Eine meiner klassischen Erzählungen. Das wilde Leben in den 60er Jahren, die Beatles und auch die Geschichte der außerparlamentarischen Opposition haben mich schon immer zu Kurzgeschichten inspiriert. Gleichzeitig hatte unsere "Super Bass" gerade ihre Goasl-Phase und das Schnalzen war sehr angesagt, wir schnalzten wie die Weltmeister. Ich dachte mir eine Geschichte aus, wie es damals wohl war, als die Musik der Beatles ein erstes Mal in einem bayerischen Dorf gespielt wurden, vermischte alles mit Goaslschnalzen und APO-Folklore und so entstand die fast schon legendäre Erzählung "Das bewegte Leben des Schorsch H." Viel Spaß beim Lesen!

Ihr könnt Euch die Geschichte auch bequem ganz unten als PDF downloaden. Oder hier.

Das bewegte Leben des Schorsch H.

Eine Kurzgeschichte über die 60er Jahre

Wie ein Goaßlschnoizer die Beatles nach Leitenbach brachte

Der Schorsch war schon immer ein richtiger Revoluzzer gewesen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er Harrys Sohn war. Wie der Vater, so der Sohn, konnte man sagen. Der Harry, also der Vater vom Schorsch, der kam gar nicht aus Leitenbach, sondern der war nach dem Weltkrieg, als der Schorsch erst zwei Jahre alt war, von München aufs Land gezogen. Nicht nur, weil seine Wohnung ausgebombt gewesen war, sondern weil er einige Leute im Dorf kannte und sehr mochte. Der Harry, der vor dem Krieg eigentlich Philosophielehrer an der Uni werden wollte, übernahm einen Bauernhof, der leer stand, weil der Bauer einen Herzinfarkt bekommen hatte, nachdem auch der dritte Sohn im Krieg gefallen war. Harry arbeitete in den mageren Jahren hart, begann eine später immer besser florierende Viehzucht, stellte die Felder wieder her und zog nebenbei den Schorsch auf. Schorschs Mutter war früh gestorben, vielleicht arbeitete er deshalb so viel. Sie war eines morgens abgeholt worden und er hat erst Jahre nach dem Krieg die ganze Wahrheit in Erfahrung bringen können. Aber was da genau passiert war, darüber sprach der Harry nie. 

Ein Mädel aus Leitenbach, das Wagner Hannerl, half Harry bei der Erziehung vom Schorsch. Sie wohnte bald selber auf dem neu renovierten Hof. Schorsch wuchs ganz normal auf, kann man sagen, er musste – anders als die meisten seiner Altersgenossen - nur selten hungern. Was nicht heißen soll, dass es in Leitenbach Essen im Überfluss gab. So kam es, dass Schorsch zwar auf einem Bauernhof aufwuchs, aber trotzdem später, als es allen wieder gut ging, der Harry so ganz anders war als ein typischer bayerischer Bauernbub. Außerdem war er derjenige im Dorf, der Anfang der Sechziger Jahre die große Revolution ins Rollen brachte. 

Im Pfarrzentrum war ein kleiner Raum, der der katholischen Landjugend gehörte. Dort fanden jeden zweiten Freitag sogenannte Plattenpartys statt, bei denen der Schorsch bald für die Musik verantwortlich war. Discos sollte es eigentlich erst zehn Jahre später geben, aber der Schorsch, technisch versiert, hatte es geschafft, den Plattenspieler mit einem großen Lautsprecher zu verbinden, der ansonsten für die Feldmessen der Pfarrei verwendet wurde. In Leitenbach wurde damals also, was heute keiner mehr weiß, die erste Disco Deutschlands betrieben.

Was gar nicht so leicht war. Zum Ende der fünfziger Jahre hatten in Leitenbach gar nicht so viele Leute Schallplatten zu Hause, geschweige denn einen Plattenspieler. Gut, die Bauernjugend besaß einen Plattenspieler mit eingebautem Kassettendeck. Drei Jahre waren die Kids hausieren gegangen und hatten um Spenden gebettelt, bis sie sich endlich dieses Schmuckstück leisten konnten. Harry, der längst einer der wohlständigeren Bauern im Salzachgau war, spendete einen großen Teil aus der eigenen Tasche. Vielleicht auch aus dem schlechten Gewissen heraus, dass er mit dem Hannerl immer noch zusammenwohnte, ohne sie geheiratet zu haben. Was natürlich auf dem Land ein Skandal ohnegleichen war. Da muss man nur beim Metzger nachfragen. Da half es auch nichts, dass der Harry und das Hannerl jeden Sonntag in der dritten Reihe vorne in der Kirche saßen, Harry rechts, Hannerl links, und der Harry Mitglied im Gemeinderat war. Aber die großzügige Spende für die Landjugend hatte ihm dann doch einige Sympathiepunkte eingebracht. 


Die Bücher von Bernhard Straßer gibt es hier:


„Denn die Jugend ist unsere Zukunft und jeder Förderer der Jugend ist ein Förderer unserer Zukunft“ hatte ihn der Bürgermeister, ein Spezl vom Harry, beim Pfarrfest gelobt. Doch damals war sich ganz Leitenbach noch nicht im Klaren, dass die wilden Sechziger anstanden und die Jugendrevolution zu brodeln begann. Was haben sich die Damen vom Kaffeekranzerl der Frauenunion die Mäuler zerrissen, als der Schorsch der erste im Dorf war, dessen Ohren von langen Haaren verdeckt wurden. Ein schlechter Einfluss auf die anderen Kinder sei er, haben sie geschimpft. Der Harry selbst hatte eine dicke Haut in solchen Sachen. Er erklärte dem Schorsch, auf dem Land seien sie manchmal ein bisschen engstirnig, aber auf eine liebenswerte Art. Man solle immer das tun, was einem das Gewissen nicht grundsätzlich verbietet und wonach das Herz sich sehnt. Also ließ sich Schorsch die Haare lang wachsen und der Spruch, den er in diesen Tagen am öftesten hörte war: 

„Ist dein Bader gestorben?“

Und dann kam irgendwann dieser legendäre Freitag, an dem sich zweihundert Jungs und Mädels in den Jugendraum zwängten. Schorsch und seine Kumpels hatten in sämtlichen Nachbardörfern Plakate aufgehängt und Werbung für die Plattenparty gemacht. Es konnte nur der Kracher des Jahres werden, denn der Schorsch nannte seit drei Tagen eine Platte einer neuen Band sein eigen, die ihn umgehaut hatte. 

Wie er derart lange vor allen anderen an diese Platte gelangt war, wusste niemand so genau. Aber es überraschte auch keinen. Beim Schorsch daheim wimmelte es nämlich von Technikschickschnack. Der Harry hatte neben Radio- und Plattenspieler auch eine Funkanlage, einen Filmprojektor und ein Tonbandgerät und war später auch der erste, bei dem ein Farbfernseher in der Wohnstube flimmerte. Der Harry war ein Elektroniknarr und da er auch das Geld hatte, schaffte er sich den ganzen modernen Krimskrams an. Vielleicht war er den alten Damen im Dorf deshalb so suspekt. 

„Wer braucht denn schon eine Waschmaschine?“ schimpften sie. 

Der Hof lief langsam von alleine, drei Knechte, wenn man sie damals noch so nennen konnte, waren angestellt, die zusammen mit dem Wagner Hannerl den florierenden Hof am Laufen hielten. Harry und Schorsch mussten selbst kaum noch Hand auf dem Feld oder im Stall anlegen. Der Harry war dadurch recht oft in München, wo er Vorlesungen an der Uni gab. Denn seine Bücher hatte er nie aufgegeben und die großkopferten Städter in München hielten ihn immer noch für einen ganz Gescheiten, obwohl jeder in Leitenbach wusste, dass der Harry einfach nur der Bauer vom Steltzer Hof war.

Der Schorsch ging auf das Gymnasium in der Nachbarstadt und würde nächstes Jahr sein Abitur machen. Das war klar, doch wegen dieser einen Platte, die er an diesem legendären Freitag in den Händen hielt, sollte ihm das letzte Jahr an der Schule enorm erschwert werden. Der Legende nach hörte er den Song zum ersten Mal vier Tage vor der historischen Plattenparty auf einem britischen Radiosender, den er über sein Funkgerät empfing. Gleich am nächsten Tag fuhr er nach der Schule mit dem Zug nach München, wo er in zwanzig Plattenläden kramte, bis er ein importiertes Exemplar der Scheibe entdeckte. Die Platte gab es in Deutschland nämlich noch gar nicht offiziell zu kaufen. In England war sie schon seit Wochen in der Top 20 der Charts, aber hier in Bayern hatte noch niemand davon gehört. Jedenfalls nicht bis zu diesem Freitag, an dem der Schorsch die Single den Leitenbachern präsentierte. 

Die Luft war verraucht im Jugendraum und es wollte zunächst keine so richtige Stimmung aufkommen. Da im Jugendraum Alkoholverbot herrschte, waren einige Jungs noch draußen am Friedhof, wo sie heimlich Whisky und Bier tranken. Schorsch wusste, so richtig gut würde es ab zehn werden, wenn die Jungs von den umliegenden Hütten im Dorf eintrafen. Deshalb legte er erst die übliche Musik auf den Schallplattenteller: Rock ‘n Roll von Roy Orbison bis Buddy Holly. Die Stimmung wurde von Song zu Song besser und bald schwangen alle ausgelassen das Tanzbein. Und auf einmal war es sekundenlang still. Schorsch tat so, als ob er nach einer Platte suchte und die Spannung war kaum auszuhalten. Jeder wartete gespannt auf den nächsten Song. Schorsch spürte hundert Augenpaare auf sich und kostete diesen life changing Moment genüsslich aus, als er grinsend die Single auf den Plattenteller legte. 

Es erklang eine Mundharmonika und zwei ineinander verschmelzende Stimmen sangen: „Love, love me do. You know, I love you. I’d always be true...“ Schorsch platzte vor Aufregung als er in die verdutzten Gesichter und offenen Münder blickte. Erst standen alle verdutzt da und lauschten diesen Klängen, die so ganz anders waren als alles, was sie zuvor gehört hatten. Köpfe verrenkten sich, man sah sich verwundert an: 

„Wahnsinn! Was ist das denn?“, rief einer. 

Schließlich schrie Schorsch durch das Mikrophon: „Das sind die Beatles! Tanzt, Leute, tanzt! Das sind die Beatles!“ 

Immer schneller bewegte sich alle im Takt der Musik, die kraftvoll durch die Feldmess-Lautsprecher hämmerte. Nach und nach merkten immer mehr, dass der Beat dieser Musik so ganz und gar tanzbar war und bald tanzte alles und die ersten Mädchen fingen an, völlig auszuflippen. Als die letzten Klänge des Songs verstummten,  hörte man noch lange Stöhnen und Japsen und die Luft waberte dampfend durch den Jugendraum. Die Masse der Menschen lag sich schwitzend und erschöpft und irgendwie glücklich in den Armen. Einer der Großbauernsöhne aus dem Nachbardorf war der erste, der seine Besinnung wieder fand und langsam zu klatschen begann. Nach und nach klatschte der ganze Jugendraum euphorisch Beifall und forderte eine Zugabe. Doch Schorsch ließ sich Zeit. Er legte zunächst die damalige Nummer Eins in England, Return to Sender von Elvis auf, dann andere Hits wie „Let’s dance“. Immer mehr Mädchen stürmten zum DJ Pult und schnatterten auf ihn ein, er solle das „komische Lied“ noch einmal spielen. Schließlich gab er nach und legte „Love me do“ ein zweites Mal auf den Plattenteller. Schon beim ersten Takt begannen Mädchen laut zu kreischen und alles fing an, wie wild zu tanzen. Der Pfarrer, der als Aufsichtsperson ebenfalls im Raum war, starrte Schorsch mit einem kalten Blick kopfschüttelnd an. Er war wohl der einzige, der spürte, dass in diesem Moment eine Lawine ausgelöst wurde, die man durch nichts in der Welt mehr stoppen konnte. Gegen Elf spielte Schorsch die Beatles ein drittes Mal und die Landjugend drehte total durch. Sie sprangen wild auf und ab, fegten springend und hüpfend über die Tanzfläche, schüttelten außer sich die Köpfe und trampelten mit den Füßen. Nach der zweiten Strophe drehte Schorsch die Lautstärke nach unten und niemand merkte es, weil jeder wie in Ekstase den Text mitbrüllte.

Die Beatles, das war die nächsten Tage der Gesprächsstoff Nummer Eins im Dorf. Nachrichten aus England kamen, dass der Song Platz vier in den englischen Charts erreichte und Schorsch schimpfte: „Das haben die Beatles nicht verdient! Die sind besser als nur Nummer vier!“ Er musste in Leiharting, in Hansberg, in Truchtmoning, eigentlich überall in der Gegend, wo es Plattenspieler gab, seine Beatlesplatte auflegen.

Einige Wochen später schafften diese Beatles mit ihrer nächsten Single „Please please me“ auf Anhieb Platz Eins in England. Und Schorsch, der eine Nacht vor einem Plattenladen in München wartete, um am Morgen der erste zu sein, der die Platte in den Händen hielt, wurde endgültig zum Helden der Leitenbacher Dorfjugend. Die Beatlemania in Leitenbach ging einher mit dem Namen Schorsch. Es war nichts mehr, wie es einmal war. Die Beatles stürmten die Charts der ganzen Welt. 

Und ausgerechnet einen Tag vor dem Kolloquium, Schorsch war mitten im Abiturstress, gaben die Beatles im Rahmen der Bravo–Tour ein Konzert in München. Natürlich blies er alle Warnungen vom Harry in den Wind und fuhr nach München, anstatt Latein zu pauken. „Das Abi kann ich wiederholen, aber die Beatles kommen vielleicht nie wieder.“ 

Auf dem Konzert. schrie er sich die Lunge aus dem Hals. Nun ja, die Lehrer diskutierten am nächsten Tag eine halbe Stunde lang, ob es den Statuten entsprach, jemand, der vor lauter Heiserkeit seiner Stimme verlustig gegangen war, an einer mündlichen Prüfung teilnehmen zu lassen. Schorsch hatte ohnehin nur John Lennon im Kopf, als er flüsternd „She loves you“ aus dem Stehgreif ins Lateinische übersetzte. („Te amat“) Nur das „Yeah, yeah, yeah!“  machte ihm einige Probleme, er entschied sich für „Ita, ita, ita!“ und ahnte, dass die Beatles im alten Rom ein Rohrkrepierer gewesen wären. All der Aufwand mit dem Ergebnis, dass er beinahe die Dreizehnte Klasse wiederholen hätte müssen. 

Im kommenden Jahr ging Schorsch nach Berlin, überließ Leitenbach sich selbst. Er studierte an der Freien Universität. Natürlich war er immer vorneweg, als wenige Jahre später die Studentenrevolte begann. Kam er Weihnachten nach Hause, brachte er selbst den Harry aus der Fassung, wenn beide über Klassenfeind, Vergangenheitsbewältigung Deutschlands und die freie Liebe diskutierten. Harry, der aussichtsreicher Kandidat bei der kommenden Bürgermeisterwahl war, flehte seinen Sohn an, entweder in Berlin zu bleiben, oder sich gefälligst zusammenzureißen, wenn er Semesterferien in Bayern machte.

Schorsch dachte gar nicht daran und immer wenn er zu Besuch war, dampfte über Leitenbach eine beißend riechende Wolke und schon von weitem konnte man aus den Boxen am Steltzer Hof die Beatles „All you need is love“ und „Strawberryfields forever“ singen hören. Die Kaffeekränzchen der Frauenunion im Dorf hatten Hochkonjunktur und niemand redete mehr von der wilden Ehe vom Harry, alles drehte sich nur noch um seinen missratenen Sohn. 

Harry verlor die Bürgermeisterwahl haushoch, obwohl bekannt war, dass sein Gegenkandidat weder kompetent noch besonders schlau war. Doch wer wollte in einem bayerischen Dorf schon den Vater eines kiffenden Idealisten mit langen Haaren zum Bürgermeister haben, der zu allem Überfluss auch noch Mitglied in der SPD war? Die alteingesessenen Bauern hatten ihre liebe Mühe, ihre bald langhaarigen und bärtigen Kinder vom schlechten Einfluss des „Revoluzzer Schorschis“, wie er bald überall bekannt war, fernzuhalten. Eine schier unlösbare Aufgabe, denn im Steltzer Hof fanden im Sommer Wochenende für Wochenende heiße Partys statt, zu denen neben dem halben Dorf nicht selten auch Studentenfreunde aus Berlin kamen. Dann wurde diskutiert über Dutschke und Langhans. 

Harry duldete die Ausschweifungen seines Sohnes, auch wenn er sie bald nicht mehr verstand. Harry war der einzige, der von Anfang an tolerant mit dieser Revolution umgegangen war, doch mit der Zeit kam es Harry so vor, dass die Revolution außer Kontrolle geraten war und ihren guten Geist verlor. 

Gegen zwei Uhr früh auf einer dieser Partys in der nach Gras duftenden Stube des Steltzer Anwesens, drehte der Harry die Rolling Stones leiser und nahm den Schorsch beiseite. Ernst sagte er:„Es ist genug.“ 

Mehr sagte er nicht. Er hatte Schorsch noch nie in seine Schranken verwiesen und dieser eine Satz, der war dem Schorsch so fremd und kam so überraschend, dass es ihm schier das Herz brach. Er dachte zum ersten Mal darüber nach, was eigentlich um ihn herum passierte. Sah, wie ein Kommilitone beim Fenster hinauskotzte, beobachtete seine Ex-Freundin, wie sie mit einem Kumpel nach draußen verschwand, sah einen der Knechte, wie er mit glasigen Augen am Boden lag und die Decke anstierte. 

„Was passiert hier eigentlich?“, fragte er sich stumm und begriff, wie sehr die Welt in den Wahnsinn driftete. 

„Bist du wirklich glücklich?“, hatte ihn erst kürzlich ein Mädchen, von dem er wusste, dass sie in ihn verliebt war, gefragt, nachdem er etwas mit ihrer besten Freundin gehabt hatte. „Klar!“, hatte er an dem Tag noch ohne zu zögern geantwortet. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Der Rausch klopfte gegen seinen Verstand und ein unendlich tiefes, schwarzes Loch öffnete sich vor seinen Füßen. Schorsch spürte einen leichten Schubser gegen seinen Hinterkopf und fiel. Ein endloser Fall, das Nichts sog ihn nach unten, schreiend um sich schlagend.

Schorsch ging die Holztreppe nach oben in sein Zimmer. Innerlich leer und mit einem zermürbenden Gefühl des Alleinseins im Herzen. Es gab im Grunde nichts auf der Welt, das ihm einen Halt gab. Gegen die Lähmung der Gedanken und das schwarze Loch der Zukunft ankämpfend, schickte er ein Stoßgebet gen Himmel: Gott möge ihm einen neuen Sinn geben. 

Als er sich in sein Bett legen wollte und die Decke zur Seite zog, entdeckte er eine lange braune Schnur.

Harry seufzte resigniert und ließ seinen Blick über die Zimmerdecke nach einem Balken Ausschau halten. Dann schaute erneut auf die seltsame Schnur. Sie war viel zu kurz. Außerdem war sie an einem hölzernen Schaft befestigt und sah aus wie eine Peitsche.

Hatte ihm Harry dieses Ding ins Bett gelegt? Was wollte er ihm damit wohl sagen? Wusste Harry nicht, dass Schorsch an Sadomasospielchen keinen Gefallen fand, auch wenn er sonst so ziemlich alles ausprobiert hatte? Oder war es eine stumme Drohung, dass Harry die antiautoritäre Erziehung rückgängig machen würde, wenn Schorsch weiter den farbenfrohen Weg des Exzesses ging?

Schorsch legte die überdimensionale Peitsche beiseite und legte sich ins Bett. Obwohl sein Kopf schwer und verraucht war, schlief er sofort ein. Nach einer traumlosen Nacht fuhr er gegen neun Uhr senkrecht aus dem Bett. Ein Gedanke hatte sich wie eine Zecke in seinem Kopf festgesetzt. Er griff nach der Peitsche neben seinem Bett und schrie: „Ich will ein Goaßlschnoizer werden!“ 

Er sprang aus dem Bett, packte die Peitsche, rannte nach unten, wo einige seiner Kumpels in der Stube auf dem Fußboden schliefen, andere saßen bereits bei einem Weißbier in der Küche: „Zisch dir auch noch eine“, lallte einer. 

Schorsch schüttelte den Kopf: „Ich hab was besseres vor.“ 

Er rannte in Harrys Arbeitszimmer, wo Harry bereits über seinen Büchern saß: „Danke“, sagte er. 

Harry nickte. „Ich wusste, dass sie dir gefallen wird. Sie wird dich ein bisschen von deinem Trip runterbringen.“ 

Harry sollte Recht behalten. Am selben Tag stand Schorsch auf dem Feld und versuchte, unter der Anleitung vom Sepp, Mitglied der Pass „Leitenbach 2“,  der Goaßl die ersten Töne zu entlocken. Als es dann das erste Mal ganz gewaltig schnalzte, schrie Schorsch euphorisch in die Welt hinaus: „Das ist geiler als Gitarrenspielen! Das ist geiler als LSD! Das ist sogar geiler als die Beatles!“

Diesen Sommer lernte Schorsch das Schnalzen und sein Leben stellte sich auf den Kopf. Auf sein tägliches Bier verzichtete er genauso wenig wie auf die Beatles, doch die Exzesse wurden weniger. Zu sehr war er mit dem Goaßlschnoizen beschäftigt. Und während George Harrison in Indien die Sitar entdeckte, entdeckte Schorsch in Oberbayern die Kunst des Goaßlschnoizens.

Zurück auf der Uni in Berlin gründete Schorsch die erste Schnoizerpass, die es jemals an einer Universität außerhalb von Bayern gegeben hat. Die 68er tobten und die Goaßlschnalz-Welle breitete sich über Berlin aus. Selbst Uschi Obermaier soll regelmäßig zur Goaßl gegriffen haben. Schorsch schnalzte auf einer Demonstration am Kudamm gegen den Vietnamkrieg und führte im Sinne der Sit-Ins vielbeachtete Schnalz-Ins ein. Gute drei Dutzend Goaßln ließ er aus Leitenbach nach Berlin importieren und an der Freien Universität gab er einen gutbesuchten Schnoizerkurs. Über das ganze Universitätsgelände hörte man es schon am frühen Morgen ein Krachen, als ob der Krieg ausgebrochen wäre. 

„Das ist wie in Vietnam!“, schrien die aufgestachelten Studenten. Die neuen Helden in Schorsch’s Leben waren nicht mehr Mao Tse Tung und Karl Marx, sondern Max Oberlechner, der Passführer der Salzachtaler Goaßlschnoizer, Sieger im legendären Gauschnalzen ‘67. Immer mehr Studenten der FU liefen schließlich mit T-Shirts herum, auf denen stand: „Make Goaßln, not war“. Und der Spruch „Peace and Schnoizen“ wurde selbst bei den Berliner „Preissn“ zu einem Begriff. 

Die Studentenunruhen wurden immer heftiger, als schließlich die Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze begannen. Schorsch und seine Pass wurden immer wieder auf den Ku - Damm bestellt, um auf Kundgebungen gegen die Regierung zu schnalzen. Auf einer Karikatur in der Berliner Bildzeitung wurde sogar Rudi Dutschke mit Goaßl abgebildet, wie dieser auf die Demokratie einpeitschte. Schorsch allerdings distanzierte sich im Namen aller FDS-Schnalzer von dieser Verunglimpfung der Schnoizerzunft: „Wir sind weder für Dutschke, noch gegen die Demokratie, wir sind einfach Goaßlschnoizer, die für den Frieden schnalzen“, erklärte Schorsch in einer öffentlichen Pressemitteilung. 

Dennoch schoss sich der Springer Konzern auch auf die Schnalzerszene ein und stellte sie als eine Gefahr für Deutschland dar. Erst ein öffentlicher Rüffel vom CSU Chef Franz Josef Strauß, der sich deutlich hinter die schnalzende Jugend stellte, ließ die Diskussion in den Springer-Medien um die Berliner Schnalzer wieder verstummen. „Das Bayerische Brauchtum muss erhalten bleiben. Auch in Berlin“, stellte Franz Josef Strauß abschließend fest.

In Leitenbach war der Schorsch endlich wieder wie damals, als er noch Plattenaufleger war, ein Held. Er war Ehrenmitglied in der Pass der Rupertiwinkler Gauschnalzer und durfte sogar auf der Jahreshauptversammlung des Trachtenvereins eine Ansprache halten.

Erst mit den Siebzigern und der Auflösung der Beatles ebbte auch die Schnalzereuphorie ebenso wie die Studentenbewegung wieder ab. 

Es gab außerhalb Bayerns noch vereinzelte Schnalzerpassen“ die sich radikalisierten und aus dem Untergrund heraus Wirtschaftsbossen auflauerten und sie mit Peitschenhieben ihrer Goaßl zu malträtieren. Sie nannten sich RAS (Rote Armeeschnalzer) und Schorsch distanzierte sich vehement von diesen „Terroristen“, wie er sie nannte. 

Schorsch absolvierte sein Studium und wurde wie sein Vater Professor an der Münchner Universität. Jahr für Jahr hatte er immer weniger Zeit zum Schnalzen und gab es schließlich ganz auf.

Nur einmal holte er seine Goaßl vom Speicher herunter. Nämlich an dem Tag im Jahre 1980, als John Lennon beerdigt wurde. Nach Lennons Ermordung von tiefer Trauer ergriffen, hatte er noch einmal seine Schnoizerpass aus den Beatles Tagen zusammengetrommelt und schnalzte mit ihnen eine Goaßl - Version von „Imagine“. Neunhundert Menschen aus Leitenbach und Berlin hatten Tränen in den Augen, das bayerische Fernsehen übertrug live in einer Sondersendung.

Ansonsten ist das Leben vom Schorsch so unspektakulär verlaufen, wie das von uns anderen auch Seine zwei Söhne sind beide im Trachtenverein und eines Tages werden sie vielleicht ganz erstaunt die Geschichte hören, wie ihr Vater eine Weile der berühmteste Goaßlschnoizer Deutschlands war.


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Das bewegte Leben des Schorsch H.
Die Geschichte eines Goaslschnalzers in den 60er Jahren, der die Beatles in sein bayerisches Dorf brachte
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