Sonnwende

Coming of Age Kurzgeschichte für Jugendliche

Rund um die Sonnwende sind die magischsten Tage eines Sommers. Auch für den 16-jährigen Erzähler. Auf dem Weg zum Sonnwendfeuer freut er sich auf Leonie. Ihr Wiedersehen wird anders als erhofft. Im Guten wie im Schlechten. 

Coming of Age Kurzgeschichte für Jugendliche über das Erwachsenwerden, die erste Liebe und die großartigsten Sommernächte der Jugend.

Stetig bergauf radelten wir durch die blühenden Hügel zum Bokraxnberg hinauf zur großen Feier. Es war Peter und Paul, weil es die letzten Abende gewittert hatte und die Freiwillige Feuerwehr das Fest immer wieder verschieben musste. Leonie war inzwischen vierzehn, zwei Jahre jünger als ich. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie noch dreizehn gewesen. Es kam mir ewig vor, und ich hatte die Wetterkapriolen verflucht. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich die Regentropfen, die an meinem Spiegelbild herunterkullerten, als ich abends beim Fenster hinausschaute, auch für Tränen halten können. Ich hätte ihren Geburtstag gerne mit ihr gefeiert. Das „gerne“ ist eine hoffnungslose Untertreibung. Nichts in meinem Leben kam mir wichtiger vor, als an diesem Tag bei ihr zu sein. Wobei auch das nicht ganz stimmte, weil sich seit diesem seltsamen ersten Februar in meinem Leben jeder Tag so anfühlte – alles seltsam, wunderbar und erschreckend zugleich. Vor einem Jahr wusste ich weder, dass es so etwas wie die Sonnwend gab, noch, dass Leonie existierte. Und schon gar nicht, dass sie an diesem Tag Geburtstag hatte.

Obwohl Leonie und ich in dieselbe Schule gingen, war sie bis zu diesem ersten Februar unsichtbar geblieben. Oder ich war unsichtbar, und sie war es, die mich das erste Mal bemerkt hatte oder begriff, dass ich einer war, dessen Leben sie mit einem Lächeln auf den Kopf stellen könnte, obwohl ich zwei Klassen über ihr war.

Ich strampelte weiter in die Pedale, Finn und Ben hinterher, wie ich es mein halbes Leben lang schon getan hatte, und versuchte, an etwas anderes zu denken als daran, sie wiederzusehen. An der vorletzten Hügelkuppe konnte man das hoch aufgeschichtete Holz bereits sehen. Dann trug der laue Sommerwind die ersten Fetzen der Blasmusik zu uns herüber.

Finn hatte Leonie vor Monaten einmal geküsst, ich glaube, sie war sogar ein wenig in ihn verknallt. Und Ben redete immer nur davon, dass sie schon etwas für ihn wäre, später, wenn sie sechzehn wäre, oder wenn sie einen größeren Busen hätte, oder so. So redete Ben. Und ich fand es seltsam. Der Busen war doch egal, wenn man in jemanden verliebt war. Jedenfalls dachte ich das, aber was wusste ich schon. Ich war noch niemals verliebt gewesen, hatte noch nie jemanden geküsst, und Leonie war der tollste Mensch der Welt. Ich fand es falsch, dass Jungs so über sie redeten.

Das Fest war bereits in vollem Gange. Auf einer Wiese waren Bierzeltgarnituren aufgestellt. Ein Dieselaggregat brummte und die Feuerwehrler schenkten gekühltes Bier aus. Einige Trachtlerkinder machten eine Aufführung, und die Blaskapelle spielte. An den Tischen saßen die ganzen Alten. Unsere Eltern schienen nicht hier zu sein. Jedenfalls nicht meine. Einige der anderen standen unschlüssig um ihre Mofas oder Räder herum, und ich sah auf den ersten Blick, dass Leonie noch nicht da war. Keines der Mädchen aus dem Nachbardorf war da.

Ben war der Älteste von uns und setzte sich zielstrebig an einen der Tische, der bis auf ein älteres Urlauberpaar leer war. „Feindliche Übernahme“, flüsterte er. Und hatte Recht. Als die ersten Maß mit Radler auf dem Tisch standen, waren wir dem kinderlosen Paar so auf die Nerven gegangen, dass sie sich verabschiedeten.

Und dann sah ich sie. Sie parkten ihre Räder neben dem Bierausschank und schlossen sie an einem Baum ab. Leonie sah umwerfend aus. Sie trug ein langes weißes Kleid und hatte einen Blumenkranz in ihrem blonden Haar. Sie winkte mir aus der Ferne zu. Oder auch Finn. Oder Ben. Uns jedenfalls.

Sie und ihre Freundinnen kamen direkt zu uns. Und dann passierte dieses Unglaubliche, etwas, das ich mir vor dem ersten Februar nie hätte vorstellen können, von dem ich aber immer geträumt hatte. Von dem jeder geträumt hatte. Sie tanzte auf ihre kindlich mädchenhafte Weise durch die Reihen der Trachtler, und als sie unseren Tisch erreichte, nahm sie lächelnd unsere lautstarken nachträglichen Glückwünsche entgegen und ließ sich von einem nach dem anderen gratulieren. Erst Ben, der als erstes aufgesprungen war. Sie fiel ihm lachend um den Hals und mir blieb buchstäblich die Luft weg, als er sie auf den Mund küsste. Ich konnte es nicht glauben, wie einfach es für Jungs wie Ben war, von einem Mädchen geküsst zu werden. Und dann auch noch vom tollsten der ganzen Schule. Auch für Leonie schien das alles ganz natürlich zu sein. Sie löste sich von Ben und stand auf einmal vor Finn. Kurz zögerte sie, und ihre Stimme war ganz fein und brüchig, als sie auf seine Gratulation hin „Danke“ sagte. Beide schienen unsicher zu warten, und auch Finn küsste sie auf den Mund. Aber anders, so als hätten sie schon Erfahrung darin und es sei mindestens einem peinlich. Als ich an der Reihe war, schwitzte ich und alles in mir ging chaotisch durcheinander. Ich wollte ihr irgendwas Tolles sagen, aber außer „Alles Gute nachträglich zum Geburtstag“ kam nichts heraus. Ich wollte im Boden versinken, als sie mich umarmte. Ich wollte sterben und wünschte, ich hätte den Spielstand meines Lebens abgespeichert und könnte respawnen. Ehe ich kapiere, was passierte, hatte sie auch mich auf den Mund geküsst. Jetzt war ich endgültig im freien Fall. Während ich nicht mehr mitbekam, ob und wie sie die anderen am Tisch begrüßte und automatisiert Leonies Freundinnen zuwinkte, hatte ich ihren Lipgloss auf meinen Lippen. Es schmeckte nach Erdbeeren, nach vierzehnjährigen Erdbeeren, und ich konnte weder begreifen, dass ihre Lippen gerade noch auf meinen waren, noch, dass ich mich nicht mehr als ungeküsst empfinden durfte. Ich verstand gar nichts mehr, und in meinem Kopf war nur noch dieses eine Liebeslied von Mark Forster. Ich fuhr noch einmal mit der Zunge über meine Lippen.

Die nächste Stunde versuchte ich, keinen Fehler zu machen, und unternahm alles, damit dieser Tag der schönste meines Lebens blieb. Also trank ich meinen Radler, lachte mit den anderen, wenn Leonie etwas sagte, und lächelte stumm.

Als die Feuerwehr das Sonnwendfeuer anzündete, standen wir mit etwas Abstand daneben. Ben war stark, Finn ein wenig betrunken. Auch die Mädchen kicherten. Wir waren umringt von einigen Trachtlern und Jungfeuerwehrlern in unserem Alter, die alle ein Auge auf die Mädchen geworfen hatten. Leonie war unbestritten der Star der Feier. Wenigstens bei allen, die noch keine siebzehn waren. Selbst das war noch geflunkert. Einer der älteren Fußballer versuchte, sie an die Bar einzuladen, aber Leonie gab ihm einen Korb. „Ich bin fünfzehn!“, log sie. „Mir doch egal.“

Leonie warf mir immer wieder einen Blick zu. Sie lächelte, als wisse sie genau, was in mir vorging. Später nahm sie mich beiseite und sagte mit ihrer weichen, auf einmal wieder so zerbrechlichen Stimme, ob ich wisse, was Finn für sie empfinde. Ich versprach ihr, ihr zu helfen. Immer für sie da zu sein. Später sagte ich Finn, was Leonie mich gefragt hatte. Er seufzte. „Ach, Leonie. Wann checkt sie es endlich?“

Als ich Leonie später, am Rande der lodernden Flammen des Sonnwendfeuers stehend, sagte, was Finn mir gesagt hatte, flackerten ihre Augen. Ich nahm sie in den Arm und hielt sie so lange, bis es mir zu heiß wurde. „Es tut mir leid“, sagte ich. „Ich hätte alles dafür getan, dich glücklich zu machen.“

„Danke“, sagte sie und hielt mich noch einmal so fest, dass ich dachte, ich sterbe, wenn ich noch länger so nah am Feuer stehen bleibe.

Den restlichen Abend war Leonie wie ausgewechselt. Sie trank sehr viel Radler und wechselte kein Wort mehr mit Finn und wich seinen Blicken aus. Als Ben sie aufzog, dass sie auf einmal unter ihrem Kleid eine Oberweite habe, die aber sicher nicht echt sei, antwortete sie schnippisch, das sei sehr wohl echt. Er könne ja mal anfassen. Als er es tat und ausführlich überprüfte, starrte sie mit kühlem Blick Finn an. Einer der Jungfeuerwehrler, die die Szene johlend beobachteten, mischte sich ein. Er könne auch nicht glauben, dass sie so fantastische Brüste habe und diese tatsächlich echt seien. Sie streckte auch ihm ihre Brust entgegen. Mir war auf einmal kotzübel.

Ich torkelte zurück ans Feuer, das gerade krachend in sich zusammenfiel. Funken stoben auseinander und beißender Rauch wehte mir die Haare durcheinander. Etwas in mir flüsterte, dass heute nicht nur der Tag sein würde, an dem ich das erste Mal ein Mädchen geküsst hatte. So schlecht mir gerade war, hielt ich es für ebenso wahrscheinlich, dass heute der Tag war, an dem ich das erste Mal auf einem Fest kotzen würde.

Ich blieb lange am Feuer stehen. Als es fast ganz heruntergebrannt war und nur noch leicht vor sich hin glühte, kehrte ich zu den anderen zurück. Es war nur noch Ben da. Wo Finn sei, fragte ich. Mit Leonie gegangen.

Neben unseren Rädern standen die Jungfeuerwehrler, die über die krasse Tusse prahlten, die sie heute angefasst hatten.

Ben grinste. „Solche Idioten.“

Auf dem Rückweg folgten wir den schmalen Lichtkegeln unserer Fahrräder. Bergab fuhren wir viel zu schnell. Als ich verstand, dass es ab jetzt immer weiter bergab gehen würde, verließen mich sämtliche Kräfte. Ich schloss die Augen und ließ mein Rad in die Dunkelheit fahren, hoffend, darauf vertrauen zu können, dass schon alles irgendwie gut werden würde.

 

Ende


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Der Coming Of Age Roman von Berhard STraßer


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