot.
Vielleicht hatte ich auch acht Bier getrunken, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls taumelte ich verzweifelt durch den Park, so wie früher. Ich glaube, es war auch nicht das erste Mal, dass ich mit der Statue vom Schiller sprach und bin mir ziemlich sicher, dass ich einmal vor fünf Jahren auch geheult hatte. Aber damals war es drei Uhr früh und ich hatte geheult, weil die Fliegerbomben die schöne Stadt zerstört hatten. Und das Nationaltheater. Und die Statue vom Iffland auch.
Diesmal beruhigte ich mich recht schnell und schrieb wie damals eine SMS an Katharina. Das half immer. Seit sie in Bielefeld ist, antwortete sie kaum noch. Also nie. Meistens.
Ich schaute dann auf Google Maps, wo das Capitol ist und es war genau da, wo ich nie gewesen war.
Ich hatte noch zwei Stunden Zeit, also ging ich zu Fuß. Ich ging über das Vergnügungsviertel, der alten Erinnerungen wegen. Vorbei an der Kirche, an deren Wand ich einmal gekotzt hatte, weiter zum Neckar. Voller wehmütiger Erinnerungen. Hier war ich mit Katharina einmal glücklich gewesen. Auch wenn wir nur ein, zwei Mal im Jahr hier waren und auch nur, weil ich hier einmal meine schönste Zeit hatte und sie die gerne mit mir aufleben lassen wollte.
Am Neckar sah ich den Schiffen zu, die Richtung Ludwigshafen fuhren. In die eine Richtung ging‘s nach Heidelberg, ins Neckartal. In die andere zu BASF, nach Ludwigshafen. Das Leben war grausam.
Da ich nicht auf der Gästeliste stand, zahlte ich sechzehn Euro, um überhaupt in das Gebäude eingelassen zu werden. War man erst einmal drin, waren die Menschen freundlicher. Eine Frau, die mehrere Bänder und Kärtchen um den Hals hängen hatte, führte mich durch die Gänge. Sie deutete auf eine Tür, auf der mit Tesa ein kariertes DinA 4 Blatt gepappt war, auf dem mit Edding "VIP GvK" geschrieben stand. Ich klopfte. Ein junger Bursche öffnete, er hatte eine Flasche siebenjährigen Rum in der Hand und schaute vom Gesicht her aus, als könnte er Gretas Bruder sein. Vermutlich war es ihr Freund.
"Bist du der Typ?", fragte er.
Ich nickte.
"Greta ist noch mit den Leuten vom Literaturspiegel beim Essen. Probier es doch nach der Lesung."
Er deutete auf seine Flasche und bedeutete mir, dass er etwas grundlegend Wichtiges zu erledigen hätte. Als sich die Tür wieder schloss, stand auf einmal eine junge Frau neben mir. Sie schüttelte mir die Hand und stellte sich als Sophia vor.
"Bist du Gretas Freund?", fragte sie.
Als mir nicht gleich etwas Geistreiches einfiel, nickte sie. "Ja ja, schon gut. Wir wissen ja alle, wie wichtig Greta ihr Privatleben ist. Kaffee?"
Ich folgte Sophia und bestellte mir einen Cuba Libre. Sophia war nicht hübsch, ihre Haare waren kurz und rot, aber sie hatte unfassbar schöne blaue Augen. So etwas machte mich immer nervös und ich hörte ihr gerne zu, weil ich ihr dabei konzentriert in die Augen schauen konnte. Während sie in Ihrem Latte Macchiatto rührte, erzählte sie, dass sie gerade für ihren Blog einen Artikel über Greta bringt und versucht einen Zusammenhang zwischen Werk und Person herzustellen. "Na, da wird Greta sicher begeistert sein", sagte ich und sie stimmte mir zu.
Ihrer Theorie nach seien nämlich 90 Prozent aller Romane autobiographisch und man sei es den Lesern schuldig, das Biographische herauszudestillieren.
Sophia war unfassbar klug, dazu musste man selber nicht einmal schlau sein, um das in Windeseile zu erfassen. Sie fragte mich, woher ich Greta kannte und da erzählte ich vom Interview und erwähnte auch den Tod und die Verzweiflung, allerdings nur beiläufig und in einem Nebensatz und vielleicht hätte ich diese Sachen doch etwas besser betonen sollen. Denn Sophia runzelte nur kurz die Stirn und ging nicht weiter auf das Thema ein. Sie fragte mich stattdessen, ob mir schon klar sei, dass Gretas Blog für seine bissige Ironie bekannt sei. Und weil die Texte so superlustig seien.
"Nein", sagte ich.
Das war mir nicht bekannt. Ich wechselte meinerseits das Thema, denn über Greta wollte ich nicht reden. Ich war wütend auf sie, weil sie mich fünfhundert Kilometer in eine beschissene Stadt gelockt hatte und wütend auf mich selbst, weil ich keinen Sinn für Ironie hatte. Ich fragte Sophia, wer ihr Lieblingsautor sei. Sie überlegte. Überlegte einen Tick zu lange, ehe sie "Wolfgang Herrndorf" sagte. Ich hätte ihr dennoch verziehen. Sie schüttelte allerdings den Kopf mehrmals und korrigierte: "Juli Zeh. Juli Zeh mag ich um ein My lieber."
Ich wollte noch eine Überleitung auf die autobiographischen Anteile machen, hatte aber plötzlich keinen Bock mehr auf Germanistenscheiße und irgendwie hatte ich einen Ständer, weil sich Sophia die ganze Zeit so besserwisserisch nach vorne beugte und sie einen relativ schönen Busen hatte. Freunde von Greta konnten keine Feministen sein und ich war längst betrunken genug, um sie zu fragen, ob sie mit mir nach draußen gehen wollte. Da nickte sie mir zu. Als könnte sie Gedankenlesen, fragte sie, ob wir nach draußen gehen sollten und als mein Schwanz zwischen meine Oberschenkel zu stoßen begann, kapierte ich auch, dass sie mit "draußen" meinte, dass sie noch eine Rauchen wollte.
"Da kommt der Adel", sagte Sophia, als wir an unseren Zigaretten saugten und Greta erschien. Sie grüßte mich mit Küsschen links und rechts und ich vergaß, dass wir in der Stadt waren und spürte irritiert, wie ihre andere Wange ein zweites Mal meine Lippen touchierten.
"Die Wixer vom Spiegel werden den Glavinic besprechen und nicht mich!" Sie schnaufte, setzte ein Lächeln auf und sagte in meine Richtung: "Nett, dass du da bist".
In dem Moment hasste ich sie und dachte, es wäre sicher "nett", Sophia zu ficken, verbot mir den Gedanken aber sogleich.
"Gerne!", sagte ich.
Sie umarmte gerade Sophia als wären sie BFF oder schlimmeres und Greta stieß etwas aus, das sich wie "Dankedankedanke" anhörte und auf eine Rezension bezog. Ich vermute, es war die einzig gute und fragte mich, ob es eine Behinderung ist, Ironie nicht verstehen zu können.
"Sophia hat mir damals den Typen vorgestellt, der für den Verlag arbeitet", erklärte Greta.
Mir war es egal. Ich hielt nach Getränken Ausschau.
"Auf der Bühne lese ich heute übrigens erstmals das Kapitel, wo der Typ träumt, in die riesige Muschi hineinzufliegen. Das wird sicher ein Brüller", sagte Greta und Sophia lachte so heftig, dass ihre Brüste wippten.
Ich war mir nicht sicher, wieviel Ironie der Satz enthielt und lachte vorsichtshalber mit. Ich hatte schon während einer Jelinekaufführung an den falschen Stellen gelacht und war vorsichtig geworden.
Als wir alle Drei Zigarette rauchend vor dem Capitol standen, kam mir mein Leben unfassbar armselig vor. Ich dachte an Katharina und wie oft wir uns gezofft hatten, weil ich sie für den langweiligsten Menschen der Welt hielt. Und trotzdem war es immer schön gewesen mit ihr. Aber im Nachhinein redet man sich sowas gerne ein.
"Ich muss dann mal. Bis später."
Greta pfefferte den glühenden Zigarettenstummel auf den Boden und eilte nach drinnen. Zwei Security, die ich gar nicht bemerkt hatte, folgten ihr unauffällig.
Fünf Minuten später saß ich mit Sophia in der ersten Reihe und Greta einen guten Meter über uns auf einem blauen Sofa und schaute mit ernstem, irgendwie aufgesetzten ironisch-kritischem Blick ins Publikum, so als wolle sie sich jeden Moment mit einem Messer die Stirn ritzen. Sophia kicherte in sich hinein, sie fand scheinbar alles grandios, was Greta machte. Sicher war sie lesbisch oder noch schlimmeres.
Sie sah heute, anders als damals am Friedhof, ganz und gar nicht schön aus. Ihr ganzer Typ abgefucked, wie ausgekotzt. Dieses elfenhafte Gesicht mit den grünen Augen. Diese schmalen, leicht geschwungenen Lippen, die sie mit rubinrotem Lippenstift zuzementiert hatte. Kaum zu glauben, dass ich jemals darüber nachgedacht hatte, sie zu küssen. Und natürlich diese beschissen-adeligen Hohlwangen. Nur die Hasenzähne fand ich noch so anziehend wie bei unserer ersten Begegnung. Vielleicht lag es auch daran, dass ich betrunken und sauer auf sie war.
Dann blätterte sie geräuschvoll ihr Buch auf und begann zu lesen. Sie las mit selbstbewusster, ab und an leicht brüchiger, zarter Stimme. Ihr Buch, ich hatte gar nicht gewusst, dass sie auch Bücher kann, war in so in der Art Generation Y - Sound geschrieben. Alles sehr pointiert, sehr eloquent und, dem Lachen des schenkelklopfenden Publikums nach zu schließen, auch sehr lustig. Ich fand es gar nicht lustig.
"Das ist Post-Ironie in Reinform!", flüsterte Sophia und schnalzte mit der Zunge.
Ich rückte etwas weiter weg von ihrem üppigen Busen.
In ihrem Buch ging es um einen geistesgestörten Typen, dessen Mutter krank ist und der versucht, sein erbärmliches Leben zu verdrängen, indem er geistesgestörte Frauen flachlegt. Wäre der zweite Teil nicht gewesen, und hätte ich ihr zugetraut, einen Roman über mich innerhalb von vier Wochen zu schreiben, hätte es auch meine Geschichte sein können.
Es gab jede Menge Szenenapplaus und auch so unterdrückte Lacher, wenn eine Pointe so unangemessen war, dass es sich verbat, darüber zu lachen. Sophias Brille fiel in meinen Schoß, dermaßen schmiss sie sich weg und ihre kajalverschmierten Tränen brannten auf meiner Wange. Gretas ausschweifende Gebärden fand ich von Kapitel zu Kapitel widerlicher, wie konnte man sich diesem badensischen Provinzpublikum nur so anbiedern und dermaßen auf einen Lesungstriumph vor diesen bornierten Wixern aus sein. Ich hasste sie dafür. Und dass sie mir nach jedem Applaus so neckisch zuzwinkerte, als wollte sie mir sagen: Schau her, ich bin gut, ich bin berühmt, so eine wie mich kriegst du nie! Was für eine fremdgehypete Bloggerschlampe, dachte ich mir. Und dachte es so ironisch wie ich nur konnte.
"Sie ist in Topform", flüsterte Sophia.
"Glaubst du echt, die Kacke ist autobiografisch?", fragte ich. Und Sophia machte eine abfällige Handbewegung, als käme es darauf nicht mehr an. Als sei Krebs und Tod nur das Deko-Salatblättchen auf einem sagenhaft witzigen Restschnitzel, das Greta echt erlebt hatte. Einen Moment war ich mir sicher, Sophia spielte darauf an, dass Greta sich in den beiden promiskuitiven Frauen portraitierte, aber da entfachte ein weiterer Spontanapplaus meinen Zorn aufs neue und ich musste nur noch weg.
Sophia missverstand mich und zwei Minuten später standen wir schon wieder draußen und rauchten.
"Der Rest ihrer Lesung ist immer gleich", erklärte Sophia, Rauchringe blasend, kein einziger gelang. "Greta liest ihren lustigsten Blogeintrag. Der, in dem sie schreibt, warum sie der Adel anekelt und anschließend liest sie noch die besten Briefe vor, die sie während des Shitstorms von den Bunte-Leserinnen bekommen hat. Zwei Mal gehört, beim ersten Mal war’s am Witzigsten", erklärte sie und drinnen hörte man die Mannheimer johlen, als stünde Bülent Ceylan höchstselbst auf der Bühne.
Drei Zigaretten und eineinhalb Gläser Rotwein später faselte Sophia etwas davon, dass sie Greta um ihre Männer beneidete, sie verwendete das Wort "Kerls", was aus dem Mund einer Buchbloggerin irgendwie unpassend klang. Und sie stupste mich so kameradschaftlich an, als habe sie mir ein Kompliment gemacht, oder ein Geheimnis anvertraut oder so. Und erst als ich kapierte, dass ich ja noch ein Missverständnis aufzuklären hatte, tauchte Greta auf und Sophia seufzte enttäuscht: "Wenn man vom Teufel spricht: Da kommt der Adel."
Ich kapierte gar nichts mehr.
"Kennt ihr Zwei euch jetzt, oder nicht?", fragte ich enerviert. Greta hatte mir nicht zugehört und ihre geröteten Wangen glühten.
"SWR 2 will mich morgen groß rausbringen. Habt ihr gesehen, wie die getobt haben? Mannheim! Ich scheiß mich an! Meine Agentin meint, das könnte mein endgültiger Durchbruch in Südwestdeutschland sein!"
"Das ist ja, fantastisch, Greta! Ich gratuliere dir!", rief ich und war von mir selbst begeistert, dass ich Ironie offensichtlich doch konnte.
Sie fiel mir um die Arme und drückte mich so fest, als wolle sie meine Konsistenz testen, dann drehte sie mich nach rechts, wirbelte mich um die eigene Achse und lachte die ganze Zeit, es sei so schön, dass ich da sei, so schön und beim vierten Mal hatte diese Aussage in meinen Ohren jegliche Bedeutung verloren.
Dann machte sie dasselbe mit Sophia, nur diesmal rief sie ständig: "Hast du das gesehen? Hast du DAS gesehen?", und bald ging mir das alles so auf die Nerven, dass ich am liebsten geschrien hätte: "Sie hat nichts gesehen, sie war die ganze Zeit hier draußen, sie war bei MIR!"
Und dann ging alles ganz schnell. Da war der Gin Tonic, da waren jede Menge Hände von ARTE-Redakteuren, Literaturkritikern und einem Böhmermann und dann auf einmal dieser komische Blick in Gretas Augen. Und wie sie mich bei der Hand nimmt, an der verdutzten Sophia vorbei und bei der Klotür hinaus und auf einmal waren wir allein im Mannheimer Nachtleben und noch bevor ich kapierte, was Greta vorhatte, sprang sie über den Friedhofszaun.
Nachts auf dem Friedhof hat etwas Beruhigendes. Ich weiß dann, dass meine Eltern und das Kind ganz in der Nähe sind. Ich kann sie spüren. Da machen mir die ganzen anderen verlorenen Seelen kaum noch Angst. Betrunken auf einem Friedhof zu sein, auch noch in Begleitung vom Adel, das war neu. Mein lautes Lachen, als ich meinen halben Cuba Libre beim Sprung über den Zaun verschüttet hatte, ebenfalls.
"Ich muss dir was zeigen", sagte Greta und zog mich an ihrer Hand über den knirschenden Friedhofskies. Es war mir egal. Aber es beruhigte mich, dass sie mir etwas zeigen wollte. Noch mehr Sinnlosigkeit hätte dieser Abend kaum ertragen. Wobei es keinen wirklichen Unterschied machte.
Greta ging zielstrebig auf ein Grab zu. Sie war entweder schon hier gewesen, oder das Google Maps-Auto war mal über den Friedhof gefahren.
"Da ist es!", sagte sie und zeigte auf einen Würfel.
Ein Würfel aus Granit, der ein lachendes und ein weinendes Gesicht zeigte. "August von Kotzebue" stand drunter.
"Mein Ur-Ur-Schlagmichtot-Großvater."
Greta setzte sich auf den Würfel. Sie nippte an ihrem Glas.
"Wegen diesem Typen werde ich in der Literaturszene gemoppt. Niemand mag den Adel", sagte sie.
Sie zündete sich eine an. In solchen Momenten fragte ich mich immer, ob das eine Art Theatereffekt sei, oder ob Menschen die sowas machen, einfach verdammt süchtig sind. Jedenfalls sah es toll aus, die glühende Zigarette, die gelben Finger, alles.
„Du willst die Sophia ficken, stimmt’s?“, fragte sie und ihre Frage war wie ein Schock, wie ein Holzhammer, der mit voller Wucht in die Eingeweide geschlagen wird. Weiß nicht, warum ich da so sensibel reagierte.
„Wieso?“, fragte ich und hoffte, dass ich mich nur in meinem Kopf schreiend auf dem Boden krümmte.
„Hab ich was Falsches gesagt?“ Sie blies ungerührt den Rauch auf das Grab ihres Ahnen. „Bist du immer so direkt?“
„Halli Hallo, ich hab gerade vor halb Mannheim aus einem Buch vorgelesen, in dem es zu fünfundsiebzig Prozent nur um Sex geht.“
Ich hob den Kopf. Konnte mich an keine einzige Sexszene erinnern. Nur an Sophia nackten Arm, der andauernd meinen gestreift hatte.
„Ich steh nicht auf Sophia“, sagte ich in einem Ton, der einen klugen Menschen darauf hinweisen sollte, dass ich eher auf die Fragestellerin stand, aber ich war nicht sicher, ob ich das hinbekam.
„Du wirkst auf mich eher wie einer, der gar nicht auf Sex steht. Oder schwul ist und es noch nicht weiß! Sie lächelte dabei und ihr Lächeln hatte nichts anklagendes. Sie tat so, als führten wir eine ganz normale Unterhaltung zwischen zwei Erwachsenen, betrunken um Mitternacht auf dem Mannheimer Friedhof.
„Ich bin nicht schwul“, sagte ich aus einem Reflex heraus, den ich mir in der achten Klasse einmal antrainiert hatte. Dabei fand ich es seit einiger Zeit gar nicht mal so übel, wenn ich bi gewesen wäre. Das war inzwischen ja alles en vogue und oft hatte ich das Gefühl, etwas zu verpassen.
„Ich spiegel dir nur, was ich wahrnehme“, erklärte Greta ruhig als wäre sie eine Sonderpädagogin. Ich wusste genau, worauf sie anspielte und als ich ihr erklären wollte, dass das alles so nicht sei, platzte es trotzdem aus mir heraus:
„Ich hatte seit einem Jahr keinen Sex mehr!“
Keine Ahnung, warum ich das sagte, aber ich wusste in dem Moment: Jetzt wird es interessant.
„Nicht dein ernst“, erwiderte sie wesentlich gelangweilter als erwartet. Dann kniff sie ihre Augen mit den seltsam buschigen Brauen zusammen, als überschlug sie im Kopf eine komplizierte Rechnung.
„Wie konnte sie dann schwanger werden?“
Das hatte ich mich natürlich auch gefragt.
„Ich vermute, dass wir es einmal im Schlaf getan hatten.“
Greta begann zu lachen. „Du vermutest!“ Sie lachte lauter, als es sich auf einem Friedhof gehörte.
Sie schüttelte den Kopf als wüsste sie nun endgültig, dass ich ein völlig verrückter Spinner sei, nahm mich bei der Hand und zog mich weiter.
„Das musst du noch sehen“, sagte sie und zeigte auf einen Obelisken, keine fünfzig Meter vom Grab ihres Vorfahren entfernt. „Eines der größten Gräber am Friedhof“, behauptete sie und wieder fragte ich mich, woher sie diese ganzen Informationen hatte, wenn sie noch nie zuvor hier gewesen war.
„Das ist das Grab vom Sand. Vom Mörder meines Ur-ur-ur-Großvaters.“
„Schön groß.“
„Und weißt du was?“, sie lehnte sich lässig gegen den Obelisken, der steil in den Mannheimer Nachthimmel emporragte. „Ich mag den Typ. Der hatte die Eier, sich für die Freiheit zu bewaffnen und einen reaktionären Spießer um die Ecke zu bringen. Ich werde mal ein Buch über Sand schreiben. Was für ein Typ!“ Sie redete plötzlich langsamer. „Es gibt noch kolorierte Kupferstiche von ihm. Hat gut ausgesehen.“
Etwas in ihrer Stimme kippte.
„Ich stehe übrigens auf die bad boys“, flüsterte sie und es kam nur ein Keuchen heraus. „Ich weiß, das ist krank…“ ihr Blick verschwand ins Leere. Erst jetzt bemerkte ich, wie nah sie mir gekommen war, ich roch ihren sauren Alkoholatem. Ein Glas klirrte. Ihre Zunge schmeckte nach Red Bull. Im nächsten Moment stand sie nackt am Obelisken des Mörders ihres Urahnen. Sie rieb sich an dem kalten Marmor und stöhnte unentwegt „Das ist krank, das ist krank“ und ich dachte an Katharina und daran, dass sie sowas früher auch gerne gemacht hatte. Ich meine, vor der Zeit, als sie nicht mehr mit mir schlafen wollte. Und erst als mir eine sozusagen höhere Instanz in meinem Gehirn erklärte, dass Katharina weg sei und das Kind tot, erst da fand ich die Situation erotisch.
„Da kommt der Adel“, dachte ich in Dauerschleife, als wir später den Neckar entlang zurück spazierten. Vor ihrem Hotel sagte sie bestimmt: „Ruf mich nie wieder an.“
Ich wollte entgegnen, dass ich nicht einmal ihre Handynummer hatte, aber das kam mir altmodisch vor und es war mir egal. Ich wartete noch kurz, ob es einen Abschiedskuss gäbe. Gab es nicht.
Ich las noch einige Wochen ihren Blog mit großem Interesse und ein neues Verständnis für Ironie und entdeckte Sophia auf Tinder. Mehr gibt es zu diesem Thema nicht zu erzählen.
jJQaBOcg (Dienstag, 27 September 2022 05:01)
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jJQaBOcg (Dienstag, 27 September 2022 02:45)
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