Wie immer, wenn mich in einem aufwühlenden Jahr der Tod besuchte, geschahen auch wundervolle, traumartige Ereignisse. Unter dem Eindruck der Geschehnisse, als ich mehrmals vor Abgründen stand, schrieb ich einige der intensivsten Erzählungen und Kurzgeschichten, geprägt von Existenzangst und bedingungsloser Lebenslust. Dies ist eine davon.
"Schreiben am Abgrund" -Die Toskana-Texte, die indirekt mit dieser Kurzgeschichte zusammenhängen:
Erst freue ich mich darüber, Mattheus wiederzusehen. Ich weiß kaum etwas über ihn, obwohl wir uns seit Jahren kennen. Er ist zehn Jahre jünger als ich, schreibt sehr gut, ich denke aber, nicht besser als ich. Aber definitiv besser als ich in seinem Alter. Dasselbe lässt sich über unser Aussehen sagen. Gleich am ersten Tag saßen wir auf dem Platz und er fragte als erstes, was ich von Mercedes halte. Was soll man schon von Mercedes halten. Sie ist die Tochter vom Kursleiter, ich kenne sie schon, seit sie noch ein Teenager war. Inzwischen ist sie dreiundzwanzig und verdient, anders als wir, mit Schreiben ihr Geld. Seit sie mit in die Toskana fährt, bemühen sich auch echte Literaturtalente wie Mattheus, mitfahren zu dürfen. Es ist ein Wunder, dass Wolfgang mittelmäßige Schreiber wie mich überhaupt noch mitnimmt.
Ein noch größeres Wunder ist es, dass ich tatsächlich hier bin. Ich habe Mattheus nichts von Ines erzählt. Er hat auch nicht nach ihr gefragt. Dachte wohl, dass wir uns getrennt hätten. Wäre auch komisch gewesen, ihm mitzuteilen, dass sie jetzt tot ist. Ich weiß, dass sie ihn sehr mochte und das macht es nicht besser.
Wolfgang hatte mir angeboten, die Kursgebühr zurück zu überweisen. Aber was soll ich zu Hause in einer leeren Wohnung? Außerdem musste ich Mercedes wiedersehen. Aber irgendwie auch wieder nicht. Es war ja damals schon kompliziert genug.
Acht Stunden Fahrt. Dieselbe Route wie jedes Jahr. Ein erstes Mal allein. Und ab dem Gardasee die Erinnerung an ein unbändiges Freiheitsgefühl aus uralten Jugendtagen. Bis mich das Zähneklappern wieder an die Panik des letzten Jahres erinnerte und unfassbar war es, dass es vorbei ist, dass das alles tatsächlich passiert ist.
Nicht alle sind so lang wie diese Kurzgeschichte! Etwas kürzere Texte findest Du in der Rubrik Moderne Kurzgeschichten
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Am ersten Abend in der Bar trinke ich zu viel und Wolfgang fragt anfangs, ob alles in Ordnung sei. Aber nach dem zweiten Mal lässt er es, manche Fragen sind sinnlos. Mercedes lässt sich nichts anmerken. Sie tut so, als sei sie kein Feuilleton-Star. Sie nimmt sich für alle Zeit und sie sagt nichts wegen Ines, sondern schüttelt nur den Kopf, als sie mir in die Augen schaut. Und da weiß ich wieder, was uns seit damals verband.
Von den Alten ist nur noch Peter da. Die anderen sind entweder gestorben, oder schreiben nicht mehr. Peter ist neben mir der letzte, der von Anfang dabei war und es ist rührend, wie er die körperliche Nähe zu Mercedes sucht, und irgendwie auch das Gegenteil. Er fragt ebenfalls nicht nach Ines. Wolfgang hatte es ihm vermutlich gesagt. Oder auch er nimmt an, dass wir einfach nicht mehr zusammen sind, wie es in unserem Alter auch nichts Ungewöhnliches ist.
Nachdem wir unsere Zimmer in der Villa bezogen, spazieren Mattheus, Mercedes und ich zum Friedhof runter. Der Kies knirscht, vor uns geht die Sonne in einem Feuerball unter, links die Weinreben und wohin man schaut, die grünen Hügel der Toskana. Ich bin betrunken genug, um es schön zu finden. Mercedes rutscht auf dem steilen Schotterweg aus, wir fangen sie gleichzeitig auf und sie lacht und lacht. Am Friedhof redet keiner von uns. Mercedes und ich stehen lange am Grab des alten Ehepaares, das früher für uns gekocht hat. Ich glaube, sie weint. Ich kann seit Wochen nicht mehr weinen. Mattheus findet den Friedhof schön. So schön, wie wir ihn damals gefunden haben, als wir noch nicht begriffen, dass dort tatsächlich Menschen begraben liegen, die einmal geliebt wurden.
Als oben die Glocke läutet, gehen wir wieder hoch. Die Sonne ist gerade untergegangen und ein kühler Windstoß frischt die Luft auf.
In der Stube riecht es nach Cognacsoße. Der Tisch gedeckt, die rot-weiß karierte Tischdecke, die Flaschen mit Wein und Brunnenwasser an jeder Hälfte des Tisches. Ich zögere, als ich merke, dass Mercedes sich an ihren Stammplatz am unteren Ende der Tafel setzt. Als sie meinen Blick erwidert, als könne sie meine Gedanken lesen, rutscht sie Meter für Meter die Bank hinunter, bis sie neben ihrem Vater sitzt. Ich setze mich ihr gegenüber. Mattheus‘ Blick wanderte zwischen ihr und mir hin und her.
„Was war das jetzt bitte?“, fragt er und Mercedes schenkt ihm schweigend lächelnd Wein ein. Wolfgang hält seine Begrüßungsrede und zehn Weingläser heben sich. Der Wein schmeckt süß und fruchtig und nach einer ungewöhnlichen Note Pfirsich. Die Trauben vom letzten Jahr, denke ich. Vergoren.
Der Wein macht es leicht, Gewesenes zu betäuben und die Sinne konzentrieren sich auf die Gegenwart. Pasta in Cognacsoße erscheint und verschwindet auf den Tellern und sofort rücken die vier Wände enger, rücken die Seminarteilnehmer enger und es existiert nichts als Wein und Nudeln. Wolfgang spricht von Italo Calvino und wie dieser die Sinnlichkeit des Schmeckens und Riechens in Worte zu verwandeln verstand und mir wird klar, ich würde dies nie zuwege bringen, ich finde nicht einmal Worte für das, was Ines passiert war.
Nach dem dritten Glas Wein fangen die ersten Blicke an zu entgleisen und spätestens jetzt weiß jeder, dass Mattheus sich in Mercedes verguckt hat. Natürlich. Genauso wie all die anderen vor ihm. Beim Lamm, das mit Brot und grünem Salat verzehrt wird und in Knoblauch und Rosmarin herausgebraten ist, erzählt er Mercedes von seinen Preisen. Er weiß noch nicht, dass sie zwar schreibt, sich aber für nichts weniger begeisterte als den Literaturbetrieb. Es ist nicht sein Talent, eher seine dunklen Augen, für die sich eine Mercedes zu begeistern weiß. Während es bei Wolfgang, der interessiert zuhört, ohne seine Tochter aus dem Blick zu lassen, offensichtlich genau umgekehrt ist. Die dezent schmatzenden Gesprächsfaden breiten sich über die Tafel aus und die emporwabernde Harmonie wird einzig von Peter unterbrochen, der Mattheus‘ Ausführungen kritisch hinterfragt. Wer in dieser und jener Jury gesessen sei, und ob er außer den Kurzgeschichten sonst nichts publiziert habe und, dass dieser Bachmannpreis sowieso nicht mehr das sei, was er früher einmal war. Mattheus ringt tapfer nach Argumenten, er weiß noch nichts von den komplizierten Beziehungen der Langjährigen und müht sich gleichzeitig, Mercedes' Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten. Peters Pfeile gehen seit Jahren gegen jeden potentiellen Verehrer dieses Mädchens, vermutlich, weil er Mercedes liebt, als sei sie seine eigene Tochter.
Kurz bevor Mattheus‘ Elan in Verbitterung umschlägt, und noch bevor der Espresso und die Pana Cotta zu Tisch getragen werden, befrage ich Mattheus zu seinem Studium. Ich frage laut, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich nicht nur am unteren Ende des Tisches, sondern an der ganzen Tafel zu profilieren. Schließlich mag ich ihn, und selbst wenn er mit Mercedes im Bett landen wird, ich würde es überleben. Anders als Ines.
Dankbar nimmt er meine Steilvorlage an und erzählt vom Theater in Ulm, vom Studium der Theaterwissenschaften, das er enthusiastisch begonnen und noch enthusiastischer wieder abgebrochen hat. Er erzählt von der bayerischen Akademie des Schreibens und von diesem Stipendium und jenem und ich bin bald nicht mehr der Einzige am Tisch, der sich fragt, warum in aller Welt dieser junge Mann an Wolfgangs Schreibwerkstatt teilnimmt. Mercedes gähnt laut und starrt in ihr Handy. Wolfgang lehnt sich selig in seinen Stuhl zurück und betont, wie sehr er sich auf die Woche freut. „So viel Talent war hier noch nie beisammen.“
Aber etwas fehlt. Etwas ist falsch, etwas stimmt nicht. Das Grappaglas vor mir ist schon wieder leer und ich will nicht ins Bett gehen, ich kann nicht. Auf einmal erscheint mir alles als riesiger Fehler.
„Geht's dir gut?“, fragt Mattheus und ich bin unfähig, zu antworten. Die Wände geraten wieder in Bewegung, diesmal bedrohlich eng auf mich zu. Ein Klos verstopft mir die Speiseröhre und ich sehe einen Pfropfen vor mir. Einen Pfropfen, der etwas auslösen könnte, wenn er sich lockerte. Etwas, das sich zwar mit etwas Alkohol verdrängen lässt, aber das zu viel Alkohol unweigerlich zur Explosion bringt. Ich muss raus, ich brauche frische Luft. Etwas vibriert in meiner Tasche. Mercedes sieht mich fragend an. Eine Nachricht. Ich wische das Display.
„Glühwürmchen?“, steht dort.
Über der Nachricht ein Foto von Mercedes aus dem letzten Jahr. Etwas lange nicht verspürtes zieht meine Mundwinkel nach oben und ich nicke.
Und wie damals verabschiedet sie sich laut gähnend. Ich warte noch zwei Minuten und behaupte, noch an die frische Luft zu müssen.
Der schnapsschrille Lärm der Abendgesellschaft nimmt draußen mit jeder Stufe nach unten ab. Die Mauern riechen modrig nach Schatten, im Sommer gibt es hier Skorpione, mir war nie einer begegnet. Ich taste mich am feuchten Gemäuer entlang nach unten. Im Laternenschein illuminieren die Rosensträucher fahl, als gehören sie nicht in diese Nacht. Das Zirpen der Grillen wird nur ab und an von einem besonders lauten Lachen unterbrochen. Ich schaue mich um. Wo ist sie? Sie ist nicht da. Ich gehe zur Straße. Auch dort ist sie nicht. Ist sie tatsächlich ins Bett gegangen? Aber was sollte dann die SMS? Ich gehe den Berg hinauf. Dorthin, wo wir damals die meisten Glühwürmchen gesehen hatten.
Dort steht sie, stumm im Mondlicht. Sie deutet mir, zu schweigen, zieht mich an sich, ehe ich etwas erwidern kann, legt sie mir die Hand auf den Mund und erst, als ich keine Anstalten mehr mache, die Stille der Nacht mit einem Geräusch zu verunreinigen, lässt sie mich los. Tonlos deutet sie nach unten. Von hier oben sind Dutzende Lichter zu erkennen. Dörfer am Fuße der Hügel. Eine Straße, vielleicht die Schnellstraße. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, nach Frühling, ein wenig nach Schaf und ein wenig mehr nach ihrem Parfum. Ich weiß, dass es eigentlich nur ein Deo von Nivea ist, aber an ihr riecht es so viel intensiver, als jeder Duft den Calvino hätte beschreiben können. Mercedes deutet auf die Wiese. Jetzt sind sie deutlich zu sehen. Ein Dutzend Glühwürmchen. Lautlos blinken sie über das Gras. Mercedes nimmt mich bei der Hand und führt mich in die Wolke der Glühwürmchen, die sich sofort in Dunkelheit auflöst. Sie legt sich ins Gras und ich tue es ihr gleich. Der Boden ist warm und trocken, aber hart. Ich muss an ihren Papa denken, der uns seit Jahren Perspektivwechsel einbläut. Und auf einmal liege ich in dieser toskanischen Wiese und alles, was ich sehe, sind Sterne, Sterne, Sterne. Und als die Schönheit des Firmaments beginnt, weh zu tun, dreht sich Mercedes zu mir und sagt, so leise es geht: „Es tut mir Leid wegen Ines.“
Mehr ist nicht zu sagen. Wir liegen vielleicht eine Stunde reglos im Gras. Immer, wenn ein Satellit unseren Sternenausschnitt zerteilt, regt sich ein wenig ihr Kopf. Ich bin sicher, dass sie an das denkt, was uns damals passiert ist. Was hier zwischen den Glühwürmchen begonnen hat, wunderbar und erschreckend gleichzeitig. Etwas, über das wir nie ein Wort verloren. Ich hätte alles für Ihre Gedanken gegeben, es ist ganz und gar unmöglich, dass sie nicht daran denkt. Als ich kurz davor bin, sie zu fragen und meinen Kopf ganz leicht auf die Seite drehe, bemerke ich die silbern glitzernde Spur, die quer über ihr Wangen bis zu ihren Wimpern reicht. Etwas in mir sackt zusammen und ich schließe wieder die Augen.
In einem anderen Leben wäre ich ewig so da gelegen, hätte ihr viele Fragen gestellt oder geschwiegen, weil es manchmal genügt, die Sterne zu betrachten und man kennt die Antworten. Doch noch bevor ich darüber nachdenken, oder eine Entscheidung fällen kann, schreckt Mercedes auf. „Was ist das?“
Ich höre nichts. Nur Zirpen. Und als ich das Kiesknirschen höre, ist Mattheus bereits zu erkennen. Er spaziert im Mondlicht und hält nach etwas Ausschau. Ich ducke mich und halte den Atem an.
„Hier sind wir!“, schreit Mercedes, springt auf und läuft ihm entgegen. Nach kurzem Zögern folge ich ihr.
„Ihr wart verschwunden“, sagt er. „Ihr habt mich mit den Alten allein gelassen.“ Mattheus tritt von einem Bein auf das andere, als müsse er pinkeln. „Hab ich euch bei was gestört?“ Wir schütteln beide den Kopf.
„Die Nacht ist nur so schön“, sagt Mercedes. „So schön hier draußen.“
Mattheus druckst noch eine Weile herum, als hätten wir ihn bei etwas ertappt und nicht umgekehrt. Dann spazieren wir noch den Weg hinauf, bis es nicht mehr weitergeht und wieder hinunter. Genau wie damals Mercedes und ich. Und Ines. Aber da war sie schon krank. Nur wusste sie es selbst noch nicht.
Am nächsten Morgen stehe ich so früh auf, dass die höheren Hügel noch im Nebel liegen. Die Felder hingegen ducken sich gelb gegen die Morgensonne und ich laufe joggend die schmale geteerte Straße entlang, bis mir die Lunge schmerzt. An der Hauptstraße, wo die Ruine einer alten Eisenbahnbrücke mitten auf einer Wiese steht, bleibe ich stehen und blicke zurück. Ich weiß nie, welches der Landhäuser auf dem Hügel unseres ist. Außerdem ist es sinnlos, nach Mercedes Ausschau zu halten. Aber ich weiß, dass sie von ihrem Zimmer aus das gesamte Tal überblickt und sie, wenn sie gerade aus dem Fenster schaut, mich sieht.
Auf dem Rückweg dauert es nicht lange, bis die Bilder aus dem Unterbewusstsein hervorbrechen. Tief abgelegt, verscharrt dort, wo sie niemanden weh tun. Wie ich keuchend und glücklich die Stufen hinauf rannte. Mercedes, die unten Kaffee aufbrühte und ganz und gar glücklich aussah. Wie ich die Stufen hochstieg, unter das Dach, wo Ines immer noch im Bett lag, nackt und nach der Nacht duftend. Wie ich mein Handtuch suchte, um noch in den Pool zu springen. Das Läuten ihres Handys. Wir hatten sechs Tage lang kein Netz gehabt, wo kam das her? Ihr Räkeln im Bett, der Griff nach dem Handy und ihr Murmeln: „Sechs Anrufe in Abwesenheit. Alle von derselben Nummer.“
Wie ich sagte: „Ruf doch zurück, solange du Netz hast.“ Und noch während sie wartete, dass jemand abnahm, wusste ich, wer angerufen hatte.
„Das Krankenhaus“, sagte sie matt.
Ich laufe durch die dampfenden Felder, die grünen Hügel der Toskana im Blick und versuche, die Bilder zu verscheuchen. Aber sie sind da und werden es für immer bleiben. Ich laufe schneller. Mit einem Mal habe ich panische Angst, dass es wieder passieren wird. Dass es diesmal Mercedes ist. Oder ich selbst. Schneller und schneller laufe ich und beschleunige auf diese Weise genau das, was ich verhindern will. Das Ankommen. Also biege ich vor der Auffahrt ab und laufe zum Friedhof. Lasse mich zwischen zwei Grabsteine fallen und warte, bis das Hämmern in meiner Brust und das Flattern der Lungenflügel abebbt. Etwas in meiner Schläfe pocht schmerzhaft. Etwas, das vielleicht groß ist wie eine Haselnuss, oder auch nicht. Ich springe auf, schlage mit den Fäusten gegen die Friedhofsmauer, bis die Knöchel bluten und bis die Schluchzer nicht mehr von den Grabsteinen wiederhallen.
Den restlichen Vormittag schreibe ich, wie die anderen auch. Ich schreibe wie besessen, schreibe einen Text, der ähnlich ist wie dieser. Dann markiere ich alles, was ich geschrieben habe und drücke auf ENTF. Und schreibe etwas Lustiges. Etwas, in dem eine Katze vorkommt. Als ich weiß, dass ich mich kaum mehr elender fühlen kann, schleppe ich mich nach oben und falle in einen tiefen Schlaf. Am Nachmittag erwache ich, stehe auf und merke, dass ich meine Laufsachen noch immer anhabe. Ich blicke auf mein Handy. Keine neuen Nachrichten. Erleichtert sacke ich zusammen. Anschließend springe ich in den Pool.
Um Vier treffen wir uns unten, um in den Nachbarort zu fahren. Ich sitze zwischen Mattheus und Mercedes hinten in Wolfgangs Bus und schaue der Landschaft zu, wie sie am Fenster vorüberzieht. Der Ort liegt auf einem Berg, eine alte Stadtmauer, überhaupt ist hier alles alt. Wir stehen eine Weile am Aussichtspunkt und alle fotografieren Mercedes, die sich, aus einer Gewohnheit heraus, vor den Zedern in Szene setzt. Auf dem Weg in die Altstadt fragt mich Mattheus, an was ich derzeit schreibe. Ich sage wahrheitsgemäß, ich wüsste es nicht. Er fragt, ob es, wie in meinen letzten Arbeiten, um Zufall und Fatalismus ginge und ich schaue verwundert auf. Ist mir nie klar gewesen, dass ich stets über dasselbe schrieb.
„Vermutlich“, entgegne ich und vermute, dass er Recht hat.
Mattheus geht noch eine Weile neben mir, als wartet er auf etwas. Schließlich frage ich: „Und du? Hast du ein aktuelles Projekt?“
Mattheus grinst schief: „Nein“, antwortet er. „Ich bin nur wegen Mercedes hier.“ Dann lacht er etwas zu laut. Und ich lache etwas zu laut mit, ich wusste gar nicht, dass Mattheus auch witzig ist. Schließlich räuspert er sich: „Aber im Ernst, ich arbeite an einem Poproman. 150 Manuskriptseiten sind schon fertig.“
„Ah!“, mache ich. „Dann bist du also hier, um zu kürzen!“
Als er keine Miene verzieht, lache ich. „Auch ein Witz.“
„Um was geht es?“, frage ich höflichkeitshalber.
„Um einen unscheinbaren Typen, der sich in eine Berühmtheit verliebt“, sagt Mattheus und macht ein Gesicht, als wolle er sich entschuldigen. „Der Plot ist noch dürftig, aber der Erzählsound wird dir gefallen!“, verspricht er.
Ich hätte mich jetzt wieder den anderen zuwenden können, aber ich schätze Mattheus wirklich. Und er kann ja nichts dafür, dass er Mercedes mag und diesbezüglich nur durch Ironie aufrichtig sein kann. Schriftstellerisch ist er so viel besser als jeder von uns. Selbst besser als Wolfgang.
„Vielleicht magst du ja mal querlesen“, beginnt er wieder mit seinem Roman. Er druckst irgendwie herum. „Ich will unbedingt verhindern, dass Mercedes denkt, ich schreibe über sie.“
Unsere Blicke verharken sich und etwas in meinem Ohr beginnt laut zu fiepen als ich kapiere, dass Mattheus wirklich nur wegen Mercedes hier ist.
Ich weiß, dass ich es jetzt tun muss. Dass es später nicht mehr ginge und alles sich in einer verqueren Situation verlaufen wird. Als wir etwas zurück geblieben sind, packe ich ihn an seiner Barbourjacke und drücke ihn in eine Nische.
„Spinnst du?“, ruft er. Ich wundere mich selbst über meinen Mut, presse ihn fest gegen die alte Stadtmauer und signalisiere ihm, nun den Mund zu halten. „Du bist neu hier!“, sage ich in einem möglichst scharfen Ton. Einem Ton der ihm klarmachen soll, dass ich ihn töten würde, wenn er meinen Anweisungen nicht Folge leistet. Ich zweifle, dass es mir gelang. „Eine einzige Regel bezüglich Mercedes“, sage ich. Seine Augen fixieren mich erschrocken, aber aufklarend, er hat also verstanden. „Du wirst nichts über sie schreiben“, hisse ich ihn an. „Egal was passiert, du wirst nicht darüber schreiben. Wenn du mit ihr schläfst, wenn du dich in sie verliebst, selbst wenn sie über dich schreibt: Du wirst NICHT über sie schreiben!“
Ich lockere meinen Griff. „Verstanden?“ Er schaut mich verständnislos an. „Wieso sollte ich nicht über sie schreiben?“ Ich grinse. Er kennt sie wirklich nicht. „Keine Zeile. Kein Tagebuch, keine Kurzgeschichte. Und deinen beschissenen Roman trittst du in die Tonne, wenn er auch nur ansatzweise von Mercedes handelt.“
„Aber warum…?“
Ich presse ihn fester an die Wand. „Du kannst sie haben. Aber nicht ihre Geschichte. Verstanden?“
Mattheus scheint über die Bedeutung meiner Worte nachzudenken, etwas rattert wie eine Schreibmaschine in seinem Kopf. Schließlich schaut er mich mit ernstem Blick an. „Einverstanden.“
Ich lasse ihn wieder los. Mattheus Gesichtszüge entspannen sich wieder. „Was war das denn eben?“
„Mein voller Ernst“, erwidere ich. „Mein voller Ernst.“
Als wir die Stufen zur Altstadt hinauf keuchen, hält er mich noch einmal zurück: „Wenn dir das so wichtig ist, halt ich mich dran. Ich will nur eines wissen: Du und Mercedes... Habt ihr…?“ Er schaut mich fragend an. Ich schweige.
Schließlich, als die Stille ihren Effekt zu verlieren beginnt, antwortete ich: „Natürlich.“
Keine zwei Minuten später sitzen wir oben und rühren in einer zähwarmen Schokolade, die so süß schmeckt, wie sie aussieht. Mattheus blickt nachdenklich in die Ferne. Gegenüber der Straße verliert sich der Platz in einem Aussichtspunkt, hinter dem die Weite der Hügel beginnt. Ich nicke ihm zu. „Das erste Mal werde ich nie vergessen!“ und lecke mit der Zunge über die Lippen. Die Schokolade war süß, aber auch ein Gaumengenuss. Wolfgang führt die Gruppe jedes Jahr am ersten Tag hierher. Mattheus‘ Mundwinkel zucken und seine Augen richten sich auf Mercedes. Wie damals, vor fast zehn Jahren, schlingt sie ihre Schokolade genussvoll Löffel für Löffel hinunter und ein schwarzbrauner Rahmen konturiert ihren Mund. Sie war damals ein aufgewecktes, talentiertes Mädchen gewesen und Ines liebte sie von diesem Moment an. Es ist beinahe rührend zuzuschauen, wie sehr Mercedes diese Schokolade, diesen Schokoladentag mochte. Wir waren jedes Jahr hier gewesen. Nur einmal hatte Wolfgang den Schokoladentag ausfallen lassen. Letztes Jahr. Ich frage mich, warum. Was gewesen war. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Der Schrecken begann doch erst danach. Ich schaue Wolfgang an, als könnte ich aus seiner Mimik die Antwort herauslesen. Er schlürft die Schokolade und zieht, anders als seine Tochter, ein Gesicht, als könne er die süße Plörre in Wirklichkeit nicht ausstehen. Als sich unsere Augen treffen, setzt er sofort seinen strahlenden Blick auf. „Na, mein Lieber“, sagt er, „Hast du dich bereits entschieden, worüber du schreiben willst?“
Alle am Tisch schauen mich erwartungsvoll an. Alle, außer Mattheus. Natürlich will Wolfgang nur das Eis brechen, einen Small-Talk in Gang bringen. Dabei hätte er wissen können, dass die Antwort auf diese Frage nichts weniger ist, als das Öffnen einer pandorischen Büchse. Es gibt nichts worüber ich schreiben will. Es gibt nur dieses eine, einzige Thema, über das ich schreiben muss. Die anderen ahnen es, Mercedes weiß es und Mattheus schaut mich plötzlich gespannt an. Ich setze langsam meine Tasse auf den Unterteller und seufze. Ich richte meinen Blick ernst auf Wolfgang und sage mit fester Stimme, feierlich. nickend: „Ja.“
Die Tage in der Toskana verlaufen seit zehn Jahren, seitdem ich und Ines das erste Mal dabei gewesen waren, gleich. Und die fünfzehn Jahre vor uns, vermutlich ebenfalls. Am Vormittag doziert Wolfgang über ein bestimmtes Thema. Diese Woche über unzuverlässige Erzähler am Beispiel von Nabokov und Herrndorf. Anschließend ziehen sich wir Schriftsteller zurück und vertiefen sich in unsere Arbeit. Ines und Mercedes lagen derweil in ihren Bikinis am Pool oder machten Yoga oder aßen Kirschen. Am Nachmittag bot Wolfgang eine Exkursion an und ich kann mich an keine einzige erinnern, an der nicht entweder etwas von Piero della Francesca oder etwas von den Etrusker besichtigt wurde. Meist kehrten wir spät abends zurück und die Nachbarsfamilie wartete bereits ungeduldig darauf, den Gästen ein italienisches Drei-Gänge-Menü aufzutischen, das die nächsten zwei Stunden unsere volle Aufmerksamkeit beanspruchen würde.
Am Freitag fühlt es sich beinahe wie früher an. Als sei Ines gerade spazieren, oder länger im Bad, oder bereits aufs Zimmer gegangen. Mattheus und Mercedes leisten sich eine lautstarke Affäre, die Alten echauffieren sich, am lautesten Peter, und Wolfgang tut wie immer so, als bemerkte er von nichts. Ich sitze stundenlang am Fuß des Weinberges und spüre diesem Schmerz nach, an dem ich mich die letzten Wochen so wund gefühlt habe, dass alles in mir taub ist. Wenigstens schreibe ich Sätze wie diese in mein Moleskine und hoffe, dass es wahre sind. Um ehrlich zu sein, habe ich während der Woche nur einmal etwas gefühlt. In der Kirche der Heiligen Klara in Assisi, als ich in einer der hinteren Bänke sitze, das Gemurmel der Pilger an den Wänden widerhallt und ich aus der Gewohnheit heraus vor mich hin bete. Eine einzige Erinnerung genügte. Wie ich, kurz bevor sie eingeliefert wurde, mit ihr in einer ähnlichen Kirche saß und wir so inbrünstig überzeugt waren, dass sie es schaffen würde, dass damals wie heute sofort dieser Pfropfen, der das Meer der Trauer in meinem Unterbewusstsein verwahrt hielt, herausgezogen wurde. Und das, was an die Oberfläche zwängte, diese kontinentale Welle an Gefühlen, zu übermächtig, als dass man sie einfach so wieder unter Kontrolle bringen könnte, die schwappte in der Kirche über mich. Nur ein klein wenig hatte sich der Pfropfen gelockert. Nur so viel, dass die Schutzmechanismen ausgelöst wurden und sich gegen die tonnenschwere Flut zu stemmen begannen. Mit der ganzen Wucht meiner Verdrängungsmechanismen stieß ich den Pfropfen zurück in die Öffnung. Niemand will einen schluchzenden Mann ertragen, der sich, versteckt zwischen den Kirchenbänken auf den Boden kauert.
Sämtliche Kraft war aus mir gefahren, als mich Wolfgang aus der Kirche führte. Ich schlief zwei Stunden am Platz vor der Kirche auf einer Bank.
Das ist die einzige Gefühlsregung, die ich mir während der Woche erlaubte.
Nun überwiegt wieder die Eifersucht. Natürlich bin ich nicht eifersüchtig darauf, dass Mercedes ihn vielleicht liebt oder so. Es ist mehr, dass etwas fehlt und ich eifersüchtig bin, dass Mercedes das gerade hat. Oder Mattheus. Was ja auf das gleiche hinausläuft. Jedenfalls, ich schreibe und schreibe, während Mercedes und Mattheus den ganzen Vormittag nicht aus dem Mädchenzimmer herauskommen und nur ab und an ein Stöhnen oder ein Schrei zu hören ist. Am Freitagnachmittag ist meine Geschichte fertig. Wolfgang gebe ich nur einen Auszug. Natürlich weiß er, worüber ich schreibe. Seit zehn Jahren kritisiert er mich dafür, dass ich literarisch unfrei bin und ich meine Figuren zu sehr von der Wirklichkeit lenken lasse. Aber diesmal weiß ich beim besten Willen nicht, wie ich die realen Katastrophen literarisch noch mehr auf die Spitze treiben könne.
„Ich will das gar nicht lesen“, sagt er nach den ersten Sätzen. Da weiß ich, dass es gut ist.
Die letzte Exkursion führt uns zu den Schwefelquellen von Bagno Vignoni. Wolfgang referiert während der gesamten Fahrt über den Maneurismus im Werk von Piero della Francesca. Auf halber Strecke flüstert mir Mercedes ins Ohr: „Immer wenn er wütend ist, dasselbe. Er versucht sich zu beruhigen, indem er alle vor Langeweile umbringt.“
„Was meinst du?“, flüstere ich zurück.
„Er hat uns heute Morgen im Bett erwischt.“
Ich schließe die Augen und lausche der umbrischen Landschaft, die an uns vorüberrauscht. „Warum tust du das eigentlich?“, frage ich schließlich.
„Warum nicht?“
Ich beschließe zu schweigen. Aber als die Argumente, warum die Maria Magdalena von Piero della Francesca ein epochales Meisterwerk sei, immer dinglicher werden, nähere ich mich langsam Mercedes` Ohr. Ich kenne ihren Duft, weiß, wie sich ihr Haar an meinen Lippen anfühlt. Sie reckt ihre Wange sanft gegen meine. Ich schließe die Augen. „Du willst wissen, warum nicht?“
Ich spüre, wie sie lächelt. „Gut“, flüstere ich und lasse mir Zeit bis ich ihr ins Ohr antwortet: „Weil es Mattheus umbringen wird.“
Vor uns blickt Wolfgang misstrauisch in den Rückspiegel und machte einen derben Scherz über einen Italiener, der uns gerade überholt. Mercedes und ich lachen etwas lauter als es der Witzigkeit angemessen ist.
„Nein“, sagt Mercedes bestimmt und wir lauschen wieder den Ausführungen ihres Vaters.
Wir parken irgendwo an einer Schotterstraße in einer atemberaubend schönen Landschaft, die einzig deshalb an Reiz einbüßt, weil es in der Region kaum nicht atemberaubend schöne Landschaften gibt. Mattheus, der im anderen Wagen mitgefahren ist, versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln, als wir einen Pfad in ein Naturschutzgebiet hinein wandern. Im Grunde will er mir sagen, dass Wolfgang ihn inflagranti mit seiner Tochter erwischt hat und fürchtet, dass seine Karriere als Schriftsteller somit zu Ende ist. Aber er sagt nichts. Stattdessen spricht er mir sein Beileid aus und behauptet, er hätte erst heute erfahren, dass Ines tot ist. „Willst du darüber reden?“, fragt er.
Ich will nicht. „Mein Text handelt von ihr. Du wirst morgen alles erfahren“, sage ich. Aus Mattheus‘ Blick lese ich eine Art Überraschung. Er hat mir wohl nicht zugetraut, dass ich mich Knausgardscher Entblößungsiteratur zugewandt habe
„Ich war mir sicher, du schreibst über Mercedes.“
Da muss ich dann doch lächeln. Anscheinend geht mein Plan auf. Ich schüttle vielsagend den Kopf. „Ich schreibe über Ines.“
„Darf ich fragen, woran sie gestorben ist?“
Ich tippte an meine Stirn. Mattheus könnte es auch so interpretieren, dass ich ihm den Vogel für die unverschämte Frage zeige. Aber er weiß wohl seinerseits mehr, als er preiszugeben bereit ist.
„Gehirntumor?“, fragt er.
„Glioblastom“, entgegne ich.
„Ich habe Arbeit und Struktur gelesen“, sagt Mattheus, als mache ihn das zu einem Experten für Glioblastome.
„Das haben wir alle. Manche sogar vier Mal.“
„Wie viel Zeit hatte sie denn von der Dianose bis zum… Nun ja…?“
„Bis zu ihrem Exitus? Fast zwölf Monate.“
„Ging es schnell?“
Mattheus kann nichts dafür, dass er talentiert ist UND gut aussieht. Es ist leider konsequent und folgerichtig, dass er und Mercedes im Bett gelandet sind. Es täte zumindest mir gut, ihm einige Brocken kotzgräßlicher Realitätsfetzen hinzuwerfen, denke ich. Also beginne ich zu plaudern. „Nach der Diagnose baute sie rasend schnell ab. Auf einmal saß sie im Rollstuhl und war halbblind. Konnte nichts mehr schreiben. Nach der OP erholte sie sich nur langsam. Und als es ihr wieder besser ging, zersetzte die Chemo den Rest ihrer Kraft, der noch übrig war. Einige Wochen um Weihnachten herum hatten wir noch, da hofften wir, dass sie es packen könnte. Dann kam schon das Rezidiv. Und etwas in ihr brach aus, das man den Arschloch-Tumor nennt.“
Ich schaue Mattheus an. „Davon hat Herrndorf nichts geschrieben. Das liest du nur zwischen den Zeilen. Ich bin froh, dass die Glioblastom-Ines tot ist.“
Der Pfad führt nun die Felsen hoch und an einigen Passagen müssen wir sogar klettern.
„Wann ist es denn passiert?“, fragt Mattheus keuchend, als er sich zwischen den Sandsteinfelsen hoch hievt.
„Letzte Woche war die Beerdigung.“
Der letzte Satz klingt noch eine Weile nach. Zumindest in meinem Kopf. So richtig klar habe ich mir die ganze Sache selbst noch nicht gemacht. Während wir durch den gelben Sandstein klettern und es mehr und mehr nach faulen Eier zu riechen beginnt, beschwichtige ich mich, dass dieser Satz nicht ganz so gravierend ist, wie es in Mattheus‘ Gesichtszügen abzulesen ist. Gestorben ist sie ja vor fast zwei Wochen. Und verabschiedet habe ich mich von ihr bereits vor über einem Monat. Und überhaupt kommt es mir schon wie eine Ewigkeit vor, seit ich das letzte Mal in Ines‘ Augen geschaut habe und es noch Ines war. Ich meine, die echte Ines.
Die Schwefelquellen sind in einen gelben Hang gebettet. Mercedes möchte baden und Mattheus und ich beschließen, hierzubleiben. Die anderen wandern weiter zu einer archäologischen Sehenswürdigkeit. In schmalen Rinnsalen läuft das Wasser aus einer Quelle, die sich nicht orten lässt, in den gumpenartigen Teich. Von dem Plateau aus, auf dem sich der Teich gebildet hat, lässt sich über ein weites Tal blicken und zu einem weiteren Hügel, auf dem eine Burg zu sehen ist. Vielleicht eine Ruine. So genau lässt sich das aus der Entfernung nicht erkennen. Nur, dass es schön aussieht. Als ich mich umdrehe, sehe ich etwas anderes, das ich lange nicht mehr gesehen habe. Mercedes springt völlig nackt in die Schwefelquellen. Mattheus schaut ebenso verdutzt wie ich. Sie schaffte es mit einer ähnlichen Aktion einmal auf die Online-Seite der Bild-Zeitung, aber es so in echt zu sehen, das war neu.
„Na los!“, fordert sie uns auf. „Zieht euch aus! Das hier ist kein Kindergeburtstag!“
Mattheus schaut mich unsicher an. Er wirkt peinlich berührt. Ich kann aus seinem Blick nicht herauslesen, ob es an Mercedes liegt, oder an meiner Anwesenheit. Oder an der nicht geringen Möglichkeit, dass ihr Vater ihn heute noch ein zweites Mal nackt sehen würde.
Ich kenne Mercedes, trotz allem, besser als er und stolpere aus meiner Hose. Als Mattheus Anstalten macht, sich doch noch Wolfgangs archäologischer Expedition anzuschließen, packe ich ihn am Arm. Es ist mir in diesem Moment völlig egal, dass ich nackt bin, etwas in mir ist auf fatalistische Weise davon überzeugt, dass es epochal entscheidend für den restlichen Verlauf meines Lebens ist, dass Mattheus bleibt.
„Die Amerikaner nennen es seize the moment“, sage ich. Er schüttelt den Kopf, schüttelt sich. „Seize heißt nicht einfach, etwas zu nutzen wie im deutschen Sprichwort“, flüstere ich ihm scharf ins Ohr. „Seize steht für ergreifen, packen, angreifen!“ Ich nicke ihm vielsagend zu, ohne selbst zu wissen, wohin das alles führen soll. Und springe ins Wasser.
Das Wasser stinkt. Es ist nicht schmutzig oder unrein. Es ist einfach ein von Schwefelgasen durchsetztes Quellwasser. Warm, der Boden morastig, die Füße schmatzen mit jedem Schritt im Schlick.
Mercedes lächelt, sinkt ins Wasser und schwimmt auf mich zu. Ihre Schwimmzüge sind grazil. Mattheus sieht ihr zu, wie ihr Po durch das türkisen Wasser gleitet. Er steht zaudernd am Ufer. In seinem Alter wäre eine Situation wie diese auch für mich die Hölle gewesen.
In den ersten Minuten ist es ein Schock gewesen, als ich begriff, was Mercedes vorhatte. Ihre Nacktheit, ihre Natürlichkeit. Ihre Selbstverständlichkeit. Erst als Ines meine zitternde Hand nahm, hatten sich die verwirrenden Mosaiksteinchen zusammengefügt.
Ihre Haare tropfen auf meine Schultern, sie umarmt mich. Ein heißer, nach Schwefel duftender Körper. Ihre Lippen berühren mein Ohr. „Ich bin immer noch dieselbe“, sagte sie.
„Du vergisst eine Kleinigkeit, die anders ist.“
Sie schließt die Augen. „Du sollst fühlen, nicht denken.“
Ich schließe die Augen. „Das hat Ines damals auch gesagt.“
„Ich war dabei“, flüstert sie. Und nach einer kurzen Pause, in der die Aura ihres Körpers längst in meinen gedrungen ist, fügt sie hinzu: „Sie war außergewöhnlich. Sie wird immer da sein.“
Wir küssen uns, unsere schwefligen Lippen berühren sich. Ein Platschen lässt sie innehalten und dieser unendlich kurze Moment des Beendens hinterlässt ein Fehlen auf meinen Lippen, das nicht weniger erstaunlich ist, als das Bild des uns entgegenkraulenden Mattheus.
Ich verstehe in diesem Moment, wie die Erzählung, die ich die ganze Woche über geschrieben hatte, enden wird.
Am Tag vor der Abreise präsentieren wir Autoren, wie jedes Jahr, die während der Woche entstandenen Texte. Der Autor liest vor, die Gruppe diskutiert über Form und Inhalt. Wolfgang spricht einige larmoyante Worte, dann ist der nächste dran.
Mattheus wird als erster aufgefordert, seine Arbeit vorzutragen. Er kramt seinen Spiralblock hervor und blättert hektisch zwischen den Seiten. Er sieht mich an, etwas hilfloses in seinem Blick. Ich schüttle den Kopf und erinnere ihn telepathisch an unsere Abmachung. Mattheus murmelt etwas davon, dass es ihm nicht gelungen sei, in dieser Woche etwas zu schreiben. Stattdessen liest er den uninspirierten Entwurf eines Krimis vor, den er zu schreiben überlegt. Alle raten ihm davon ab. Alle wirken erleichtert, als die unangenehme Besprechung vorbei ist und der nächste liest.
Mercedes trägt ein Kapitel ihres entstehenden Romanes vor. Es geht um eine polyamouröse Beziehung. Der gesamte Text ist, ganz untypisch für sie, sehr philosophisch und dialektisch aufgebaut. Bis auf Wolfgang sind alle offen enttäuscht. Jeder hat sich insgeheim etwas mehr Sex erwartet. Peter liest einen in Mundart verfassten Schwank vor, der noch belangloser ist, als die Moralstücke, die er die letzten Jahre geschrieben hatte.
Meiner ist der letzte Text. Die Stimme des radikal ehrlichen Ich-Erzählers lässt sich gut vorlesen. Ich nenne alle Beteiligten bei ihrem richtigen Namen und sehe, immer wenn ich aufblickte, wie die Gesichter von Wolfgang und Mattheus mit jedem Abschnitt mehr versteinern.
Der Erzähler, der ich war, berichtet beinahe naturalistisch von diesem einen Abend in der Toskana und was sich zwischen Ines, Mercedes und ihm ereignet hatte. Er beschreibt zunächst das harmlose Abendessen, bei dem viel Wein getrunken wurde. Schließlich die beiläufige Bemerkung von Mercedes, dass sie müde sei und sich schlafen legen wolle. Und diesen Blick, den sie mit Ines austauschte, den Ines sofort richtig verstand. Er lässt die Minuten verstreichen, ehe Ines zu ihrem Mann sagte: „Komm, lass uns noch raus gehen, die Glühwürmchen anschauen!“ Vor den geistigen Augen der Zuhörer lässt der Erzähler noch einmal die sternenklare Juninacht aufleben. Die Zirpen der Grillen, die Glühwürmchen. Das trockene Gras. Mercedes, deren nackter Körper sich silbern im Mondlicht räkelte. Nur einen kurzen Augenblick gewährt der Erzähler den nötigen Realismus. Das Zaudern, die Bedenken, das süße Entsetzen. In knappen Worten folgt das forsche Handeln seiner Frau. Einer Ines, die er so noch nie erlebt hatte. Betört vom Wein, sinnlich. Im Augenblick lebend. Eine Frau, ihrem Innersten folgend, als sei es der letzte Tag ihres Lebens. Der Erzähler schildert die Einheit dreier Menschen, die sich auf verschiedene Weisen liebten, auf trockene, fast lakonische Art. Während ich den Text vorlese und Mattheus‘ Blick immer starrer die Tischplatte durchbohrt, kommen die Erinnerungsfetzen von gestern wieder hoch. Dieses unaussprechliche Jetzt und die Peinlichkeit, nachdem sich das Jetzt in einer Explosion aufgelöst hat. Das Zusammensuchen von Kleidern, das Vermeiden von Blicken und Worten.
Die Geschichte endet in einem magischen Realismus. Ines verwandelt sich in Mattheus. Besser gesagt, Mercedes und der Erzähler verschwinden und die Zeit wird zurückgedreht auf dieses eine Mal, als Ines mit Mattheus geschlafen hatte.
Die Geschichte endet mit einem Glühwürmchen, das einen Moment lang hell leuchtend seine Kreise durch die Dunkelheit zieht, ehe plötzlich sein Licht erlischt.
Ende
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