Im Haus zur Wildnis

Das Projekt Thoreau 2.2 Tagebuch - Tag 2

Meinen zweiten Tag im Wildniscamp am Falkenstein nutzte ich mit einer Wanderung zum Haus zur Wildnis, dem Wildgehege im Besucherpark des Nationalparks Bayerischer Wald in Ludwigsthal. Das Video mit einigen Impressionen zum Haus zur Wildnis findest du ganz unten.

Wildniscamp am Falkenstein
Nachdem die Ranger abgereist waren, hatte ich das Wildniscamp für mich allein

Die Ängste der Nacht waren völlig unbegründet. Ich wachte weniger in Einsamkeit denn in einem sehr zivilisierten Trubel auf. Ein Truck stand vor der Hütte, der nebenan das Strohdach reparierte. Die vielen Ranger wuselten über das Camp und bereiteten sich auf die Abreise vor. Und im Camp waren der nicht nur unter Thoreau-Hütten-Bewohnern bereits berühmte Koch, sondern auch noch die FÖJ’ler und Karl-Heinz. Es gab frischen Kaffee und das Leben im Hotel hätte kaum annehmlicher sein können. (Noch vor einer Woche residierte ich in der Präsidentensuite eines guten Hotels in Davos, aber das ist eine völlig andere Geschichte und soll nur als Kontrast zu meiner jetzigen Unternehmung erwähnt werden)

Ich ahnte noch nicht, dass ich all die Menschen, die ganze Menschheit an sich, für mehrere Tage nicht mehr hier im Wildniscamp sehen würde. Vielleicht wäre ich noch ein wenig länger im Speisesaal geblieben und hätte Gespräche gesucht. Im Moment war mir der Trubel allerdings zu viel und ich zog sogleich wieder los in die Wälder.

Verirrt im Bayerischen Wald?

Bayerischer Wald
In den Wäldern zwischen Zwieslerwaldhaus und Ludwigsthal

Bevor ich mich an den angenehmen Trubel gewöhnte, ging ich wieder zurück in die Wälder. Diesmal wanderte ich in Richtung Nationalparkzentrum Ludwigstal. Ich wanderte und wanderte. Und irgendwann wurde der Weg immer matschiger und immer mehr Baumstämme blockierten den Pfad. Das hatte es nicht einmal im Urwald gegeben. Bald war klar, ich hatte eine Abzweigung verpasst. Konnte man sich in diesen Wäldern verirren? War das in diesem touristisch so wohl erschlossenen Gebiet überhaupt möglich? Wenige Wochen später sollte sich ein kleines Mädchen aus Berlin tatsächlich gar nicht weit von hier in den böhmischen Wäldern verlaufen. Sie irrte zwei Tage und zwei Nächte durch die Wälder und überlebte in frostkalten Nächten nur mit viel Glück. All das wusste ich an diesem Tag noch nicht und belächelte die scheinbar abstruse Vorstellung, sich im Bayerischen Wald zu verirren.

Als ich eine gut ausgebaute Forststraße an einem Bach erreichte, schloss ich es erleichtert aus, nie wieder in die Zivilisation zurück zu finden. Ich folgte dem Bachlauf bergab, das hatte ich als Survival-Tipp einmal gelernt, weil dieser irgendwann in einem Dorf oder sehr viel später in einem Meer enden würde. Spätestens, als mir die erste Rentnergruppe auf Stöcken entgegenkam, war klar, dass ich noch nicht ganz in der Wildnis verloren war. Ich fragte sie, ob es zum Nationalpark-Zentrum noch weit sei. Die Rentner schauten mich traurig an und meinten, der sei viele, viele Kilometer weiter bei Bayerisch Eisenstein. War ich schon so weit gewandert? Beim großen Info-Parkplatz, den ich keine dreihundert Meter weiter erreichte, stellte sich heraus, dass die Gruppe die beiden Nationalpark-Zentren verwechselt hatten. Es gab auch hier eines. Das war gleich um die Ecke beim „Haus zur Wildnis“.

Im Haus zur Wildnis Ludwigsthal

Wolf Bayerischer Wald
Ein Wolf im Bayerischen Wald

Auf dem Weg dorthin stand ich überraschend meinem ersten Wolf gegenüber. Erst tat er so, als bemerkte er mich nicht. Dann tauschten wir einen kurzen Blick aus, nickten uns wohlwollend zu und gingen beide unserer Wege weiter. Ich erwähne vorsichtshalber, dass ein großer Gehegezaun uns trennte. Das Foto vom Wolf versetzte meine Kinder in Alarmstimmung. Diese sorgten sich zu Hause ohnehin ein wenig, ich könnte hier im Bayerischen Wald in großer Gefahr sein. Aber in Gefahr war ich wirklich nicht, ich war in einer Art Tierpark. Ich lief über hölzerne Brücken und Aussichtstürme und schaute mir die Gehege an. Leider ließ sich – bis auf den Wolf – keines der Raubtiere blicken. Dafür jede Menge Wildpferde und eine Herde Auerochsen. So schön es war, diese erhabenen, beinahe ausgestorbenen Tiere zu beobachten, Thoreau hätte so manchen Kritikpunkt an dieser Tierhaltung gehabt. Denn die Zäune um die Gehege herum waren so hoch, dass kaum ein freiheitsliebender Mensch freiwillig mit den Tieren tauschen würde. Wobei Thoreau es auch war, der früh erkannt hat, dass wir vermeintlich freien Menschen aufgrund unserer Pflichten, Schulden und Arbeit, im Grunde viel unfreier sind als die Tiere die wir uns halten. 

Haus zur Wildnis Urpferde
Urpferde beim Haus zur Wildnis

Eine lustige Anekdote erfuhr ich noch von einer der Wildhüterinnen: Trotz der hohen Zäune gelang es einem der wilden Lüchse, von draußen über den Zaun zu klettern. Er hatte ein Weibchen im Gehege entdeckt und gedacht: Da will ich rein! Die Wildhüter staunten nicht schlecht, als sie am nächsten Morgen bei der Zählung der Tiere einen Luchs zu viel auf der Liste hatten. 

Im Haus zur Wildnis kehrte ich noch auf eine Portion sehr leckerer vegetarischer Spinatknödel mit Salat ein und freute mich fast genau so sehr über das dortige WLAN. Ja, heute hätte Thoreau wohl gesagt, dass wir durch die moderne Technologie in unseren Smartphones noch gefangener sind als jede Generation vor uns. Denn schon in Walden erkannte er, dass nur die Allerklügsten unter uns verstehen, die Vorzüge der modernen Technologie wahrhaftig für sich zu nutzen. Ich beispielsweise habe die Vorzüge der Hochtechnologie genutzt, um… ein Instagram-Selfie zu posten. 

Zurück im Camp wollte ich als erstes mein Handy aufladen. Aber ich fand das Aufladekabel nicht. Siedend heiß fiel mir ein, dass ich es gestern in der Steckdose im Speiseraum gelassen hatte. Hatte der Koch es mir disziplinarisch entwendet? Ich suchte in den mir zugänglichen Räumen, ob es jemand beiseitegelegt hatte. Es war das eine, mehrere Tage in der Wildnis zu leben. Etwas anderes war es, dabei kein Handy zur Verfügung zu haben. Denn, wenn ich schon mit eingeschränktem Mobilfunknetz leben konnte, unmöglich konnte ich ohne meine Fotokamera, ohne meinen Wecker, ohne meine Taschenlampe leben. Und all dies befand sich in meinem Handy. Ich suchte überall nach dem Landekabel und lugte auch in das Büro von Karl Heinz. Dieses war über die Glasscheibe im Eingangsbereich einsehbar. Und tatsächlich: Dort lag mein Handykabel. 

Allerdings war der Zugang zu meinem letzten Strohhalm zur Zivilisation verschlossen. Würde ich mit 30% Akkurestleistung noch drei Tage überleben? Würden sie meine sterblichen Überreste neben dem leeren Handy auffinden? Und wie konnte eigentlich Thoreau ohne Smartphone überleben? Ich hatte Glück im Unglück. In meinem Rucksack fand ich neben einem Schweizer Taschenmesser (praktisch im Wildnis-Camp!) einen Mehrfach-USB-Stecker (unbedingt überlebensnotwendig im Überlebenscamp!) Mit diesem konnte ich mein Handy aufladen. Auch wenn es ungefähr fünf Mal so lange dauerte wie mit dem Schnelladekabel.

Trotz dieser großen Erleichterung trübte sich meine Stimmung von Stunde  zu Stunde ein. Dies lag vor allem am Fehlen der Sonne. Ich hatte seit Tagen keine Sonne mehr gesehen. Entweder es waren Wolken davor, oder Bäume. Die Dämmerung brach hier im Camp recht schnell herein und es dunkelte bereits ab 18 Uhr. Ich verscheuchte die trüben Gedanken, indem ich noch einmal nach Concord spazierte, äh nach Zwieslerwaldhaus wanderte. Dort gab es im Dorfkern eine Stelle, in der ich 4G hatte. So wie Thoreau regelmäßig nach Concord ging, um die neuesten Nachrichten zu hören, ging ich nach Zwieslerwaldhaus, um meine Nachrichten abzurufen. Es fühlte sich tröstlich an, kurz wieder in Kontakt mit der Außenwelt zu sein. 

Der Trost hielt aber nicht lange an. Zurück in der Hütte und mit Einbruch der Dunkelheit, legte sich die Einsamkeit klamm über mein Herz. Hm, darüber hatte Thoreau nicht geschrieben. Wie verdammt einsam man sich in der Wildnis fühlen kann. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich einen zweiten Versuch unternahm, den Holzofen anzuheizen. Diesmal klappte es.

 

Das Video zum Tag im Haus zur Wildnis

Simplify!

Die Einrichtung der Thoreau-Hütte
Die Einrichtung der Thoreau-Hütte

Eine der Hauptbotschaften Thoreaus lautet sinngemäß: Weniger ist mehr. Für ihn ist jeder Besitz, jeder Tand nur irdischer Ballast. Die Ärmsten in ihren Hütten sind in seinen Augen viel freier wie die Bürger in ihren stattlichen Palästen. Warum? Einerseits, weil die großen Häuser allesamt über Kredite finanziert wurden und so den Inhaber zu einem Getriebenen machen, der seine wertvolle Zeit verkaufen muss, um die Banken zu bedienen. Zum anderen, weil sich in den großen Häusern so viel Unnützes ansammelt, das nach dem Tod des Besitzers teils verbrannt wird. Soweit, so modern. Wer die Stelle in „Walden“ kennt, wird aber wissen, dass Thoreau kritisiert, dass der ganze Tand eines Reichen nach dessen Tod auf einer Versteigerung von dessen Nachbarn begeistert aufgekauft wird und nun auf deren Dachboden und Speicher deren Tand wird. Heute hätte ich gesagt: Was gibt es daran zu kritisieren? Thoreau hatte sich wohl nicht ansatzweise vorstellen können, dass eines Tages eine Wegwerfgesellschaft entstehen wird, in der selbst teure Technikgeräte nicht repariert, sondern weggeworfen werden, weil das neueste Modell kaum teurer ist als die Reparatur. Was Thoreau eigentlich sagen wollte ist dies: Brauchen wir das ganze Zeugs, das wir besitzen eigentlich? Darüber denke ich nach, als ich heute Morgen frühstücke. Für die gesamten Fünf Tage besitze und benutze ich für meine täglichen Mahlzeiten: 1 kleiner Teller, 1 Tasse, 1 kleine Schüssel, 1 Messer und 1 Löffel. In meiner Hütte stehen ein Stockbett, ein Tisch, zwei Stühle, ein Ofen, 2 Schränke und eine schwere Kiste, voll mit Walden – Exemplaren. Die hätte Thoreau vermutlich als erstes entfernt. Ich denke an zu Hause und wie uns der ganze Tand – Thoreau hat sowas von Recht – immer mehr erdrückt. Wie befreiend es ist, wenn wieder eine Ladung ungenutzter Dinge zum Wertstoffhof gebracht wurde. Und wie deprimierend, festzustellen, dass man für die Entsorgung sogar noch Geld bezahlen muss. „Simplify“ werde ich mir nach meiner Rückkehr ganz groß auf ein Plakat schreiben und dort aufhängen wo ich es gut sehe, wenn ich das nächste Mal „Shopping“ gehe.

Die Nacht

Die Bilder des Tages wirkten in der Nacht noch nach.
Die Bilder des Tages wirkten in der Nacht noch nach.

Gestern beschäftigte mich pünktlich mit der Dämmerung und der heraufziehenden Dunkelheit der Wälder die Einsamkeit. Unzählige Ängste besuchten mich zudem, was in Nächten in der Wildnis so alles passieren könnte. Noch nie zuvor hatte ich alleine in der Wildnis übernachtet. Ich wartete einmal in den Wäldern von Spokane eine Stunde lang in totaler Dunkelheit auf meinen Cousin. Aber da wusste ich, dass die Villa von Bill Gates in der Nähe war und notfalls hätte ich bei ihm geklingelt. Nun hatte ich die Wahl zwischen „Blair Witch Project“ (Unheimliche Ereignisse im Wald) oder „Shining“ (unheimliche Ereignisse in einer Tagungsstätte) auseinanderzusetzen. Ich zog die Hütte vor. Und außer, dass ich matratzenbedingt sehr schlecht schlief, schlief ich sehr, sehr gut, da alptraumlos. 

Am Morgen fiel mir erneut diese unfassbare Stille auf. Es war so still in der Hütte, dass ich ein erstes Mal seit vielen Jahren wieder meinen Tinnitus (an dem ich seit Rock im Park 1998 leide, aber das ist eine andere, folgenreiche, aber ziemlich coole Geschichte) bewusst hören konnte. Ein anderes Phänomen, das ich seit dem Film „Cast Away“, der sich ebenfalls intensiv mit dem Thema Einsamkeit auseinandersetzt, begegnete mir bei Betreten der Tagungsstätte. Obwohl sie menschenleer war, wünschte ich instinktiv „Guten Morgen“, einfach um die weite Stille mit Leben zu füllen und meine eigene Stimme zu hören.