Eine lustige Geschichte aus dem Alltag, die im Schreibkurs von Arwed Vogel entstanden ist. Ein Konflikt mit einem Vordrängler in der Warteschlange im Edeka Supermarkt eskaliert.
Was würdest du tun, wenn du im Supermarkt nur eine Packung veganer Wurst kaufen willst, aber an der Kasse von einem Vordrängler provoziert wirst? In der lustigen Kurzgeschichte “Schlacht um Kasse 4” von Bernhard Straßer erlebt ein Mann ein chaotisches Einkaufserlebnis. Die Geschichte ist humorvoll und spannend erzählt, aber auch gesellschaftskritisch und anregend. Sie erinnert an die Novelle “Michael Kohlhaas” von Heinrich von Kleist, in der ein Pferdehändler gegen ein Unrecht, das ihm angetan wurde, zur Selbstjustiz greift. Wie Kohlhaas stellt sich auch der Protagonist der Kurzgeschichte gegen die Willkür einer angeblichen Obrigkeit, die ihm sein Recht verweigert. Doch wie weit darf man gehen, um sich zu wehren? Und welche Folgen hat das für einen selbst und für andere?
Langsam schob ich meinen Einkaufswagen durch die Eingangsschleuse des Edeka-Marktes. Als sich die Tür automatisch hinter mir schloss, ahnte ich, dass ich einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Tausende Menschen bevölkerten den Supermarkt. Alte, Junge, Eltern mit ihren Kindern, ergraute Boomer, auf Handys starrende Teenager. Die gefühlt halbe Stadt schob ihre Einkaufswägen eilig links und rechts an mir vorbei. Ich beschleunigte meinerseits, überholte zwei, drei Einkaufswägen und sah von der Seite, wie sich drei ewig lange, bis weit hinter die Fruchtsaftabteilung reichende Schlangen hinter den Kassen aufstauten. Noch schneller statt langsamer werdend, kurvte ich den Einkaufswagen Richtung Kühlregale, eine Wand eisiger Luft durchschneidend. Geschulten Blickes peilte ich mein Ziel an. Mit einem geschickten Handgriff warf ich die eine Packung veganer Wurst, die es nur hier beim Edeka gab, in den Einkaufswagen und hetzte, eine 180 Grad Kurve vollziehend, Richtung Kassenbereich. Ich umkurvte ein Rentnerpaar, das ihren Einkaufswagen so abgestellt hatte, dass ich die Querung der hohlen Einkaufsgasse nicht ohne ein leichtes Touchieren unserer beider Wägen vonstatten brachte.
„Was soll denn das!“, hörte ich die Dame rufen, da war ich schon längst hinter den Hygieneartikeln verschwunden und positionierte mich in der mittleren der drei Warteschlangen.
Erst wartete ich geduldig, dann immer eiliger und beobachtete, wie weit vor mir Produkt um Produkt der proppevollen Einkaufswägen auf das Band gewuchtet wurden, wo sie sich in Bewegung setzten und in lähmender Langsamkeit auf die bedächtig-achtsam arbeitenden Hände des Kassierers zufuhren. Der Schweiß der Wartenden stand stickig in der Luft, eine Mischung aus Stressausdünstungen und unterdrückten Wutemotionen. Selbst von hinten konnte man die schwelende Aggression der Kunden erkennen, die vielleicht schon den ganzen Vormittag hier warteten und das rettende Ende der Kasse weiterhin weit weg und unerreichbar wie ein großer Traum, der vom Weltfrieden zum Beispiel, blieb. Während sich abwechselnd in jeder der drei Schlangen, mal hinten, mal vorne, unterdrückte Schreie in lautes Stöhnen entluden, scherte das alte Ehepaar von zuvor, wenige Meter vor mir, sich vorsichtig vorantastend, in den freien Gang zwischen den Wartenden ein. Wie ein lauerndes Raubtier stürzte es sich auf eine plötzlich auftuende Lücke und fädelte, sich dreist vordrängend, vor meinem Vordermann ein. Besser gesagt, vor meiner schwangeren Vorderfrau. Köpfe reckten sich, Blicke kreuzten sich, die Temperatur im gesamten Supermarkt fiel auf Grade unterhalb der in der Tiefkühlabteilung. Der Pensionist drängte meine Vorderfrau mit seinem angriffslustigen Blick so weit zurück, dass er und seine Frau durch sanftes Wegstoßen der Vorder- und Hinterleute und dezentes Querstellen ihres Einkaufswagens final ihren unrechtmäßigen Platz in der Schlange festigten.
„Sie können sich doch nicht…“, versuchte die schwangere Frau vergeblich zu insistieren.
„Das ist mein Platz!“, schnauzte der Mann sie an. „Sie haben sich vorgedrängt. Und der Bengel vor ihnen auch!“, behauptete der Rentner und tauschte einen konspirativ triumphalen Blick mit seiner Frau aus, die bekräftigend nickte.
„Aber das stimmt doch gar nicht!“, entgegnete die sichtlich erschöpfte Frau und verstummte sogleich, da sich der Blick des Rentners, sie fortan ignorierend, starr auf die sich irgendwo in der Ferne befindliche Kasse richtete. Noch ehe ich einen Protest ausformulierte, sprach mich eine Frau in Edeka-Kleidung an. Sie zwinkerte mir zu, als habe sie das gerade Geschehene gesehen und sagte konspirativ:
„Lassen sie mich kurz durch, ich öffne Kasse 4 für Sie“, flüsterte sie leise genug, dass nur ich und die schwangere Frau vor mir es hören konnten. Noch während sich die Verkäuferin unauffällig Kasse 4 näherte, scherte die schwangere Frau vorsichtig aus ihrer Schlange aus, um sich den vordersten Platz in Kasse 4 zu sichern. Das Rentnerpaar witterte die anstehende Vorteilsverschiebung umgehend und reagierte seinerseits blitzschnell. Der Mann machte Anstalten, die Schwangere rechts zu überholen, doch da rammte sein Einkaufswagen gegen einen anderen Einkaufswagen, der ihm den Weg versperrte. Meinem. Angriffslustig den Einkaufswagen fest zwischen meinen Händen haltend, nickte ich dem Ehepaar zu.
„Was soll denn das!“, schrie das Paar unisono und versuchte, meinen Wagen beiseite zu schieben. Ich schob dagegen an.
Metall klirrte aufeinander wie in einem mittelalterlichen Fechtkampf. Ächzend hielt ich den Attacken des Wagens stand. In unerträglicher Superzeitlupengeschwindigkeit näherte sich die Schwangere Schritt für Schritt der rettenden Kassenbucht. Noch bevor sie in Reichweite des erlösenden Warentrenners kam, blies das Rentnerpaar auf totalen Gegenangriff. Sie teilten sich auf. Die Frau griff nach meinem Einkaufswagen, hielt ihn fest und drehte ihn zur Seite, während er seinen Einkaufswagen an meinem vorbeischrammte. Er war kurz davor, die Schwangere einzuholen und sich erneut vorzudrängeln, da griff ich zur letzten Waffe, die mir noch zur Verfügung stand. Ich nahm die vegane Wurst und schleuderte sie mit letzter Kraft auf den Rentner, traf ihn mit voller Wucht auf der Brille, die nun ihrerseits in hohem Bogen durch den Edeka flog. Im Tumult der schreienden Rentnerstimmen, der Flüche und des Applauses und des Jubels, der hinter mir aus den Kehlen der anderen Wartenden aufbrandete, schaute ich zu, wie sich das Rentnerpaar ganz hinten erneut anstellen musste, während ganz vorne die schwangere Frau ihre Waren auf das Band legte und lächelnd der Kassiererin zunickte. Ich stand erschöpft, aber zufrieden, mit einem leeren Einkaufswagen mitten in meiner Schlage. Da es buchstäblich nichts mehr gab, was ich noch hätte bezahlen können, ließ ich den Einkaufswagen stehen, schlich mich im Schutz von Kasse Eins an den Menschen vorbei und ging unverrichteter Dinge, aber glücklich nach Hause.
Ende
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Die bisher erschienenen Bücher:
"Schlacht um Kasse 4" von Bernhard Straßer ist eine humorvolle und gleichzeitig tiefgründige Kurzgeschichte, die ein alltägliches Szenario – den Einkauf in einem Supermarkt – in eine actionreiche und symbolträchtige Auseinandersetzung verwandelt. Die Geschichte ist nicht nur eine Darstellung eines chaotischen Einkaufserlebnisses, sondern bietet auch eine satirische Reflexion über gesellschaftliches Verhalten, Gerechtigkeit und Selbstbehauptung.
Die Hauptfigur, ein einfacher Kunde, der nur eine Packung veganer Wurst kaufen möchte, wird unerwartet in eine Situation katapultiert, die zunehmend eskaliert. Die Handlung gipfelt in einem Konflikt mit einem älteren Ehepaar, das sich dreist vordrängelt. Dieser Konflikt ist mehr als nur ein Kampf um einen Platz an der Kasse; er symbolisiert den ständigen Kampf um Fairness und Respekt in unserem täglichen Leben. Die Konfrontation mit dem Rentnerpaar erinnert an die Themen von Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas", wo es um die Frage der Gerechtigkeit und Selbstjustiz geht.
Die humorvolle Darstellung der Geschehnisse, die sich zu einer Art "Schlacht" an der Kasse steigern, ist zugleich eine Kritik an der oft irrationalen Natur menschlicher Konflikte. Die absurde Eskalation des Konflikts um einen trivialen Anlass – einen Platz in der Supermarktschlange – wirft die Frage auf, wie weit Menschen bereit sind zu gehen, um ihr vermeintliches Recht durchzusetzen, selbst wenn es sich um etwas Belangloses handelt.
Die Figur der schwangeren Frau, die zunächst Opfer des Vordrängens wird, erhält durch die Intervention der Mitarbeiterin Gerechtigkeit, was eine weitere Ebene in der Geschichte eröffnet. Es geht um Solidarität und Unterstützung für diejenigen, die ungerecht behandelt werden. Die Tatsache, dass die Hauptfigur schließlich ohne seine Einkäufe nach Hause geht, ist symbolisch für den hohen Preis, der oft für kleine Siege im Leben gezahlt wird.
Zusammenfassend ist "Schlacht um Kasse 4" eine gelungene Verknüpfung von Alltagshumor und tiefgründiger Gesellschaftskritik. Sie stellt die Frage, wie wir als Individuen und als Gesellschaft mit Konflikten und Ungerechtigkeiten umgehen und was es bedeutet, in solchen Situationen Stellung zu beziehen. Es ist eine Geschichte, die zum Nachdenken anregt und gleichzeitig unterhält, indem sie die Absurdität und Komplexität menschlicher Interaktionen in den Vordergrund stellt.
"Schlacht um Kasse 4" entfaltet ein alltägliches Szenario in eine bedeutsame Reflexion über menschliches Verhalten und gesellschaftliche Werte. Die Geschichte veranschaulicht, wie kleine Konflikte symbolisch für größere Auseinandersetzungen über Gerechtigkeit, Respekt und Selbstbehauptung stehen. Sie zeigt auf, dass alltägliche Begebenheiten oft in unerwartete Eskalationen münden können, die tiefere Fragen über unser Zusammenleben und unsere moralischen Grundsätze aufwerfen. Diese Kurzgeschichte ist ein Appell, sich der Tragweite unseres Handelns in scheinbar trivialen Situationen bewusst zu sein und die Bedeutung von Fairness und Solidarität im Alltag zu erkennen.