Nach Ende des zweiten Weltkrieges hatte mein Großvater, der Zimmerermeister Hans Straßer aus Kirchanschöring, eine Begegnung mit der deutschen Schriftstellerin Luise Rinser.
Luise Rinser lebte damals in einem Häuschen in Kirchanschöring, war bereits als Schriftstellerin bekannt und war wegen Wehrkraftzersetzung, ebenso wie mein Großvater, von den Nationalsozialisten verhaftet worden.
Grillen zirpten am Bahndamm und kündigten eine weitere schwüle Nacht an. Noch immer waren die wenigen Züge, die täglich Richtung Salzburg oder München fuhren, zum Bersten gefüllt, noch immer trugen viele Uniform, meist amerikanische. Nur die Gesichter waren fröhlicher, entweder weil es Sommer war, oder weil es sich um Heimkehrer handelte. Das Mädchen, das sich den leicht erhöhten Bahndamm als Spielplatz gewählt hatte, konnte von hier aus die Häuser der diesseitigen, sowie der jenseitigen Nachbarschaft überblicken und konnte ihrerseits von den Nachbarskindern gesehen werden.
Schon aus der Ferne hatte sie die Gestalt der Schriftstellerin, aus Voglaich kommend, gehen sehen.
Die junge Frau war die Nichte des berühmten Pfarrer Rinser, der im Dorf beinahe wie ein Heiliger verehrt wurde. Die Schriftstellerin selbst war weniger beliebt. Sie war eine forsche, direkte Person mit scharfen Ansichten. Sie hatte ein erfolgreiches Buch geschrieben, aber dann kam der Krieg. Sie zog sich in ein kleines Häuschen nahe des Dorfes zurück, das versteckt am Waldrand lag.
Das Waldhäuschen war der vielleicht abgeschiedenste denkbare Ort für eine städtische Schriftstellerin, nimmt man eine Almhütte einmal aus und vielleicht hoffte sie, in der Distanz zur Hauptstadt der Bewegung, ungehört zu bleiben.
Sie lebte dort mit einem homosexuellen Marxisten zusammen, den sie durch einen Trauschein deckte, zumindest behauptete sie dies später in ihren Büchern. Im Dorf hielt man sich an das alt bewährte Prinzip leben und leben lassen und solange sie sich nicht aufrührerisch betätigte, tolerierte man die Anwesenheit der Schriftstellerin.
Es war kein Geheimnis, dass die Frau zu den bitteren Regimegegnern gehörte, aber solange sie in dem Haus am Waldrand lebte und keinen Ärger machte, war der Dorffrieden gewahrt.
Die Schriftstellerin kannte die Codes und offiziellen Redewendungen, die bezüglich des Führers und der Partei zu verwenden waren und fügte sich in dem was sie sagte und schrieb der indirekten und direkten Zensur.
Ausgerechnet der ehrlich gemeinte Rat an eine Freundin, ihr Mann, ein Militär an der verlorenen Ostfront, solle desertieren, da das ganze System ohnehin bald in sich zusammenfiele wie ein Kartenhaus, brachte sie ins Zuchthaus. Die Freundin denunzierte die Schriftstellerin und einen Tag darauf saß sie bereits im Zuchthaus ein.
Als die hagere Gestalt der Schriftstellerin aus dem Schatten der Bahnunterführung hervortrat, waren ihre Schritte fest, fast beschwingt. Sie sah das Mädchen am Bahndamm sofort, sie war eine aufmerksame Frau.
„Ist dein Papa zu Hause?“ rief sie.
Das Mädchen lächelte. Sie hatte ihren Vater in den letzten Jahren so selten gesehen, dass sie eine wärmende Freude erfasste, wenn sie sagen konnte, dass ihr Vater zu Hause war.
„Ja, er ist im Haus!“, rief sie und die Frau ging erhaben, mit eiligen Schritten aufs Haus zu.
Hans, der Vater des Mädchens, war seit dem Winter immer zu Hause. Er lag meistens im Bett und hustete, hustete manchmal Blut, seit Sommer ging es ihm besser.
Ihr Vater war ein stolzer Mann und ein genialer Zimmerer, der zusammen mit seinem Bruder eine florierende Firma betrieben hatte. Sein Selbstbewusstsein stammte daher, da sein Vater der Bürgermeister des Dorfes gewesen war, eine stattliche Person mit einem Respekt einflößenden Schnurrbart, der durch eine hinterlistige Intrige zwar sein Amt, nie aber seine Ehre verlor, was ihm im Dorf hoch angerechnet wurde. Darüber hinaus war der Hans auch noch gutaussehend. Die Frauen mochten sein kantiges Kinn und seine rauen Scherze. Und er, der sich nie binden ließ, mochte die Mädchen. Vor allem, die jungen, bildhübschen.
Der Tag, an dem ihr Vater das Haus fertig gebaut hatte, ihre Mutter heiratete, sie aus der Pflegefamilie nahm und sie zu Dritt wie eine richtige Familie in das Haus einzogen, erschien ihr wie ein Wunder. Das Mädchen hatte immer daran geglaubt, auch wenn die Mutter oft geweint hatte und den Hans als „Haderlump“ schimpfte.
Die erste Zeit im Haus war die schönste Zeit in ihrem Leben. Zwei kleine Brüder kamen auf die Welt. Es wurde im Gau viel gebaut, mal kriegsbedingt, mal nicht und die Firma vom Hans bekam zahlreiche Aufträge, vor allem, weil sein Bruder ein überzeugtes Parteimitglied war.
Der Hans selber war ein Pragmatiker, ein Handwerker, aber der Überzeugung, dass es keinen scharfen Verstandes bedurfte um zu erkennen, dass dieser Führer ein ganzes Land in den Abgrund riss.
An den Abenden traf er sich mit einigen weiteren Männern der Nachbarschaft bei seinem ältesten Bruder, der ein Radiogerät besaß, mit dem man die Feindsender abhören konnte. Dessen ältester Sohn musste passte auf der Veranda auf, dass sich keiner der Nachbarn, die nicht dabei waren, näherten um nachzuschauen, was hinter den zugezogenen Vorhängen vor sich ging.
Die Schriftstellerin wusste, dass der Hans die Feindsender hörte und kam mehrmals wöchentlich vorbei, um den genauen Verlauf der Front zu erfragen.
Die schöne Zeit als richtige Familie endete im Winter. Ihr Vater erklärte ihr, dass er nun in den Krieg ziehen müsse, wie alle anderen Männer auch.
Sie weinte tagelang, weil sie wusste, dass im Krieg die Männer sterben und weil sie sich gerade erst daran gewöhnt hatte, einen Vater zu haben.
Kurz nach Weihnachten kamen Nachrichten aus Frankreich. Ihr Vater hatte am Heiligabend während einer geselligen Feier mit seiner Kompanie angekündigt, den Führer zu erschießen, wenn er nur nahe genug an ihn heran käme. Er sei ein guter Jäger, hatte er seine Worte verstärkt, und er würde ihn mit Sicherheit tödlich treffen.
Ein Engelsberger Kamerad denunzierte ihn, er wurde verhaftet und den Rest der Nacht in einen Eiskeller gesperrt, wo er die kommenden Tage blieb.
Im Dorf, wo der Hans einen guten Namen hatte und wo es letztendlich nicht auf ein Parteibuch ankam, intervenierte der Gauleiter und entkräftigte den Vorwurf der Wehrkraftzersetzung und wandte die damit verbundene Todesstrafe ab. Ein Suffkopf sei er, der im betrunkenen Zustand wirr redete, ein durch und durch unpolitischer Mensch sei er, stand in dem Schreiben.
Als der Hans wenig später zurückkehrte, war er krank und war bisher nicht mehr gesund geworden.
Das Mädchen folgte der Schriftstellerin in das Haus. Der Vater saß in der Küche unter dem Herrgottswinkel. Die Schriftstellerin hatte sich mit verschränkten Armen und funklenden Augen vor ihm aufgebaut. Die Mutter stand gegenüber und wusch teilnahmslos das Geschirr. Sie mochte die Schriftstellerin nicht.
Das Mädchen huschte ins Zimmer und setzte sich leise auf ihr Bett und spielte mit einer Puppe, als hörte sie dem Gespräch nicht zu.
„Die müssen bezahlen, Hans“, sagte die Schriftstellerin mit scharfer Stimme.
„Jeder einzelne dieser Mörder muss seine gerechte Strafe erhalten“, wiederholte sie.
Der Hans schüttelte den Kopf und hustete.
„Schau dich doch an“, sagte sie. „Schau, was sie aus dir gemacht haben. Das hast du alles denen zu verdanken. Wie kannst du überhaupt damit leben, dass der, der das verbrochen hat, frei herumlaufen darf, als sei nichts gewesen?“
„Dann müsste man halb Deutschland einsperren. Nein, nein, das bringt doch nichts.“
„Und wenn man ganz Deutschland einsperren müsste“, entgegnete sie und sie schnaubte wie ein gereizter Stier kurz vor der Attacke. „Ja, sollen die ganzen Großkopferten alle gehenkt werden. Aber die eigentlichen Verbrecher sind doch all diese Mitläufer, die das Regime gestützt und damit erst möglich gemacht haben.“
Der Hans hustete und sagte mit heiserer Stimme: „Sei doch froh, dass du nur ein paar Tage im Zuchthaus gelandet bist und nicht in Dachau.“
„Darum geht es ja, hätte ich nicht so gute Beziehungen gehabt, dann wäre ich heute wegen Wehrkraftzersetzung verurteilt und hätte sechs Löcher in der Brust“, sagte sie und fügte empathisch hinzu: „Und du auch, Hans.“
„Aber wir leben beide noch. Und der Krieg ist vorbei, der Hitler ist tot und das Leben geht weiter.“
„Das Leben darf aber nicht weitergehen!“, schrie sie ihn an, „Millionen sind krepiert und bevor es weitergeht, müssen die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. Und das fängt im Kleinen an. Ich werde nicht ruhen, ehe der letzte Nazi seine Strafe abgesessen hat.“
„Und was hab ich davon? Ich bin schwer krank und mir bleibt nichts anderes übrig als jeden Tag zu hoffen, dass ich nicht krepier und dass ich den nächsten Winter halbwegs überlebe. Ich möchte einfach abschließen mit der Vergangenheit. Was passiert ist, ist passiert, von einem Prozess werde ich auch nicht wieder gesund.“
„Du vielleicht nicht. Aber das Land.“
„Ach, hör mir auf mit dem Land. Weißt du, was mir meine Spezl angeboten haben? Und ich betone, dass mir der Rat meiner Freunde um einiges wichtiger ist, als der einer vergeistigten Nachbarin. Die baten um meine Erlaubnis, mit einem Trupp, bewaffnet mit Dreschflegel und Stöcken, nach Engelsberg zu fahren und meinem Denunzianten eine Lektion zu erteilen.“
„Das hat er auch verdient. Du hast hoffentlich zugestimmt.“
„Nein, habe ich nicht. Wir haben alle unsere Fehler gemacht in den letzten Jahren und ich will endlich mit der Sache abschließen.“
„Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen“, sagte sie ernst und ihre Stimme vibrierte. „Du bleibst also bei deinem Wort und wirst keine Anklage erheben?“
Hans schüttelte den Kopf, hustete und antwortete heiser: „Nein, in Gottes Nam.“
„Du verdammter Sturkopf, du“, polterte sie mit schneidender Stimme, machte kehrt, knallte die Küchentür zu und stapfte wutschnaubend zurück nach Voglaich.
Das Mädchen ging wieder nach draußen lief wieder auf den Bahndamm hinauf. In der Ferne sah sie die Gestalt der Schriftstellerin, wie sie, noch immer gestikulierend, in Voglaich verschwand.
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