Paartanz ist nach Vorgaben von Ursula Krechel im Kurs "Einführung in die Erzählkunst" auf der Literarischen Sommerakademie in Schrobenhausen entstanden. Ursula Krechel hatte als Inspiration die ersten beiden Sätze zur Verfügung gestellt. Der Rest der Geschichte setzte sich auf einem Jogginglauf durch das malerische Goachat zusammen. Paartanz ist bis heute eine meiner Lieblingsgeschichten. Getippt habe ich sie innerhalb weniger Stunden an einem Stück. Weitere klassische Kurzgeschichten sind hier nachzulesen!
Die Kurzgeschichte findet Ihr ganz unten als pdf Download und zudem für Lehrerinnen und Lehrer auch noch Unterrichtsmaterialien.
Sonntag.
Der Sommer war lang und staubig, ein Sommer, in dem die verschwitzte Bettwäsche dauernd gewechselt werden musste. Oder bildete er sich das ein? Oder bildete er sich ein, er wünschte sich solche Wechsel, weil er diesen Sommer mit einem früheren verwechselte?
Manu riss die Augen auf. Die Sonne schien hell in das kleine Zimmer. Etwas hatte ihn aus seiner Trance geweckt. Womöglich der Hahn, der krähte wie er immer zur Unzeit krähte, und keine Rücksicht darauf nahm, wann andere zu Bett gegangen waren. Manu hatte nicht geschlafen in dieser Nacht, die er von vornherein künstlich verkürzt hatte. Er lauschte in die Stille und hörte das vertraute Plätschern des Mühlbaches, der vor dem Fenster vorbei floss.
Sein Kopf war leer, vielleicht nicht so sehr von der letzten Nacht. Sondern von der vorletzten. Und der vorvorletzten. Und der ganzen Woche. Er schlief wenig. Dabei heißt es doch, dass Alkohol müde macht. Er drehte sich nach dem Mädchen um und betrachtete sie. Wie schön sie war. Sie lag trotz der Hitze tief in die Laken eingewickelt und presste ihr Gesicht gegen das Kissen. Ihre langen schwarzen Haare quollen hinter dem Kissen hervor. Ihre schwarz gerahmte Brille lag zwischen seinen Schuhen auf dem Boden. Manu richtete sich auf und betrachtete das Mädchen während er darauf wartete, dass sein Geist wach wurde, was nicht geschah. Er sah sie an und spürte wieder diese fast schmerzende Wärme die erst im Brustbereich begann und sich, je länger er sie betrachtete, stärker auflodernd in seinen Unterleib verschob. „Katharina“, flüsterte er und führte den Satz nur in Gedanken fort: „An Morgen wie diesen liebe ich dich mehr als je zuvor.“ Sie rührte sich unter ihrem Bettlaken, ein Gesicht lugte hervor und machte „Hm?“ als hätte sie ihn gehört. Er beugte sich zu ihr hinunter, strich vorsichtig die Haare von ihrer Wange, näherte sich ihr, kam ihr so nah, dass er ihren weichen Atem spürte und berührte mit seinen Lippen ihren Mund, hielt inne und wartete ob etwas passierte. Aber es passierte nichts und er sagte: „Ich gehe dann nach Hause.“ Sie nickte wortlos und schlief weiter.
Am Hof der alten Mühle wo er sein Auto stets parkte, blieb er kurz stehen. Er betrachtete das Gemäuer des alten Gebäudes, sah den leeren Fleck wo einst das Mühlrad gehangen hatte und wo sich jetzt das Fenster befand hinter dem sie schlief. „Katharina“, sagte er noch einmal leise als sei es ein Synonym für „Ich liebe dich.“ Zwei Enten flatterten quakend den Mühlbach hinab, er sperrte das Auto auf und fuhr nach Hause.
Mittwoch.
„Du trinkst zu viel“, sagte Katharina. „Verdammt, ich habe Semesterferien.“ „Ich meine es ernst, Manu“, sagte sie. „Schau dich an. Du siehst krank aus. Übermüdet, du bist doch gar nicht du selbst.“ Er schwieg, legte sich eine Antwort zurecht, verwarf sie wieder. „Ich weiß“, entgegnete er. „Die Hitze macht mir zu schaffen. Ich kann nicht schlafen bei der Hitze.“ „Und deswegen gehst du jede Nacht aus?“ „Nicht jede Nacht, gestern war ich doch bei dir.“ „Du trinkst zu viel“, wiederholte sie und er schwieg. Er wusste, dass es nicht am Trinken lag.
Als sei gesagt, was im Moment zu sagen war, lehnten sich beide zurück und betrachteten die Autos, die im Schrittempo am Straßencafe, in dem sie saßen, vorüber fuhren. „Du bist sicher, dass Kathi noch kommt?“ fragte sie. „Du kennst sie doch, sie war noch nie pünktlich.“
Sie warteten, Manu hatte gerade seinen zweiten Kaffee ausgetrunken. Er versteckte seine Hand unter dem Tisch, sie sollte nicht sehen, dass diese zitterte. Ein Müdigkeitsschub überkam ihn. Er hatte erneut nicht geschlafen. Die Hitze war unerträglich. Er betrachtete Katharina, versuchte das Bild vor seinen Augen scharf zu stellen. Aber es verschwand in zwei Katharinen, die um einen Fixpunkt herum tänzelten. Ihre schwarzen Haare hingen leicht gewellt über ihre Schultern. Hinter ihren dunklen Augen zeichnete sich die hellgraue Kontur ihrer Kontaktlinsen ab. Er neigte seinen Kopf leicht zur Seite und lächelte sie an. Sie errötete stets leicht dabei, wenn er sie längere Zeit betrachtete. Daran hatte sich in den letzten zwei Jahren nichts geändert.
Vor zwei Jahren perfektionierte Manu seine Theorie, dass das Leben nicht nur teilweise, sondern ganz und gar von Zufällen geprägt ist. Seine Begegnung mit Katharina erfüllte, verfestigte und bestätigte diese Theorie und bestimmte seitdem sein Leben so sehr, dass er seine Abschlussarbeit diesem Thema widmen wollte.
Der erste Zufall sorgte dafür, dass die Bäckerei, in der er jahrelang Samstag vormittags seine Semmeln einkaufte, wegen Umbauarbeiten des Bahnhofs einen Sommer lang geschlossen hatte. Der zweite Zufall ließ in der Bäckerei, für die er sich ersatzweise entschied, dieses auf geheimnisvolle Weise schöne Lehrlingsmädchen als Urlaubsvertretung in genau dieser Woche arbeiten. Der dritte Zufall sorgte in einer unerklärbaren Melange aus schönem Wetter, erholsamen Schlaf auf beiden Seiten und dem Umstand, dass gerade sonst niemand in der Bäckerei war, dafür, dass beide ungewollt miteinander flirteten. Manu scherzte darüber, ob Lachschinkenbrötchen tatsächlich so fröhlich schmeckten wie sie hießen und Katharina lachte ihr herzlichstes Lachen und ließ ihn für diese eine Minute nicht mehr aus ihren schönen dunklen Augen.
Manu war es unbegreiflich, wie sich beide, die sich noch nie zuvor im Leben gesehen hatten, keine zwei Wochen später auf einer Beachparty im Freibad begegneten. Ebenso unbegreiflich war es ihm, dass Katharina aufgrund der Bäckereibegegnung nächtelang ein wundes Herz mit sich herum trug und tagelang nach ihm Ausschau gehalten hatte. Manu, der seinerseits lange keine schöne Frau mehr geküsst hatte, ließ den Zufall gewähren und keine zwei Wochen später waren sie ein Paar.
Er schaute sie an. Sie hatte sich rein äußerlich kaum verändert. Sicher, sie war fraulicher geworden, trug ihre Haare länger und ihr Kleidungsstil hatte sich gewandelt. Sie besuchte inzwischen eine weiterführende Fachschule und Manu spürte noch immer, nach zwei Jahren, diesen unbestimmten Stolz, dass sich dieses wundersame Wesen für ihn entschieden hatte.
„Hallo, ihr zwei.“ Kathi sprang auf die niedrige Holzkonstruktion die dem Café als Terrasse diente. Sie gab Manu einen flüchtigen Kuss auf die Wange und umarmte Katharina, schaute sie aufmerksam an, nahm prüfend die Brille ab und sagte: „Hey, das selbe Kleid hab ich auch.“ „Ich weiß“, antwortete Katharina. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Es gefiel mir einfach zu gut.“ Kathi schüttelte den Kopf. „Kein Problem, das weißt du.“ Sie setzte sich und bestellte sich einen Milchkaffee. „Die Leggins stehen dir“, sagte Kathi, „Ich hab dir doch gesagt, dass die wieder kommen.“ Katharina nickte.
Kathi lächelte gut gelaunt und nahm ihren Kaffee entgegen. „Wie sieht es bei euch beiden heute Abend aus? Wir grillen bei Bekannten, da ist sicher was los.“ „Klar“, antwortete Manu, aber Katharina schüttelte den Kopf: „Ich muss noch lernen.“ „Schon wieder?“ entgegnete sie. „Du lernst einfach zu viel. Gönn dir doch mal eine Auszeit.“ „Du redest dich leicht, du musst ja nichts mehr lernen. Die nächsten Prüfungen sind extrem wichtig.“ „Das sagst du jedes Mal“, warf Manu ein. „Whatever. Ihr seid beide herzlich eingeladen.“
Sonntag.
Der Sommer war lang und staubig, ein Sommer, in dem die verschwitzte Bettwäsche dauernd gewechselt werden musste. Oder bildete er sich das ein? Oder bildete er sich ein, er wünschte sich solche Wechsel, weil er diesen Sommer mit einem früheren verwechselte? „Bist du immer noch wach?“ fragte Katharina und richtete sich im Bett auf. Sie sah, wie er nickte. „Wie spät ist es jetzt eigentlich?“ fragte sie und griff nach ihrem Handy. „Vier Uhr? Verdammt noch mal, Manu! Geh zum Arzt! Wann bist du eigentlich heim gekommen? Hab ich schon geschlafen?“ „Um Eins. Hat nicht so lang gedauert heute.“ „Und du hast keine Sekunde geschlafen?“ „Ich weiß nicht“, sagte er. Seine Stimme klang matt und müde. „Vielleicht. Vielleicht schlafe ich jetzt gerade. Aber es fühlt sich nicht so an.“ „Versuch es“, sagte sie, zog sich das Bettlaken über den Kopf und drehte sich von ihm weg. Er schloss die Augen, starrte in die Dunkelheit und sagte seufzend: „Katharina.“
Mittwoch.
Sie saßen Abends im Café und beobachteten die Autos, die langsam über die Marktstraße fuhren, lauschten den tiefen Bässen, die aus den Wagen klangen und wunderten sich über die sonnenbebrillten Fahrer, die zurück starrten. „Laut Wetterbericht soll es nächste Woche eine leichte Abkühlung geben“, sagte Katharina. „Was heißt das?“ wollte Kathi wissen. „So 24 Grad und ab und zu leicht bewölkt.“ „Das ist doch ein Witz“, entgegnete sie. „Das hält doch kein Mensch aus. Wie kann man bei der Hitze eigentlich lernen?“ „Ich sperre mich in meinem Zimmer ein, ziehe die Jalousien hinunter und lerne einfach. Was sein muss, muss sein.“ „Das könnt ich nicht. Du bist echt bewundernswert.“ „Aber nicht beneidenswert.“
„So still heute?“ fragte Kathi an Manu gerichtet. Er antwortete nicht. Sie lächelte, hielt den Zeigefinger vor den Mund und hob langsam Manus Sonnenbrille nach oben. Seine Augen waren geschlossen. Beide lachten leise hinter vorgehaltener Hand. „Er schläft“, sagte Kathi. „Wenn er schon Nachts nicht schläft.“
Manu blinzelte. Er sah das schemenhafte Bild der zwei Katharinen, die um ihren Fixpunkt kreiselten und sich erst langsam, wie ein verschwommenes Mosaik, zu einer Person zusammensetzten. Er hörte Katharina sagen: „Lassen wir ihn weiterschlafen.“ Kathi strich ihm mit der Hand über das Gesicht: „Schlaf weiter“ sagte sie.
Kathi kannte er seit fast drei Jahren. Oder waren es vier? Ihm war es als kannte er sie schon immer. Sie wäre nichts weiter als die Bekannte eines Freundes geblieben, hätten sie nicht herausgefunden, dass sie am selben Tag Geburtstag hatte. Ein Zufall. Sie fanden es natürlich an ihrem Geburtstag, oder an seinem, je nach Standpunkt, heraus und ließen sich aufeinander ein. Manchmal lässt man sich auf einen Menschen ein und findet jemanden, der so selbstverständlich das eigene Wesen vervollständigt, dass es unvorstellbar erscheint, wie das Leben verlaufen wäre, wenn man sich nie angesprochen hätte. Kathi hörte ihm den Abend lang zu wie er, damals schon, von seiner Zufallstheorie erzählte und da dieses selbstverständliche Vervollständigen des Lebens des anderen auf Gegenseitigkeit beruhte, bedurfte es auch keiner weiteren Verabredung mehr oder keines Versprechens mehr, für immer beste Freunde zu sein. Dies war ein Fakt, so sah es Manu zumindest und Kathi hatte nie einen Gegenbeweis erbracht, dass es anders sei und dies hatte auch Katharina zu akzeptieren, als sich später ihre Beziehung zu Manu zu entwickeln begann.
Damals trug Kathi ihr Haar noch blond, sie hatte erst vor einem Jahr begonnen, es dunkel zu färben. Manu mochte es so oder so. Bei einem Seelenverwandten, mit diesem Wort ließ sich ihre Beziehung annähernd beschreiben, war das Aussehen, die Ausbildung, die Familie, der Freundeskreis egal.
„Am Freitag machen wir ein Lagerfeuer an der Paar“, sagte Kathi. „Manu? Träumst du?“ Er rieb sich die Augen. „Katharina hat gesagt, wenn du ihr heute Abend und morgen noch beim Lernen hilfst und sie ausfrägst, könnte sie freitags vielleicht mitkommen.“ „Hm“, machte Manu. Katharina senkte Blick und Stimme: „Du würdest mir so sehr helfen und ich könnte am Wochenende mal wieder Spaß haben. Es ist bald vorbei, das versprech ich dir.“ Katharinas Konturen begannen wieder vor seinem Gesicht zu tanzen. Er nickte.
Freitag.
Die jungen Leute trafen sich an diesem Abend in dem weiten Auengebiet am Flussufer der Paar in einem geschützten Gebiet vor der Stadt. Die dämmernde Abendsonne malte ihr weiches Licht auf die trockenen, braunen Gräser und das Schilf, das sich träge gegen den behäbigen Fluss stemmte. Unweit des Parkplatzes standen sie um einen Kugelgrill herum und die Jungs diskutierten, wie das perfekte Fleisch auszusehen hatte. Manu legte eine selbst gebrannte CD, die Songs von Peter Fox bis Kings of Leon enthielt, in den tragbaren Spieler und lehnte sich in seinen mitgebrachten Campingstuhl zurück. Katharina nahm ihn bei der Hand. „Es ist schön, mal raus zu kommen“, sagte sie. Er nickte und beobachtete die um den Grill stehenden Männer. „Vielleicht solltest du das in deiner Sozialkundeprüfung schreiben: Die Zusammenhänge zwischen der Steinzeit und der Moderne.“ Er seufzte und nippte an einem Bierglas. „Schau sie dir an: Sie stehen ums Feuer und buhlen gegeneinander, wer doch am besten das Fleisch braten kann. Ein Spektakel das man seit 40000 Jahren betrachten kann.“ „Ich glaub, mein Schatz, das mache ich lieber nicht“, antwortete Katharina und lächelte milde. Manu lächelte nicht. Er fühlte sich müde. Er hatte die letzten Tage stundenlang damit verbracht, sie in Sozialkunde über Pädagogik und Sozialpsychologie auszufragen. Oder war es die ganze Woche? Es war ihm gleichgültig. Er hatte gestern Nacht geschlafen. Wenigstens fühlte es sich kurz so an. Die restliche Nacht hatte er darüber nachgedacht, ob es Schlaf gewesen war. Er war sich kurzzeitig sicher gewesen, dass er wegen Katharina nicht mehr schlafen konnte. Konnte ihr Lernen nicht mehr ertragen, konnte es nicht mehr ertragen, dass sie so strebsam war und sie so ruhig schlief, während er mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrte. Aber das allein war es nicht.
„Ich weiß, dass wir eine schwere Zeit durchstehen“, sagte sie. Als konnte Katharina Gedankenlesen. Er schaute sie aus starren, milchigen Augen an und versuchte, ihr Gesicht zu fokussieren. Es gelang ihm nicht. Katharina verschwamm und die zwei Katharinen begannen wieder zu tanzen. „Hm“, machte er. „Ich weiß doch selber, dass ich zur Zeit keine tolle Freundin bin. Ich beanspruch dich so viel und bin nie dabei, wenn du was unternimmst. Aber wir werden einmal beide davon profitieren.“ „Hab ich je was gesagt?“ Er drehte sich zu ihr, um sie zu küssen, traf sie aber statt auf dem Mund auf der Wange. Irritiert zog er seine Lippen wieder zurück. Er sagte: „Dafür lässt du mich abends um die Häuser ziehen. Welche Freundin tut das schon ohne Gezeter? Du bist die beste Freundin der Welt.“ Sie errötete. Katharina nahm seine Hand und ihre Stimme wurde weich und sanft: „Du bist doch so oder so unterwegs, was soll ich da dagegen noch ankämpfen? Ich werde mich für deine Geduld bald revanchieren. Du weißt, was ich meine. Wir haben ja schon lange nicht mehr. Ich meine, so richtig.“ Sie streichelte seine Hand und errötete erneut. Er nickte wortlos. „Wir könnten ja jetzt gleich, ich meine, wenn du Lust hast, die Paar entlang spazieren?“ Manu schüttelte den Kopf, justierte seinen Blick, aber die tanzenden Katharinen verschwanden nicht. „Vielleicht später“, hörte er sich sagen, obwohl er große Lust hatte.
„Ich will euch ja nicht stören.“ Kathi hielt sich die Brust und holte, noch außer Atem, tief Luft. Manu richtete matt seinen Blick auf sie und nickte ihr zu. Sie sah irgendwie anders aus heute, aber seine Gedanken waren zu müde um sich zu fragen, warum. Sie lächelte ihnen Augenzwinkernd zu. „Wollt fragen, ob ihr mir mit einem Bier aushelft, ich hab irgendwie die Zeit übersehen und in der Eile vergessen, etwas mitzubringen.“ „Klar“, sagte Manu und stand auf um ihr eine Flasche Bier heraus zu holen. Schwindel überkam ihn, er griff sich an die Stirn und setzte sich wieder. „Bediene dich einfach“, sagte er. „Manu, ist bei dir alles klar?“ fragte Kathi, „Siehst wieder müde aus.“ Manu schüttelte den Kopf. „Alles bestens. Hab geschlafen diese Nacht.“ „Er hat geschlafen heute Nacht“, ergänzte Katharina als würde es dann wahr werden. Kathi setzte sich auf die Kühlbox, fasste sich an die Stirn und betrachtete die silbernen Schweißtropfen auf ihrer Hand. „Oh Mann“, sagte sie, „Ich war so in Eile, dass ich ganz vergessen habe, meine Brille nach dem Duschen wieder aufzusetzen.“ Sie lachte. „Ein Wunder, dass ich euch erkannt habe. Und Autofahren dürfte ich auch nicht. Wie gut ihr es habt, dass ihr eure Wohnung zu Fuß erreichen könnt.“
Mit der untergehenden Sonne wurde ein Feuer entzündet. Aus dem Blau des Himmels wurde rot, bis tiefes Schwarz langsam aber unaufhaltsam das Firmament überzog. Manus Hände zitterten. Die Mädchen waren verschwunden. Er wusste nicht, wo hin und seit wann und weshalb, das Leben zog zu schnell vorüber und er tastete nach etwas Greifbaren. Er tastete in der Kühlbox und holte die halbleere Flasche Absinth hervor. Er würde bald im Internet eine neue bestellen müssen. Er kramte Zucker hervor, suchte nach der Wasserflasche und zündete eine Kerze an. Er legte ein Stück Würfelzucker auf den Löffel, beträufelte diesen mit dem Absinth und hielt den Löffel über die Flamme, bis der Zucker kandiszierte. Er arbeitete genau und gewissenhaft und wie ein Fixer wusste er mit seinem Besteck umzugehen. Als der Absinth brannte und der Zucker im Wasser zischte und es grün färbte, fühlte er sich umgehend ruhiger. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem vollen Glas und ging spazieren wie er es immer tat, wenn der Zauber der Sommernacht und seine Stimmung übereinstimmten. Lose Pärchen wanderten am vom hellen Mond und einzelnen Fackeln beschienen Ufer der Paar entlang. Hier und dort nutzte jemand die Abgeschiedenheit der weiten Felder um einem oder seinem Bedürfnis nachzukommen. Manu sog die schwüle Luft der Nacht in seine Lungen, und empfand Wehmut. Eine Wehmut die er aus vergangenen Jahren kannte, die sich immer dann einstellte, wenn ein Sommer spät seine ganze Schönheit entfaltete um bald unvollendet in sich zusammen zu stürzen und er diese Gewissheit nicht mehr leugnen konnte, dass etwas fehlte. Er blickte auf seine Hände. Das Glas fest umfassend zitterte seine Hand nicht mehr. Aber ihm war schwindelig und die Müdigkeit pochte so penetrant an seine Schläfen, dass er jeden Moment umkippen und einschlafen konnte. Aber die Nacht war zu schön um zu schlafen.
„Manu!“ Er hörte eine Stimme. Sein Blick tastete sich durch die Dunkelheit, aber da war niemand. Ein Arm fuhr hervor und umarmte ihn warm. „Mein Schatz, ich bin betrunken und möchte ins Bett.“ Katharina klang ein wenig beschwippst. „Bringst du mich heim? Schläfst du heute bei mir?“ Sie kicherte in sich hinein, „Es gibt auch“ und sie betonte jeden der drei Buchstaben lang und ausgedehnt: „Es Eh Iks!“ Manu fühlte sich leer und nahm noch einen Schluck. „Du trinkst Wasser? Das ist gut. Ich habe vorhin was geraucht. Ich bin fix und alle.“ „Mir gefällt es hier“, sagte er, „Noch eine halbe Stunde. Dann können wir gehen.“ Katharina blickte auf ihren Arm und merkte, dass sie gar keine Uhr hatte. „Eine halbe Stunde? Das halt ich noch aus. Bis dann“, sagte sie und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Der flackernde Schein der Fackeln spiegelte sich im ruhig fließenden Wasser der Paar und Manu spazierte weiter flussaufwärts, blieb immer wieder stehen und trank den Absinth. Die Sterne wurden heller und heller und die Dunkelheit immer dunkler. Er spürte das Bedürfnis, sich jetzt hinzulegen und zu schlafen. Aber zuvor musste er noch etwas anderes tun und er irrte weiter. Plötzlich, oder war es vielleicht doch eine lange Zeit später, griff ihn jemand bei der Hand. „Katharina?“ sagte er überrascht und starrte auf die zwei Katharinen die vor seinem Gesicht tanzten. „Weißt du noch, wie wir letztes Jahr hier getanzt haben?“ fragte sie und nahm ihn bei der Hand. Sie führte ihn und sie drehten sich im Takt. Sie summte leise eine Melodie. Plötzlich blieb sie stehen, hielt inne und sah ihn an, ihre dunklen Augen sahen ihn mit weit aufgerissener Pupille an, wie sie ihn noch nie angesehen hatte. Ihre Hand wanderte von seiner Hand, seinen Schultern zu seinem Hals und sie umfasste seine Wange. „Sag jetzt einfach nichts. Ich bin glücklich“, flüsterte sie. Manu sagte nichts und küsste sie. Er hatte Katharina lange nicht mehr geküsst und er war nicht überrascht, dass sie seinen Kuss erst grob abwehrte. Dann küsste sie ihn zurück. Küsste ihn leidenschaftlich und er fühlte etwas, das immer ahnend existiert hatte und nun grelle Wirklichkeit wurde. Das Glas fiel ihm aus der Hand. Es klirrte und er hielt inne. Er hielt ihre Hand. „Manu? Kathi?“ hörte er eine Stimme und ließ die Hand des Mädchens sofort los, starrte in das Gesicht des Mädchens, das er geküsst hatte. Verwirrt drehte er sich zur anderen um, suchte nach einer schwarzen Brille, doch die Nasen der beiden blieben nackt. „Kann ich kurz mit Manu allein sprechen?“ fragte sie und ihre Stimme klang aus der Zwischenwelt eiskalter Nüchternheit und übermütiger Trunkenheit. Kathi verschwand raschen Schrittes ohne ein Wort zu sagen. „Manu!“ wiederholte sie und ihre Stimme klang nun zart und brüchig. „Was soll ich denn noch machen?“ fragte sie und eine Träne rann ihr über die Wange. Er streckte einen Finger nach der Träne aus und fing sie auf. „Natürlich, du liebst sie. Eine beste Freundin liebt man halt“, sagte sie und er fing eine zweite Träne auf. „Kathi war zuerst da, Kathi muss man einfach lieben. Natürlich. Schau mich an. Bin ich böse auf sie?“ Sie schlug ihm auf die Brust, mehr um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen als um ihn zu verletzen: „Was soll ich denn noch tun? Ich freunde mich mit ihr an, nur um bei dir bleiben zu können. Ich gebe dir die Zeit mit ihr, die du brauchst, lasse dich auch bei ihr übernachten, nur damit du mich nicht fortschickst?. Was soll ich denn noch machen?“ Manu sah sie verwirrt an. Die zwei Katharinen redeten auf ihn ein. „Katharina?“ fragte er. Katharina begann zu weinen und er sah sie befremdet an, sah sich selbst befremdet zu, wie er sie anschaute. „Ich bin dir nicht böse“, sagte sie. „Ich bin ihr nicht böse. Morgen wird wieder alles so sein wie immer. Aber komm bitte nach Hause. Lass mich heute nicht allein. Ich kann das nicht. Du weißt doch, dass ich das nicht kann, weißt du?“ Sie nahm ihn bei der Hand, ließ sie aber sofort wieder los. „Ich werde jetzt gehen. Ich flehe dich an, komm mit, komm mit nach Hause.“ Er nickte. „Ich komm dann nach“, sagte er und die Müdigkeit verschleierte seine Gedanken.
Samstag.
Der Sommer war lang und staubig, ein Sommer, in dem die verschwitzte Bettwäsche dauernd gewechselt werden musste. Oder bildete er sich das ein? Oder bildete er sich ein, er wünschte sich solche Wechsel, weil er diesen Sommer mit einem früheren verwechselte?
Er riss die Augen auf. Hatte er geschlafen? Er musste geschlafen haben. Er konnte sich nicht erinnern, wach gewesen zu sein. Aber er konnte sich an nichts mehr erinnern. Er spürte nur den bleiernen Geschmack des Absinth auf seiner Zunge. Ihm war schlecht. .Er lag nackt im Bett, die Bettlaken waren verschwitzt und schmutzig. Sie würde sie wechseln müssen. Er drehte sich nach ihr um und es zog ihm das Herz zusammen.
Er würde sich übergeben müssen. Vielleicht noch nicht jetzt. Aber später. „Katharina“, flüsterte er lang gezogen und zärtlich, sah zu, wie sich ihr nackter, ihm weg gewandter Rücken langsam hob und senkte. Er streichelte ihr über den Rücken. „Katharina“, sagte er.
Er hörte den Mühlbach vor dem Fenster plätschern. Ein Hahn krähte. Der Rücken bewegte sich, er begann zu vibrieren. Er senkte sich in rascher Abfolge auf und ab und erst jetzt erklang das leise Schluchzen des Mädchens. „Du sollst mich nicht so nennen“, sagte sie und weinte. „Du sollst mich nicht Katharina nennen.“ Sie richtete sich auf, hielt sich das Laken über ihre Brust und schaute ihn mit ihren großen schwarzen Augen an, die er so selten sah, weil sie stets von einer Brille umrandet waren. Die Schminke floss über ihr Gesicht und tropfte schwarz auf den Bettlaken. „Warum jetzt?“ fragte sie. „Warum jetzt, nach zwei Jahren?“ Er spürte, wie ihm selbst die Tränen in die Augen schossen. „Warum erst seit zwei Jahren? Und nicht schon seit Anfang an?“, entgegnete er. Sie schüttelte den Kopf. „Es ist, wie es ist.“ Er nickte, zog sich unter der Bettdecke an und stand auf. „Es war dunkel“, versuchte er zu erklären, verwischte den Gedanken sogleich und fragte, fassungslos: „Ist es eigentlich ein Zufall, dass ihr dieselbe Frisur trägt? Verdammt, wo sind deine schönen blonden Haare hin?“ Sie antwortete nichts darauf. Er versuchte sich an Details der letzten Nacht zu erinnern. Als er auf die fehlende Erinnerung stieß, sagte er: „Ich bin einen Umweg gegangen, um dir aus dem Weg zu gehen. Was zum Teufel machtest du dort?“, fragte er und beugte sich zu ihr. Sie schloss die Augen. „Weil ich zu Fuß nach Hause ging. Ohne Brille kann ich nachts nicht Auto fahren. Es war reiner Zufall“, ergänzte sie und sagte: „Aber es wäre auch so passiert. Es hätte letzten Sommer passieren müssen. Es wird nächsten Sommer wieder passieren“, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. „Ich gehe jetzt nach Hause“, entgegnete er und schloss die Türe hinter sich. Er fühlte sich hellwach.
Ende.