Das Geheimnis der Grabmühle ist eine Gruselgeschichte, die ich speziell für Kinder geschrieben habe. Inspiriert wurde sie natürlich von wahren Ereignissen. Vor vielen, vielen Jahren lebte ich selbst als junger Mann in der Jugendherberge in Prien am Chiemsee. Dort spazierte ich stundenlang durch den Wald und stieß auf einen geheimnisvollen Ort namens "Grablmühl". Die Bilder für diese Geschichte haben mir damals die Schülerinnen und Schüler der Grundschule Feldkirchen gemalt. Vielen Dank! Vielleicht erkennt der eine oder andere eines seiner Kunstwerke wieder!
Da es eine recht lange Geschichte ist, gibt es ganz unten noch den Link zum Download der Kindergeschichte als PDF-Datei.
Eigentlich hatte ich auch dieses Jahr keine Lust, die Sommerferien am Chiemsee zu verbringen. Ich wäre viel lieber, wie die anderen Kinder, nach Italien ans Meer gefahren.
Seit ich auf der Welt bin, also seit geschlagenen zehn Jahren, zwangen mich meine Eltern Jahr für Jahr, den Sommerurlaub bei Tante Gisela am Chiemsee zu verbringen.
Tante Gisela leitete dort eine kleine Jugendherberge, in der wir günstig wohnen konnten. Meine Eltern haben nie offen darüber gesprochen, aber ich glaube, sie konnten sich einen Urlaub am Meer einfach nicht leisten.
Den Chiemsee nannten sie dort zwar das „Bayerische Meer“, aber das war eine traurige Untertreibung. Alle meine Freunde erzählten nach dem Ende der Sommerferien, welche tollen Abenteuer sie am Meer erlebt hatten. Einige hatten echte Delphine gesehen. Sie erzählten von riesigen Wellen am Meer und kilometerlangen Sandstränden. Und ich? Ich musste jeden Tag Wandern gehen, egal wie das Wetter war. Wenn ich größer bin, schwor ich mir, bleibe ich lieber freiwillig daheim in unserer Wohnung, als noch einmal in Bayern vor Langeweile zu sterben.
Auch dieses Jahr gelang es mir nicht, mich vor dem Urlaub am Chiemsee zu drücken. Ich beschwerte mich lautstark, dass ich die Kinder am Chiemsee nicht mochte. „Ich will lieber nach Italien fahren!“ Aber Mama meinte, dieses Jahr seien sicher wieder andere Kinder da. Und außerdem, fragte sie, was wolle ich denn mit italienischen Kindern? Ich könnte ja kein Italienisch. Ich entgegnete da seien genug deutsche Kinder, mit denen ich spielen könnte. Da lächelte Mama siegesgewiss und antwortete: "Um mit deutschen Kindern zu spielen, brauchst du nicht nach Italien zu fahren."
Also parkte unser Auto nach sechstündiger Fahrt wieder auf dem Parkplatz vor der Jugendherberge. Tante Gisela kam herausgelaufen und begrüßte uns überschwänglich mit vielen Umarmungen und peinlichen Küsschen.
Jeder Urlaub lief jedes Jahr gleich ab. Am Montag spazierten wir zum Hafen und schauten uns die Schiffe und Dampfer an. Danach gingen wir in die Stadt zum Eisessen und am Nachmittag, wenn das Wetter schön war, gingen wir im Chiemsee baden. Am Dienstag fuhren wir raus ins Moor und spazierten geschlagene drei Stunden die Moorwanderung entlang. Am Mittwoch stand Kanu fahren und natürlich wieder Baden am Chiemsee auf dem Programm. "Was machen wir am Donnerstag?", fragte ich meine Mami voller Erwartung und erhielt doch nur wieder die einzig mögliche Antwort: "Wie lange warst du schon nicht mehr im König-Ludwig-Schloss?"
"Genau ein Jahr lang“, murrte ich.
Ich kannte das Schloss in- und auswendig. Es half nichts. Am Donnerstag fuhren wir wie jedes Jahr mit dem Schiff auf die Insel Herrenchiemsee. Hier wollte der als sogenannter „Märchenkönig“ bekannte bayerische König Ludwig II. ein pompöses Schloss bauen. Irgendwann ging ihm aber, blabla, das wusste ich aus den tausenden Führungen, das Geld ausgegangen. Das Schloss wurde nie fertiggestellt. Die Führung machte seit Jahren derselbe Typ, ein angenehm hochdeutsch sprechender, relativ junger Mann mit einer braungebrannten Glatze. Diese Glatze konnte man einfach nicht vergessen. Und jedes Jahr war es ihm nicht zu dumm, im selben Raum dieselben Witze zu machen. Das war echt zum vergessen. Die Führungen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Oder besser: Wie eine blankpolierte Glatze der anderen. Nächstes Jahr würde ich selbst den Fremdenführer spielen, nahm ich mir vor.
Am Freitag hatte ich schließlich genug. Ich flehte meine Eltern an, dass ich einen Tag allein in der Jugendherberge bleiben dürfe. „Ich will nicht auf die Kampenwand!“, rief ich. „Ich will, bitte, bitte, nicht auf die Kampenwand! Ich will lieber schwimmen gehen!“
"Aber wir gehen nach der Wanderung doch sowieso ins Strandbad", antwortete mein Vater mit seiner ruhigen, geduldigen Stimme, die er als Lehrer seit Jahren an seinen Schülern übte.
"Aber wir sind doch nie vor vier wieder heruntergekommen! Da ist das Wasser ja schon wieder kalt“, behauptete ich, weil mir nichts besseres einfiel. „Ich möchte einmal den ganzen Tag schwimmen gehen", jammerte ich weiter. Ich weiß bis heute nicht, wieso, aber wie durch ein Wunder sagte mein Vater plötzlich "Ja! Meinetwegen. Du bist ja inzwischen groß genug.“
Um ehrlich zu sein, hatte ich eigentlich gar keinen Bock, schwimmen zu gehen. Die Kinder im Freibad waren alle doof. Und die, die ich nett fand, sprachen alle in einem so schlimmen bayerischen Dialekt, dass ich sie kaum verstehen konnte. Da hätte ich ja gleich nach Italien zu den italienisch sprechenden Kindern fahren können. Ehe ich wieder nach Mannheim zurückfuhr, wollte ich so gerne ein kleines Abenteuer erleben. Irgendetwas Aufregendes, von dem ich im September in der Schule erzählten konnte. Noch ahnte ich nicht, dass es sogar ein großes, ein sehr großes, unglaubliches Abenteuer werden würde.
Nachdem ich mir von meinen Eltern eine lange Liste von Verhaltensregeln angehört hatte und versprach, mich regelmäßig bei Tante Gisela zu melden, war ich auf einmal allein. Ich konnte es kaum fassen. Meine Eltern waren auf dem Weg zur Kampenwand, Tante Gisela musste in der Küche arbeiten. Und ich konnte tun und lassen, was ich wollte. „Yes!“ Ich stieß einen lauten Jubelschrei aus.
Was also tun mit der überraschenden Freiheit? Kurz entschlossen lieh ich mir eines der Gästeräder der Jugendherberge und fuhr in die Stadt hinunter. Vorbei an der Kirche, über die große Brücke zum Trimm-dich-Pfad, wo ich das Rad an einen Baum kettete. Der Trimm-dich-Pfad führte weit in ein Tal hinein, tief in einen dichten Mischwald. Ein wahrer Abenteuerspielplatz! Meine Eltern nötigten mich erfahrungsgemäß erst am Samstag zu dieser Wanderung. Und auch wenn die Wanderung mit den Eltern immer totlangweilig war, hatte ich mir immer vorgestellt, wie es wohl wäre, hier ganz alleine die Wälder zu durchstreifen. Das ganze Tal und der Wald steckten voller abenteuerlicher Plätze. Hier gab es nicht nur einen Fluss, und viele Wasserfälle, sondern auch einen Wehr, an dem das Wasser gestaut werden konnte. Die meisten Orte kannte ich schon von den bisherigen Wanderungen. Da waren tiefe Schluchten und Abgründe, nahezu undurchdringliches Dickicht, geheimnisvolle Hütten im Wald und natürlich die vielen Geräte des Trimm-dich-fades, die ich viel spannender fand als die Spielgeräte am dummen Kinderspielplatz gegenüber der Jugendherberge. Das einzig Dumme war leider, dass ja immer meine Eltern dabei waren, wenn wir im Tal wanderten und mir nie erlaubten, mich so richtig auszutoben. Meine Eltern waren schlimm, wenn es darum ging, dass ich dreckig werden oder mir gar wehtun könnte. Sobald meine Mutter spitzkriegte, dass ich ein gefährliches Abenteuerspiel spielte, wurde sie käsebleich im Gesicht, als ob sie jeden Moment in Ohnmacht fallen würde und schrie: "Lothar, Lothar! Komm sofort da runter!"
Es war ein wunderschöner Tag. Ich genoss die neue Freiheit in vollen Zügen. Keine nörgelnden Eltern weit und breit. Fröhlich vor mich hin summend spazierte ich neugierig den Bach entlang in Richtung Tal. Kurz vor dem ersten Wehrdamm stand ein gewaltiges Schaufelrad, das letztes Jahr noch nicht dort gewesen war. Es war riesig, mehr als doppelt so hoch wie ich. Für was das wohl einmal benutzt wurde?
"Das ist das alte Mühlrad." Ich fuhr herum. Hinter mir stand ein alter Mann und schaute mich aus einem Gesicht voller Pockennarben an. Er strahlte etwas Unheimliches aus. Konnte er Gedankenlesen? Der alte Mann trug einen zerknitterten grauen Filzhut auf dem Kopf, eine Tabakpfeife steckte zwischen seinen Zähnen. Der Mann kam mir vor, als sei er schon mindestens hundert Jahre alt. Sein schlohweißer Schnurrbart war kunstvoll zu einer krausen Schnecke gezwirbelt. Seine Augen waren nass und milchig. Gekleidet war er in einen dunkelgrünen Janker und einer braunen Lederhose. Erst dachte ich, er sei einer Volksmusiksendung entflohen. Als ich sah, dass er eine Flinte geschultert hatte, war klar, dass es sich um einen Jäger handelte
"Der Bach da", sagte er mit starkem bayerischen Akzent und deutete mit seiner Pfeife auf das Wasser, "das ist der alte Mühlbach. Den hat man vor über hundert Jahren gegraben." Der Jäger holte tief Luft, als strengte ihn jedes Wort an. Ich wagte es nicht, ihn zu unterbrechen und hörte ihm weiter aufmerksam und immer noch ein bisschen ängstlich zu.
"Der Mühlbach fließt durch das Tal durch bis zur alten Mühle." Er hustete dumpf und musterte mich mit funkelnden Augen: "Der alte Müller war zu seinen Lebzeiten der reichste Mann der ganzen Stadt und ein begehrter Junggesell", fuhr der Alte fort zu erzählen. Mir schwante, dass dies eine längere Geschichte würde. Ich öffnete nur leicht den Mund, um ein entschuldigendes Abschiedswort zu sagen, da herrschte er mich an: "Bub, hör mir lieber zu, wenn du sicher und gefahrlos durch das Tal strawanzen willst."
Ich wagte es nicht, ihm zu widersprechen, senkte den Kopf und hörte seinen Ausführungen zu.
"Die Madeln waren alle hinter ihm her. Ein fescher Bursch von nicht mal dreißig Jahren. Doch der Müller war schon Witwer. Seine Frau, die er über alles geliebt hatte, war im Kindbett gestorben. Der Müller kümmerte sich fortan ganz allein um seine einzige Tochter. Alle nannten sie die ‚Rote Helena‘, weil sie feuerrotes Haar hatte. Die Leute im Dorf tratschten über den Müller und warum er sich nie eine neue Frau gesucht hatte. Es hieß, die Mühle sei verflucht und die roten Haare der Roten Helena ein Zeichen des Teufels. In Wahrheit litt der Müller an gebrochenem Herzen. Er ließ außer seiner Tochter niemanden mehr in sein Leben hinein, lebte zurückgezogen in seiner Mühle und galt recht bald als störrischer Eigenbrötler. Die Mühle lief weiterhin gut, angetrieben vom kräftigen Mühlrad, das du hier siehst.“ Der alte Mann deutete auf das Mühlrad.
Die tränenden, blutunterlaufenen Augen des Mannes sahen mich durchdringend an. Ich hatte keine Ahnung, warum er mir diese Geschichte erzählte. Aber sie war nicht uninteressant.
„Wie ging die Geschichte aus?“, fragte ich deshalb.
Der Blick des alten Mannes verdüsterte sich. "Eines Tages geschah ein schreckliches Unglück", fuhr er fort, "Eine Schaufel war im Mühlrad abgebrochen und der Müller versuchte, sie zu reparieren. Dabei verfing er sich so unglücklich im Mühlrad und war machtlos gegen die Gewalt des Wassers. Als sie den leblosen Körper vom Mühlrad befreien konnten, war er längst kalt und steif.“
Erschrocken schaute ich den Jäger an. Ich wollte fragen, was aus der Mühle und der Tochter geworden sei. Da hielt er sich, als hätte er erneut meine Gedanken gelesen, den Zeigefinger an den Mund und erzählte weiter: "Im Dorf war man nun endgültig überzeugt davon, dass der Müller mit dem Teufel im Bunde war und für Reichtum und Schönheit seiner Frau und Tochter seine Seele verkauft hätte. Die Mühle galt seither als verflucht. Niemand wagte es, sich der armen roten Helena, die damals noch beinahe ein Kind war, anzunehmen, geschweige denn, die Mühle zu übernehmen. Auch der große Goldschatz des reichen Müllers wurde nie entdeckt. Man munkelte, er sei in einem geheimen Zimmer im Keller der Mühle vergraben, geschützt von der rastlos wandelnden Seele des toten Müllers. Einige Wochen hauste die Rote Helena alleine in der Mühle. Die Pfarrersköchin brachte ihr ab und an Essen vorbei, damit das Kind nicht verhungerte. Kurz darauf brannte aus bis heute ungeklärten Umständen die Werkstatt und das Wohnhaus des Steinmetzes am Friedhof nieder. Der Steinmetz war ein alter Freund des Müllers gewesen. Und da er nun keine Werkstatt mehr hatte, nahm er sich des Mädchens an und übernahm in ihrem Namen die Mühle. Die abgelegene Mühle wurde vom Steinmetz so umgebaut, dass sie anstatt Getreide zu mahlen, nun die marmornen Grabsteine glatt schliff. Bis auf den Fuhrmann, der Woche für Woche die Grabsteine lieferte und wieder abholte, wagte sich kein Sterblicher mehr in den Wald. Die alte Getreidemühle nannte jeder fortan nur noch Grabmühle."
Der alte Mann holte tief Luft und überlegte angestrengt, an welcher Stelle der Geschichte er wohl steckengeblieben war. Schließlich fuhr er fort: "Ach ja, die rote Helena war Jahre lang nicht mehr im Dorf gesehen worden. Man hätte sich ohnehin vor ihr gefürchtet. Immerhin wuchs sie in der verfluchten Grabmühle auf und wurde von einem Totengräber großgezogen. Nur noch einmal, nämlich bei der Beerdigung des Totengräbers, der noch vor dem Greisenalter dahinschied, sah man sie im Ort. Sie war damals ein recht hübsches, etwa sechzehnjähriges Mädchen, weinend am Grab stehend. Sie war die Einzige, die weinte. Die meisten im Dorf dachten, dass mit dem Tod des Totengräbers wohl der Tod selbst gestorben war und waren erleichtert. Ein rechter Schmarrn, natürlich. Die Mühle, die seitdem nur noch als Grabmühle bekannt war, wurde noch am selben Tag in den Besitz der roten Helena überschrieben, die nun alt genug war, um für sich selbst zu sorgen, wie man dachte. Die meisten im Dorf mieden die rote Helena mit ihrem feuerroten Haar, als ob sie die Pest hätte. Man fürchtete sich vor ihr, da man vermutete, dass auch sie mit dem Teufel im Bunde stand, so rot wie ihr Haar war. Helena spürte die abgrundtiefe Abneigung gegen sie und schwor beim Leichenschmaus in der Dorfwirtschaft Punkt Mitternacht, dass sie sich eines Tages für die nette Gastfreundlichkeit bedanken würde. Die Worte "nette Gastfreundlichkeit" sprach sie dabei so verächtlich aus, dass es wie ein Fluch klang. Was in der folgenden Nacht geschah, daran konnte sich keine exakt erinnern. Der Leichenschmaus wurde traditionsgemäß feucht fröhlich gefeiert und niemand scherte sich darum, das Geld des toten Totengräbers in vollen Zügen zu verprassen. Erst am nächsten Morgen bemerkte man, dass nicht nur die rote Helena, sondern auch Alfred, der jüngste Sohn des Wirts spurlos verschwunden war."
Der Alte machte eine bedeutungsschwangere Pause und schloss schließlich seine Erzählung: "Die alte Grabmühle, die verkam schließlich immer mehr. Gestrüpp überwucherte das Wohnhaus, das Mühlrad drehte sich schon lange nicht mehr und da man auch von der roten Helena nichts mehr hörte und sah, nahm man an, dass sie entweder mit dem Alfred durchgebrannt, oder längst tot war."
Der Mann zückte, ohne ein weiteres Wort zu sagen, seinen Hut, drehte sich um und ging von dannen. Ich schüttelte verwirrt den Kopf, rieb mir die Augen und wollte ihm noch ein "Auf Wiedersehen!" hinterher rufen. Doch der alte Mann war verschwunden, als hätte er nie existiert. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken und ich setzte meine Wanderung fort.
Kaum war ich einige Meter weiter spaziert, kitzelten die Sonnenstrahlen meine Nase und der Schrecken über den alten Mann war rasch so schnell verschwunden wie der Mann selbst. Ich hüpfte frohen Mutes die Treppen zum großen Hügel hinauf. Dort oben bot sich mir ein wunderschöner Ausblick auf die Berge auf der einen Seite und auf der anderen Seite hinunter in das Tal, durch das der Mühlbach floss. Hier auf der Anhöhe waren zwei sonnenbeschienene Bänke. Auf der einen Bank saß bereits ein Herr, deshalb nahm ich auf der anderen Platz.
"Grüß Gott", sagte der Fremde, der etwa im Alter meines Vaters zu sein schien. Ich grüßte zurück, hatte aber eigentlich keine Lust mehr auf Unterhaltungen jeglicher Art. Zu sehr war ich noch geschockt von der Geistergeschichte des alten Mannes.
"Bist du hier aus der Gegend?", fragte mich der Mann in angenehmen Hochdeutsch. Ich schüttelte den Kopf.
"Macht ja nichts", sagte er. "Interessierst du dich für Geschichte?"
"Ein bisschen", gab ich zu. In Heimat - und Sachkunde war ich der Klassenbeste.
"Ich bin Historiker von Beruf", begann der Herr zu erzählen, ohne dass ich ihn gefragt hätte. "Ich bin der erste Vorstand im historischen Verein im Ort hier. Wenn du also irgendwelche Fragen zur Kirche, zur alten Schule, oder vielleicht dem Schloss hast, frag einfach", ermunterte mich der Historiker. Er sah eigentlich ganz nett aus, er trug einen lustigen altmodischen Zwicker auf der Nase und ein kariertes Sakko. Ich wollte fast schon sagen, dass mich die ollen Gebäude in der Stadt ebenso wenig interessierten wie das Schloss am Chiemsee. Da fiel mir die Mühlengeschichte ein und ich wollte dem Wahrheitsgehalt der Geisterstory, die mir soeben erzählt worden war,auf den Grund gehen. "Ich interessiere mich in der Tat außerordentlich für die Historie der Grabmühle", sagte ich, räusperte mich und tat so, als ob ich selbst ein Heimatforscher wäre, der bereits alles erdenklich wichtige über die Grabmühle wisse.
"Das ist ja interessant. Die Grabmühle ist also doch nicht ganz in Vergessenheit geraten", murmelte der Historiker überrascht und ich meinte, einen bedrohlichen Unterton in der Stimme mitschwingen zu hören.
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"Nun gut", sagte er. "Ich will dir ein klein wenig von der Grabmühle erzählen.
"Was ist geschehen, nachdem die rote Helena verschwunden ist?", platzte es aus mir heraus.
Der Herr runzelte die Stirn: "Schau an, schau an, der Junge ist tatsächlich bewandert in unserer Lokalgeschichte. Leider bist du aber nicht ganz richtig informiert: Die Helena ist nie verschwunden."
"Was?", entfuhr es mir.
"Die rote Helena lebte noch jahrelang mit einem gewissen Alfred in wilder Ehe zusammen. Das war damals, als die katholische Kirche noch die mächtigste Institution in Bayern war, eine Todsünde. Im Dorf hat man die Helena und den Alfred einfach für tot erklärt. Man wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben."
"Weiß man, was aus den beiden geworden ist?"
"Nicht genau. Man munkelt, dass die rote Helena in späten Jahren dem Alfred noch mindestens ein Kind gebar und der Alfred bei einem tragischen Jagdunfall erschossen wurde. Es waren harte Zeiten damals. Nicht einmal im Dorf gab es genug zu Essen und die zwei mussten ihre Nahrung durch Wildern selbst fangen, was streng verboten war. Und dabei wurde der Alfred von einem Jäger erwischt, der ihn, sich selbst in Todesgefahr wähnend, in vermeintlicher Notwehr erschoss."
Mit Grausen musste ich an den Jäger denken, mit dem ich gerade gesprochen hatte. Ob er der Mörder vom Alfred war? Wieso hatte er nicht erwähnt, was aus dem Wirtssohn geworden war?
Der Mann blickte nachdenklich in die Ferne und fuhr fort: "Seitdem galt es im Dorf, das inzwischen zu einer kleinen Stadt herangewachsen war, als erwiesen, dass ein Fluch auf der Mühle lag. Nur einige Jugendlichen, bei denen es als Mutprobe galt, sich der Grabmühle zu nähern, wagten sich noch in den Wald. Die meisten von ihnen kehrten völlig verängstigt wieder zurück. Sie hätten den rothaarigen Geist der jungen Helena gesehen, erzählten die einen. Andere hätten schon von Weitem sonderbares Gebrüll und gruselige Geräusche aus der Mühle gehört. Keiner wagte sich näher als wenige Meter an die Mühle heran. Alle machten sie sofort kehrt und rannten panisch aus dem Wald. Selbst in unserer heutigen Zeit ist mir niemanden bekannt, der tatsächlich in der Mühle gewesen wäre. Ich selbst war eines Nachts Zeuge der unmenschlichen wehklagenden Geräusche, die aus dem Inneren der Mühle durch das Holz hallten."
Die Augen des Historikers flackerten nervös und wurden wässrig. Der Mann kramte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich lautstark. Der Blick des Heimatforschers wurde so finster, dass ich nicht undankbar war, als er ruckartig aufsprang und sich verabschiedete. Als der Mann aus meinem Sichtfeld verschwunden war, setzte auch ich in entgegengesetzter Richtung meine Wanderung fort.
Rechts vom Weg ging es steil in das Tal hinab. Man hatte eine schöne Aussicht und ich konnte weit in den Wald hinein blicken, sah den Mühlbach, der sich durch das Tal zwänge. Irgendwo dort hinten musste diese Grabmühle sein, dachte ich und nahm mir vor, mich lieber fern zu halten.
Nach einem guten Stück ging der Weg wieder bergab in das Tal. Ich machte eine kurze Pause und probierte eines der Trimm-dich-Geräte aus, als eine Frau Mann, etwa so alt wie Tante Gisela, plötzlich vor mir stand. Sie grüßte freundlich und fragte, was ich so ganz allein im Wald machte.
"Ich bin alt genug," entgegnete ich und verschränkte die Arme. Die Frau lachte fröhlich und sagte: "Pass gut auf dich auf, vor zehn Jahren ist in Salzburg einmal ein ganzer Schwung von Tieren ausgekommen. Das eine oder andere Tier soll es bis zum Chiemsee hierher geschafft haben. Also, sei vorsichtig, nicht, dass du einem Löwen über den Weg läufst!"
Obwohl offensichtlich war, dass die Frau einen an an der Waffel hatte, fragte ich sie, ob sie mir mehr von der Geschichte erzählen könnte. „Die. Geschichte ist doch erfunden, oder?“
"Nein, sie ist wahr“, antwortete sie. "Es stand damals in sämtlichen Zeitungen. Ein Krokodil haben sie aus der Salzach rausgefischt und einer der Schimpansen wurde tatsächlich hier im Tal wieder eingefangen. Die Berichte sind sicher noch im Internet, kannst du alles nachlesen", bekräftigte sie ihre Geschichte. Ich schüttelte den Kopf und lachte: "Ihnen glaub ich kein Wort, aber danke für die lustige Geschichte."
Die Frau zuckte die Schultern und ging weiter. Und auch ich setzte meine Abenteuerreise fort.
Es dauerte nicht lange und ich gelangte wieder an den Fluss. Von Weitem konnte ich auch den Mühlbach sehen, wie er in einer Schneise tiefer in den dichten Wald hinein floss. Ich spazierte gut gelaunt weiter, bis ich an der nächsten Kreuzung vor einem Wegweiser stand: "Ortsmitte - 3 km, Tal - 1 km, Grabmühle 2km". Das Schild "Grabmühle" deutete in Richtung eines verwilderten Schotterweges, der neben dem Mühlbach in das dunkle Schwarz des Fichtenwaldes hineinführte. Eine innere Stimme flüsterte: "Du wolltest doch mutig sein, du wolltest doch ein Abenteuer erleben. Nun geh schon!" Ich schauderte allein schon bei dem Gedanken daran, dieses unbekannte Dickicht zu betreten, geschweige denn, nach einer Geistermühle zu suchen. "Alle werden von Italien und zwei Meter hohen Wellen erzählen. Und du wirst stumm dasitzen und dir ihre Abenteuergeschichten anhören", flüsterte die Stimme. Da biss ich die Zähne zusammen und brüllte so laut, dass man es im ganzen Tal hören konnte: "Ist ja schon gut, ich geh zur Mühle!"
Nun gab es kein Zurück mehr. Die innere Stimme verstummte wieder und verhielt sich solange still, solange Stück für Stück den seit langem nicht instandgehaltenen Feldweg Richtung Mühle folgte.
Der Weg war voller dornigem Gestrüpp und obwohl es helllichter Tag war, drangen nur wenige Lichtstrahlen durch das dichte Dach der Fichtenwipfel. Der Weg war schwer passierbar und immer wieder verhedderten sich meine Turnschuhe in den Dornen. Hier schien seit Jahren niemand gewesen zu sein.
Im Frühling war ich einmal mit meiner Schulklasse im Dunkeln durch einen Wald spazierengegangen. Die Schatten der Bäume sahen in der Dunkelheit aus wie riesige schwarze Gespenster, die mit ihren langen Fingern nach mir greifen wollten. Beim kleinsten Geräusch war ich zusammengezuckt und vermutete hinter jeder Ecke einen Zombie oder einen Außerirdischen.
Doch diese Nachtwanderung war nichts im Vergleich zu der Abenteuerreise, auf der ich mich nun gerade befand. Vor was ich mich im Moment am meisten fürchtete, das waren die Geister vom toten Müller, vom toten Alfred und auch der von der toten Helena. Denn es war ganz ausgeschlossen, dass nach so langer Zeit noch jemand in der Mühle am Leben war. Ich nahm all meinen Mut zusammen und setzte weiter einen Fuß vor den anderen, so sehr meine Knie auch weich wurden. Schritt für Schritt drang ich tiefer ich in den Wald ein. Das Gestrüpp wurde dichter und aus der Ferne war eine Gruppe Raben zu hören, die warnende Rufe durch den Wald krähten. So sehr es mir das Herz pochen ließ, wurde ich gleichzeitig wie von einem magischen Magnet immer weiter von der Mühle angezogen. Am Wegrand plätscherte friedlich der Mühlbach, der allerdings mit jedem zurückgelegten Meter immer schlammiger und dunkler zu werden schien. Zumindest wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ich wusste nur noch nicht, ob das gut oder schlecht war.
Und tatsächlich. Nach einer halben Stunde baute sich die Mühle vor mir auf. Träge und müde lag sie im Dickicht, wie ein altes Raubtier, das sich zum Schlafen gelegt hatte. Das war sie also, die Grabmühle.
Zu meiner Erleichterung war es still, nichts rührte sich. Nur die Raben krähten immer aufgeregter. Ein Mühlrad konnte ich keines entdecken. Klar, fiel mir ein, das stand ja jetzt beim Trimm-dich-Pfad wie ein altes Museumsstück. Die Wände der Mühle waren schmutzig grau und der Mörtel bröckelte nach allen Seiten herab. Auf dem Dach sah ich blassrote Dachziegel, auf denen das Moos wucherte. Ein Storch hatte ein Nest auf dem Schornstein gebaut. Die Mühle war umschlossen von dicht wachsenden Büschen und Sträuchern. So bedrohlich, wie ich sie mir vorgestellt hatte, sah die Mühle in der durch die Baumwipfel brechenden Mittagssonne gar nicht aus. Ich fasste Mut und wollte mich der Eingangstüre nähern, um ihr Geheimnis zu erforschen, da erschauderte ich. Ein Schrei erklang aus dem Inneren der Mühle. Ich wich vor Schreck mehrere Schritte zurück, stolperte und fiel auf den Hosenboden. Es war ein buchstäblich markerschütternder Schrei. Unbeschreiblich, unmenschlich. Es hörte sich an wie ein jammerndes Tröten, fast so, als sei ein Drache in der Mühle gefangen. Aber es war weniger der schauerliche Klang, der mich so schockierte. Es war die Lautstärke. Noch Sekunden später hörte ich den Schrei im Tal wiederhallen. Ich stieß selbst einen erschrockenen Schrei aus und wollte, so schnell es ging, aufstehen und wegrennen. Doch, als ich mich aufgerappelt hatte, stand jemand hinter mir. Ich schrie ein zweites Mal, diesmal deutlich schriller. Es war ein Mädchen. Ich blickte in tiefgrüne Augen und starrte auf feuerrotes Haar. Eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper. Das warder Geist der roten Helena! Genauso hatte der alte Jäger die rote Helena beschrieben. Ich fuhr herum, um in die entgegengesetzte Richtung wegzulaufen. Doch auch der Weg zurück war versperrt. Von ihr! Der Geist der Roten Helena stand auf einmal mitten auf dem Weg zurück in den Wald. Als ich mich nach einem Fluchtweg umsah, stand auch auf dem Steg über den MÜhlbach der Geist der Roten Helena. Sie war einfach überall! Ich hatte keine Chance.
Ich drehte mich hin und her und merkte erst jetzt, dass es nicht ein einziger Geist war, sondern drei Rote Helenas, die nun langsam auf mich zukamen. Das war es, mein letztes Stündlein hatte geschlagen. Ich kauerte mich auf den Boden und flehte: “Bitte, tut mir nichts!”
Da begannen die drei Geister zu kichern, als wären sie ganz normale Mädchen. "Was bist denn du für einer?", fragte die eine.
Ich sah sie verdutzt an. Sie sah gar nicht böswillig aus, sondern eigentlich ganz nett. "Öh, ich bin der Lothar", stotterte ich verwirrt.
"Du bist der erste, der sich bis vor unsere Haustür getraut hat. Magst du auch hereinkommen?", fragte das Mädchen. Ich war immer noch sicher, dass es sich um eine Falle handelte und schüttelte den Kopf: "Ihr wollt mich auffressen, oder mein Blut aussaugen. Ich weiß, dass ein Fluch auf dieser Mühle liegt. Ich komm sicher nicht rein!"
Die Mädchen schauten sich grinsend an und lachten. "Wir und verflucht? Mädels, habt ihr gewusst, dass wir verflucht sind?"
Ich sah sie abschätzend an und redete Klartext: "Seid ihr nicht die Geister der roten Helena?", fragte ich.
Da wurden die Drei plötzlich ganz still und sahen ein bisschen traurig aus. Ich biss mir auf die Zunge. Das hätte ich nicht fragen sollen. Ich entschuldigte mich vielmals für meine Unhöflichkeit. "Ist schon gut”, sagte die scheinbar älteste der Drei. "Unsere Omi Helena ist leider letztes Jahr gestorben. Sie war schon sehr alt."
"Oh, das tut mir leid“, sagte ich und meinte es aufrichtig. „Wenn die rote Helena eure Oma war, wer sind dann eure Eltern?“ fragte ich.
"Ach, meine Mami ist die Tochter von der roten Helena, wie du sie nennst. Für mich hieß sie einfach Omi. Unsere Eltern haben geheiratet, als Mama mit uns schwanger war. Wir sind, wie du dir denken kannst, Drillinge.“
Es blieb die Frage, warum die Mädchen mutterseelenallein in dieser Mühle waren. Deshalb fragte ich vorsichtig: „Und wann sind eure Eltern gestorben?“
Da lachten die Drei wieder: „Nur weil man im Dorf erzählt, dass ein Fluch auf der Mühle liegt, heißt, dass jeder, der hier lebt, innerhalb von fünf Minuten tot ist. Die sind untertags in Rosenheim. Sie arbeiten für eine große Firma.“
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Aber wie habt ihr es geschafft, dass euch nie jemand im Ort zu Gesicht bekommen hat?“
Da leuchteten die Augen der rothaarigen Mädchen wieder. “Hättest du Lust, dich in einem Dorf blicken zu lassen, in dem seit Jahrzehnten erzählt wird, deine Oma sei eine Hexe?” Alle drei Mädchen schüttelten gleichzeitig den Kopf. “Es ist bei uns fast schon eine Familientradition, dass wir alles unternehmen, um nie wieder einem dieser bornierten Leute begegnen zu müssen.”
“Ja”, ergänzte die andere: „Unsere Eltern kaufen meistens in Rosenheim ein. Und Zweimal im Monat kommt der Eismann vorbei und verkauft Tiefkühlwaren..."
"Was?", fragte ich verwundert. "Wo nehmt ihr denn den Strom für eine Tiefkühltruhe her? Und wie macht ihr das Essen warm? Und wie kommt der Eismann durch das Dickicht hierher?"
Die Mädchen grinsten. “Der neugierige Junge hat viele Fragen! Du wohl auch, wir sind so Findelkinder, die sich ihr Essen selbst jagen und dann am Lagerfeuer grillen müssen.” Sie lachten wieder. “Nein, nein, wir leben ganz normal, wie jede andere Familie auch. Hinterm Haus haben wir eine Turbine, die das Mühlbachwasser in Strom umwandelt."
"Cool!", musste ich zugeben.
"Wir haben so ziemlich alles, was du wohl auch hast: Tiefkühltruhe, einen Holzofen zum Kochen und eine Mikrowelle. Einen Fernseher haben wir keinen. Brauchen wir auch nicht."
Ich war erstaunt und konnte meinen Mund vor lauter Verwunderung gar nicht mehr zu bekommen. Die Mädchen hatten sichtlich ihren Spaß über mein Staunen. "Geht ihr denn in die Schule?"
"Klar", sagten sie kichernd.
"Wieso hat euch dann nie jemand vom Dorf gesehen?", fragte ich verwundert, „Ihr habt es echt geschafft, dass die im Ort immer noch glauben, dass es hier spukt!“
"Das ist auch so gewollt. Unsere Oma hatte schon damals für unsere Mama einen Gastantrag für eine Schule in Rosenheim gestellt. Und auch wir gehen dort in die Schule.”
“Und wie kommt ihr dort hin?”
“Auch das ist gar nicht so kompliziert. Oma Helena hat nach den Vorfällen damals hinter der Mühle einen Weg zur nächsten Straße anlegen lassen. Klar, wir müssen immer einen Kilometer zu Fuß gehen. Aber da ist eine Bushaltestelle und wir haben nicht weit eine Garage gemietet, wo unser Auto steht.” Dort ist ein kleines Dorf und da wohnen auch unsere Freunde. Diese ganzen Geistergeschichten erzählt man sich nur am Chiemsee. Auf der anderen Seite des Dorfes können wir ganz normale Kinder sein. Ob du es glaubst oder nicht, es macht keinen Spaß, für einen Geist gehalten zu werden.“
Ich nickte. "Ich hatte euch, ehrlich gesagt, auch für Geister gehalten.”
"Ja, ja. Das ist schon lustig. Für die Bewohner aus dem einen Dorf sind wir Gespenster, für die anderen sind wir die lustigen Drillinge von der Grabmühle."
Plötzlich hallte wieder der markerschütternde Schrei aus der Mühle. Ich fuhr zusammen. “Aber was ist das für ein schreckliches Geschrei?", fragte ich. “Wenn ihr mich nicht aufgeklärt hätte, wäre ich überzeugt, das ist die heulende rote Helena.” Einen Moment war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob es sich nicht doch um Gespenster handelte und sie mich in eine Falle locken wollten.
"Du willst unseren Geist sehen?", fragte eine der Drillinge und ich zögerte.
“Du hast Angst!”, zogen sie mich auf.
“Hab ich nicht!”
Da packten mich alle Drei am Ärmel und begleiteten mich in die Mühle hinein. Nun konnte ich meine Neugier nicht mehr verbergen. Was würde das Geheimnis der Grabmühle sein?
Innen drin sah die Mühle aus wie jede andere Wohnung auch.
"Ich weiß, außen gehört das Haus renoviert. Aber innen ist es richtig gemütlich," sagten sie. Sie führten mich durch den Eingangsflur zur Kellertreppe. Immer wieder hörte man das laute Dröhnen. Ein bisschen fürchtete ich mich nun doch, es war finster im Keller und roch modrig. Aber die Drillinge redeten mir gut zu, es würde mit Sicherheit kein Geist in ihrem Keller hausen, dafür etwas anderes, das nicht weniger erstaunlich sei.
Schließlich standen wir vor der Tür hinter der das Geräusch zu hören war.
"Trau dich!", munterten sie mich auf. Ich nahm all meinen Mut zusammen und öffnete die Tür. Ein starker Geruch nach Stroh, Heu, ganz wie aus einem Kuhstall schlug mir entgegen. Neugierig lugte ich hinein. Es war ein wenig schummrig und meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das fahle Licht gewohnten.
Erst sah ich nicht, was sich im Keller für eine Wesen befand. Ich stand vor einer riesigen grauen Wand. Erst, als sich die Wand bewegte und laut trötete, begann ich zu begreifen, um was es sich hier handelte.
Ein ausgewachsener Elefant stand hier mitten im Keller. Der ganze Kellerraum war voller Stroh und Erdnusschalen. Der Elefant drehte sich langsam um und schaute mich neugierig an.
"Das ist die dicke Berta”, sagten die Drillinge.
Der Elefant trompetete, wie zur Begrüßung.
Ich starrte das riesige Tier fassungslos an. "Wie in aller Welt ist ein Elefant in euren Keller gekommen?" fragte ich und schaute zurück auf die Kellertür, die viel zu schmal für einen ausgewachsenen Elefanten war.
“Vor vielen Jahren stand eines Tages ein Babyelefant vor unserer Mühle”, erzählten die Zwillinge. “Klar, das klingt fantastisch. Aber es ist wirklich so gewesen. Unsere Eltern waren genauso überrascht wie wir. Erst duschte sich der kleine Elefant im Mühlbach, dann trottete er, nach Essen bettelnd, vor der Mühle auf und ab. Wir haben sie gefüttert und auf den Namen Dicke Berta getauft.”
Die Drillinge nickten. "Wir haben eine Weile gewartet, ob jemand nach dem Elefant suchte. Ihn ins Tierheim zu bringen, war keine Option. Irgendwann hat Mami hat uns erlaubt, die Dicke Berta zu behalten. Sie tollte den ganzen Sommer über im Wald umher und badete gerne im Mühlbach. Aber im Winter wurde es zu kalt und, da wir keinen anderen freien Platz hatten, wurde dieses Kellerzimmer zum Stall umfunktioniert."
"Genau. Und als der Frühling wieder kam, war die kleine Berta so gewachsen, dass sie nicht mehr durch die Türe passte.”
“Oh nein. Das ist ja schrecklich!”, entfuhr es mir.
Die Drillinge nickten. “Wir haben sogar kurz darüber nachgedacht, die Mauer zu durchbrechen. Aber Berta war so groß, da hätten wir gleich die ganze Mühle abreißen müssen.”
Die Drillinge seufzten. “Seitdem muss die Arme im Keller leben. Sie tut mir so leid. Am schlimmsten ist es für sie in der Nacht. Wenn sie nicht schlafen kann, trompetet sie traurig vor sich hin. Es ist herzzerreißend."
Langsam begann ich Stück für Stück all die Geschichten und Legenden zu verstehen, die sich im Dorf im Laufe der Jahre gebildet hatten. Die Berta war wahrscheinlich eines der Tiere, die aus dem Zoo in Salzburg entkommen waren. Und die gruseligen Schreie aus der Mühle, das war nicht der Geist der Roten Helena, sondern das Trompeten der Dicken Berta. Die Eindrücke, die auf mich einstürmten, waren gewaltig.
Ich verbrachte den ganzen Nachmittag bei den Drillingen und freundete mich mit ihnen an. Die Grabmühle selbst war wie ein riesiger Abenteuerspielplatz und es machte riesigen Spaß, sie gemeinsam mit den Mädchen zu erkunden. Als es Abend wurde, musste ich mich schweren Herzens verabschieden. Als ich am Abend zurück in die Jugendherberge kam, flehte ich meine Eltern an, den Urlaub noch um ein paar Tage zu verlängern.
Die kommende Woche mit den Drillingen und der dicken Berta der Grabmühle sollten zur schönsten Urlaubswoche meines Lebens werden.
Und als ich nach den Sommerferien in der Schule einen Aufsatz über mein schönstes Urlaubserlebnis schrieb, wurde es der längste Aufsatz meines Lebens. Ich bekam eine 2+ und die Lehrerin sagte: “Lothar, das war der beste Aufsatz, den du jemals geschrieben hast. Wenn dir am Ende der Geschichte nicht die Fantasie mit dir durchgegangen wäre und du nicht so viel geflunkert hättest, dann hättest du sogar eine Eins bekommen!”
Ich wollte erst protestieren, nahm den Aufsatz mit der Zwei entgegen und beschloss, dass es mein Geheimnis bleiben sollte, dass die ganze Geschichte von den Drillingen und der Roten Berta in der Grabmühle wahr war.