"Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, daß ich gar nicht gelebt hatte."
Henry David Thoreau
Leben wie Henry David Thoreau einst in seiner Walden-Hütte - und das mitten im Nationalpark Bayerischer Wald. Das Wildniscamp am Falkenstein und das Team von Waldzeit machten dies 12 Schriftstellern und Künstlern im "Projekt Thoreau 2.2" möglich. Entstanden ist dabei das Buch "Ich ging in die Wälder", erschienen im Lichtung-Verlag
Die Autoren verbrachten dazu mehrere Tage in der Thoreau-Hütte im Wildniscamp und arbeiteten an Texten und Kunstwerken zum Thema Wildnis, Thoreau und ein Leben im Einklang mit der Natur.
Auch ich durfte mehrere Tage in der Walden-Hütte leben. Warum es für mich die Erfüllung eines Jugend-Traumes war, aber auch eine extreme Grenz-Erfahrung, habe ich in meinem Walden-Tagebuch festgehalten. Hier könnt ihr nachlesen, welche großartigen Erfahrungen der Mensch machen kann, wenn er einige Tage ganz im Sinne von Henry David Thoreau lebt:
„Ich ging in die Wälder ...“
Auf den Spuren von Henry David Thoreau
im Nationalpark Bayerischer Wald
Herausgegeben von WaldZeit e.V.,
Broschur, 160 S., 15 Euro, ISBN 978-3-941306-47-9
mit Beiträgen von:
Marlies Albrecht, Peter Bogardt, Jonas Brand, Gerd Burger, Anja Liedtke, Karl-Heinz Reimeier,
Stefan Rosenboom, Andrea Rozorea, Annemarie Schmeller, Ulla Maria Schmid, Leonhard F. Seidl
und Bernhard Straßer
Im Sommer meines 18. Lebensjahres wollte ich so leben wie Henry David Thoreau. Ich fuhr als erstes mit dem Zug dreißig Kilometer in das nächste Buchgeschäft, wo ich mir die deutsche Ausgabe von „Walden“ abholte. Meine erste Begegnung mit Thoreau hatte ich, wie wohl alle in meiner Generation, mit dem Satz: „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben. Intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht lebend war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, dass ich gar nicht gelebt hätte.“ Robin Williams las die Zeilen im Film „Der Club der Toten Dichter“ vor und auch ich war fasziniert und wollte fortan ebenfalls in die Wälder und dort das Leben in seiner reinsten Form erfahren..
Wenige Jahre später bekam ich dazu die Gelegenheit. Ich ging als Austauschschüler in die USA, um dort so intensiv als nur möglich zu leben. Thoreau war dort in der Elften Klasse Pflichtlektüre und ein erstes Mal hörte ich auch, wie und wo Thoreau das Leben bis ins Mark aufsaugte: In einer Hütte im Wald. In diesem Jahr campte ich mit meinem Cousin in der Wildnis der Berge, fuhr über einen zugefrorenen See in Kanada und verbrachte ein Wochenende in einer Holzhütte an einem Teich, die aber riesig war, Strom und fließendes Wasser hatte und nicht ganz dem Prinzip „Walden“ entsprach.
Wieder zu Hause beschloss ich, den Schwung meines großen Jahres mitnehmend, einen Sommer lang wie Thoreau zu leben.
Ich ging in die Wälder hinter meinem Elternhaus, wo sich eine Hütte befand. In dieser Hütte wollte ich den restlichen Sommer verbringen.
Um die Hütte hinter meinem Elternhaus etwas mit Bedeutung aufzuladen und weil sie zu viele Parallelen mit Henry David Thoreau innehat, sollte ich zu Beginn auch deren Geschichte kurz anreißen. Mein Großvater hatte sie gebaut. Warum also ging mein Großvater in die Wälder? Anfangs ging er in die Wälder, weil er ein Jäger war. Er war aber auch ein Zimmerer, ein Freigeist und ein Sturkopf. Ob er Walden gelesen hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls war ihm die Pflicht zum zivilen Ungehorsam nicht unbekannt. 1940 wurde er eingezogen, um mit den Gebirgsträgern den Blitzkrieg in Frankreich zu unterstützen. Am Heiligabend desselben Jahres ließ er seinen Unmut über den Krieg und vor allem, dass er bei diesem Schmarrn mitmachen musste, freien Lauf. Er wetterte gegen den Hauptschuldigen und kündigte an, dass er, der Jäger und hervorragende Schütze, Hitler erschießen würde, wenn er nur nah genug an ihn herankäme. Das war mehr als ziviler Ungehorsam, das war Wehrkraftzersetzung. Mein Großvater wurde, noch vor Anbruch des Weihnachtsmorgens, denunziert, verhaftet und in einen provisorischen Eiskeller gesperrt, wo er mehrere Winternächte ausharrte. Sein Mitgefangener hatte offene Tuberkulose. Zwar gelang es durch heimische Intervention, dass mein Großvater nicht sofort zum Tode verurteilt wurde. Aber er verließ den Keller als Kranker. Auch bei ihm war die Tuberkulose ausgebrochen.
Da er im Laufe seiner Erkrankung immer wieder in Quarantäne musste, wurde die Hütte im Wald gebaut. 15 Quadratmeter, Bett, Tisch, Ofen. Es hätte Thoreaus Hütte sein können. Allerdings leistete mein Großvater auch gegen die Quarantänepflicht zivilen Widerstand. Er war nur in der Hütte anzutreffen, wenn die Krankenschwester aus der Stadt kam, um nach dem Rechten zu sehen.
Mein Großvater erlebte noch das Ende des Krieges. Den anbrechenden kalten Herbst überlebte er nicht mehr. So wie Henry David Thoreau erlag auch er der Tuberkulose.
50 Jahre später sollte die einstige Quarantänehütte mein eigenes Walden werden. Die Hütte lag zwar nur in einem winzig kleinen Wald, dafür aber auch an einem Bach und war ziemlich exakt so groß wie Thoreaus Hütte. Und ähnlich eingerichtet. Sie hatte einen gusseisernen Holzofen, einen Holztisch und ein Matratzenlager, auf dem man schlafen konnte. Dazu noch ein großes Nirvana-Poster, das vermutlich in der Original Walden-Hütte nicht zu finden war. Ich verbrachte tatsächlich einige Tage in meiner ganz persönlichen Walden-Hütte. Allerdings lag die - und das verwässerte das Experiment gelinde gesagt, ein klein wenig, direkt neben meinem Elternhaus, sprich meinem Zimmer. Und da das Hausen in einer Hütte für einen Achtzehnjährigen recht schnell langweilig wird, holte ich mir von drüben meinen Fernseher und den Videorekorder. Anstatt in der Hütte „Walden“ intensiv zu lesen, schaute ich mit meinen Kumpels „Pulp Fiction“ und „Das Schweigen der Lämmer“ und andere damals angesagte Filme auf Video und Abends tranken wir Bier, Spezi und „Crazy Huhn“ aus Flaschen. Danach ging ich zurück ins Haus. Denn, ganz ehrlich, wer will mit 18 wirklich allein in einer Hütte schlafen?
25 Jahre später: Das Thema Quarantäne und Lungen angreifende Krankheiten ist wieder ähnlich präsent wie zur Zeit meines Großvaters. Auf den Straßen hört man auf Demonstrationen sogar Meinungen, wir befänden uns in ähnlichen Zeiten wie damals. Auch auf Henry David Thoreau wird wieder fleißig verwiesen. Auf seinen Aufruf zum zivilen Ungehorsam. Der Achtzehnjährige, der ich war, hatte immer davon fantasiert, eines Tages für die große, gerechte Sache kämpfen zu dürfen, lautstark, Schilder schwenkend, gegen den ungerechten Staat zu demonstrieren. Tatsächlich war ich die letzten Monate auf der Straße und protestierte stumm und ohne Schilder. Allerdings auf der Gegenseite. Gegen Menschen, die sich auf Thoreau beriefen und zivilen Ungehorsam leisteten. Ich schrieb Texte, in denen ich die Thoreau-Jünger aufforderte, sich an die Regeln des Staates zu halten. Welch eine seltsame Wendung. Was für eine komplizierte Zeit. Was für ein anstrengendes Jahr.
Eine Zeit, in der Thoreaus Nachwirken in sämtlichen Farben schillerte. Eine Zeit, in der der halbe Erdball sich in freiwillige Isolation zurückzog und eine neue Sehnsucht nach der Natur aufkeimte.
Ich erinnerte mich daran, dass Thoreau in seine Hütte ging, um ganz bei sich und der Natur näher zu sein. Aber gleichzeitig suchte er stets die Nähe zu den Menschen. Er ging alle zwei Tage in die Stadt, nach Concord, um die Neuigkeiten zu erfahren. Er traf sich regelmäßig mit seinem Kumpel Ralph Waldo Emerson, der ihm auch das Grundstück am Pond Walden zur Verfügung gestellt hatte.
In den letzten eineinhalb Jahren erging es mir, ebenso wie vielen anderen Menschen auch, ähnlich. Anfangs ging ich ganz bewusst und achtsam in die Isolation, also die eigenen Vier Wände, aber auch viel in die Wälder. Ich war nie alleine, da ich meine Familie um mich herum hatte. Also war es eine Weile umgekehrt, dass ich mich nach der Einsamkeit sehnte. Ich hatte das Privileg, nahe der Natur zu leben und neben meinem Haus am Stadtrand auch ein kleines Grundstück zu besitzen. Eine meiner ersten Handlungen im März letzten Jahres, als alles begann, war es, ein Gemüsebeet anzulegen. Ich baute dort Bohnen, Salat, Radieschen an. Rückblickend waren viele Menschen gezwungen worden, mehr oder weniger freiwillig ihr eigenes, persönliches Walden zu errichten. Die Menschen in der Siedlung gingen viel spazieren, auch in die Wälder. Die Wälder waren teilweise sogar so voll, dass es gar nicht mehr so leicht war, die Einsamkeit zu finden. Am Himmel flogen keine Flugzeuge mehr, die Menschen minimierten ihren Radius auf ein Minimum. Viele arbeiteten nur noch das Notwendigste und einen Teil der Arbeitsausfälle bezahlte sogar der Staat. Henry David Thoreau hätte vermutlich gestaunt, was der Staat in diesen Zeiten alles möglich machte. Aber viele Menschen sahen es eben anders. Sie fühlten sich durch die Verpflichtung einen Mundschutz zu tragen, so stark eingeschränkt, dass sie auf die Straße gingen. Und zivilen Ungehorsam zeigten. Auch das war im Sinne Thoreaus. Wie zeitgemäß ist also Henry David Thoreau heute noch? Die Antwort kann nur zwiespältig ausfallen. So zwiespältig wie die modernen Zeiten ebenso sind.