Das deutsche Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, wird alle fünf Jahre von der Bundesversammlung gewählt. Bei den Wahlen 1954 und 1981 verfolgten die Menschen in der Region die Wahlen mit besonders großem Interesse. 1954 waren gleich zwei Vertreter des damaligen Landkreis Laufen zur Bundesversammlung eingeladen: Der Laufener Landtagsabgeordnete Hans Bals und der Kirchanschöringer Sebastian Straßer. 1981 war es gar die Kandidatin, die viele im Dorf noch persönlich gekannt hatten. Luise Rinser, nominiert von den Grünen, hatte von 1942 bis 1948 in Kirchanschöring gelebt.
Sebastian Straßer, der Onkel des späteren Bürgermeisters Hans Straßer, war 1954 eine der wichtigsten Persönlichkeiten der SPD in der Region. Er hätte eigentlich Priester werden sollen, entschied sich aber für ein Studium am Holztechnikum in Rosenheim. Dort wurde er nicht nur für seinen späteren Beruf ausgebildet, sondern fand zwei weitere Berufungen. Die eine war seine Begeisterung für die noch junge Technik der Fotografie. Er war um 1918 einer der ersten Fotografen in Kirchanschöring. Zudem kam er mit den politischen Ideen der sozialistischen SPD in Berührung. Er war während der Zeit der Weimarer Republik ein überzeugter SPD’ler. Seine politische Gesinnung und seine Parteizugehörigkeit wurden für ihn im Dritten Reich zu einer realen Gefahr. Sebastian Straßer gelang es aber, trotz vieler Demütigungen, die Hitler-Jahre aufrecht zu überstehen. Nach Zusammenbruch des Dritten Reiches war es Sebastian Straßer, der die SPD Kirchanschöring neu gründete. Er war seitdem durchgehend im Gemeinderat und teilweise zweiter Bürgermeister. Sein unermüdlicher Einsatz für die SPD wurde 1954 mit der Einladung in die Bundesversammlung gekrönt. Diese Ehre teilte er sich mit dem Laufener Landtagsabgeordneten Hans Bals. Dieser war ein Kriegsversehrter und hatte, wie Straßer, die SPD-Arbeit im Landkreis Laufen maßgeblich geprägt.
Politisch war die Wahl eine reine Formsache. Der amtierende Bundespräsident Theodor Heuss war im Volk beliebt und hatte die Mehrheit der Parteien hinter sich. Außergewöhnlich war allerdings der Ort der Bundesversammlung. War bei der ersten Wahl 1949 noch die neue Hauptstadt Bonn der Ort der Bundesversammlung, war es nun das geteilte Berlin. Hinter dieser Entscheidung steckte politischer Sprengstoff, da die russischen Besatzer nicht mit der Symbolik einverstanden sein konnten, dass das deutsche Staatsoberhaupt in West-Berlin gewählt wurde. Sebastian Straßer hatte ein anderes Problem: Er hatte nichts Passendes für diesen Höhepunkt seiner politischen Karriere anzuziehen. Er fuhr extra nach Salzburg, ums ich komplett neu einkleiden zu lassen. Gemeinsam mit seinem SPD-Kollegen aus Laufen, Hans Bals, fuhr er schließlich nach Berlin. Bis heute erzählt man sich in Kirchanschöring schmunzelnd die Geschichte Straßers Malheur in Berlin: Kurz vor der feierlichen Wahl schlug er sich die Nase blutig, weil er mit einem Fremden zusammengestoßen war. Da er den feinen Herrn in Anzug mit Hut nicht erkannt hatte, war er gegen sein eigenes Spiegelbild geprallt.
Auf der Bundesversammlung 1954 wurde Theodor Heuss mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Kein Bundespräsident erhielt je wieder eine so hohe Zustimmung von der Bundesversammlung.
Sebastian Straßer war noch als Gemeinderatsmitglied politisch aktiv, ehe ihn ein Schlaganfall 1962 zwang, sich zurückzuziehen. Er wurde im selben Jahr zum Ehrenbürger Kirchanschörings ernannt. Sebastian Straßer starb am 15.10.1969.
Die älteren Kirchanschöringer dürften 1981 nicht schlecht gestaunt haben, als sie hörten, wer als Gegenkandidat gegen Bundespräsident Richard von Weizsäcker antreten würde. Luise Rinser war eine der damals erfolgreichsten Schriftstellerinnen und eine streitbare, umstrittene Persönlichkeit. Während der Kriegsjahre hatte sie ein kleines Häuschen in Voglaich bezogen und bis 1948 dort gelebt. Vermutlich sind sich auch Sebastian Straßer und Luise Rinser begegnet. Im Haus Straßers wurde unter großer Gefahr Feindsender gehört und Luise Rinser ließ sich von den neuesten Nachrichten regelmäßig unterrichten.
Das Verhältnis von Kirchanschöring und Luise Rinser war seit je her schwierig. Die Schriftstellerin wurde 1944 in Kirchanschöring denunziert und saß mehrere Monate wegen Wehrkraftzersetzung in Traunstein im Gefängnis. Ein Umstand, der ihr später den Ruf als Nazi-Gegnerin, moralische Instanz und somit indirekt auch die Nominierung der Grünen als Bundespräsidentschaftskandidatin einbrachte
Die Bundesversammlung 1981 fand in Bonn statt. Auch Luise Rinser beschäftigt die Kleiderwahl der bayerischen Delegierten. "Wie schlecht diesen Provinzlern aus dem Südosten der Frack steht“, schrieb sie über die Wahlversmmlung. Niemand rechnet mit einem Sieg der Außenseiterin. Aber es gelang ihr ein Achtungserfolg. Sie bekam sensationelle 68 Stimmen. Da nur 26 Grüne-Delegierte stimmberechtigt waren, hatten also 42 Wahlmänner der anderen Parteien für Luise Rinser gestimmt.
Auch bei der diesjährigen Wahl wird jemand mit dabei sein, der in Kirchanschöring recht gut bekannt ist. Und zwar der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier selbst. Manch Kirchanschöringer mag sich schon gewundert haben, wenn er den Bundespräsidenten samt Leibwache im Supermarkt beim „Done“ beim Einkaufen antraf. Die Verbindungen von Steinmeier zu Kirchanschöring gehen aber schon recht lange zurück. Steinmeier ist als begeisterter Bergsteiger mit Lukas Meindl befreundet. 2010 sprach Steinmeier beim Dreikönigstreffen der SPD in Kirchanschöring. Dieses Traditionstreffen wurde übrigens – und so schließt sich der Kreis – von Sebastian Straßer nach dem Krieg gegründet.