Eine recht kurze Kurzgeschichte, die sich gut zum Interpretieren eignet: Ein Mann und ein Junge - vermutlich Vater und Sohn - in einer undurchschaubaren Situation. Was passiert zwischen den beiden? Geschrieben habe ich sie in einem der Kurse von Arwed Vogel. Ziel war es, über die Verwendung einer extremen Perspektive einen neuen Kontext in einer an sich banale Geschichte zu erzeugen. Vorbild war die Literaturgattung "Nouvelle Vague". Alle Kurzgeschichten findest du hier in der Übersicht.
Ein Mann war auf einer Wiese zusammen mit seinem Jungen, vermutlich seinem Sohn, zu sehen. Der Mann bewegte sich auf ein baumhohes Gebüsch, eine ins holzig hochgewachsene Pflanzenart zu, der Junge folgte ihm. Nun war zu sehen, wie der Mann in seine Hosentasche griff und einen kantigen Gegenstand hervorholte. Eine silbern glänzende Klinge, die in einem verwitterten hölzernen Schacht steckte, trat zum Vorschein. Der Mann schaute den Jungen mit einem nachdenklichen, vielleicht kritischen Blick an. Dann nahm er die Klinge und schnitt einen in der Mitte etwa zwei Zentimeter dicken Ast des Strauches ab. Der einen knappen Meter lange, an seinem Ende immer dünner werdende Ast hatte eine raue, kantige Oberfläche. Die Schnittfläche bestand aus hellem, vielleicht gelblichen, vermutlich sehr weichem Holz in dessen Mitte sich eine kreisrunde, aus noch weicherem Material bestehende Ader befand. Auf diese Ader wies der Mann, der wahrscheinlich der Vater war, den Jungen hin.
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Mit dem offensichtlich gut geschliffenen Messer schnitt der Mann vom dickeren Ende des Astes ein dreieinhalb Zentimeter langes Stück ab und warf den restlichen Ast zu Boden, wo er im hohen Gras nicht mehr zu sehen war.
Der Mann hieß den Jungen, ihm das Schilfrohr, das dieser in seinen Händen verwahrte, zu reichen.
Mit einer raschen Handbewegung trennte der Mann mit dem Messer das buschig bräunliche obere Ende de Schilfrohres ab, indem er die Klinge in einem 45 Grad Winkel ansetzte. Er führte einen horizontal gespiegelt identischen zweiten Schnitt aus und schnitzte dadurch eine zwischen zwei spitzen Ausbuchtungen abfallende Kerbe in den Schilfhalm. Mit dem anderen Ende verfuhr er ebenso.
Das dünnere Ende des Schilfrohres steckte der Mann, der wahrscheinlich der Vater war, während er einen konzentrierten Gesichtsausdruck zu machen schien, auf das Aststück der Staude. Das weiche innere Mark des Astes gab den beiden äußeren Spitzen des hohlen Halmes nach und der Halm bohrte sich passgenau in die Ader des Holzes. "Das Gewicht ist notwendig, damit der Pfeil nicht schlingert, wenn er abgeschossen wird", sagte der Mann zu dem Jungen.
Der Junge nickte und blickte den Mann mit einem Gesichtsausdruck an, der als Neugier, aber auch als Furcht interpretiert werden konnte. Der Junge blieb stumm und folgte dem Mann zurück zu dessen Auto, einem weißen Wagen der Marke Renault 19, der am Rand der Wiese im Bankett der Straße abgestellt war.
Der Mann öffnete den Kofferraum des Wagens und holte einen gebogenen, von einer gespannten Schnur in Form gehaltenen Haselnussast hervor.
"So, jetzt kannst du ausprobieren, ob Dein Pfeil und Bogen funktionieren", sagte der Mann und gab den Bogen dem Jungen in die Hand.
Der Mann wies den Jungen an, einige Meter nach hinten zu treten und den Bogen auszuprobieren.
Der Junge hielt den Bogen und den Pfeil schlaff in der Hand und richtete seinen Blick auf den Mann. Der Mundwinkel des Jungen war leicht nach unten gezogen, während seine Augenbrauen sich kaum sichtbar nach oben gegen seine Stirn bewegten. Vermutlich war der Junge mit einer Kleinigkeit der Situation nicht einverstanden, ein aufmerksamer Beobachter der Szene hätte den Sohn womöglich als verschreckt oder eingeschüchtert bezeichnet.
Jedenfalls tat der Junge, das, wozu ihn der Mann aufgefordert hatte.
Er hielt gleichzeitig mit der linken Hand den Bogen und führte mit der rechten den Pfeil zwischen Zeige und Mittelfinger. Die Kerbe am Ende des Pfeils führte er in die fasrige Haushaltsschnnur, die den Bogen bespannte. Er zog das Ende der Schnur zu sich heran, schloss sein rechtes Auge und bildete mit dem linken Auge eine imaginäre Linie zwischen der Pfeilspitze und einem potentiellen Ziel. Als sich die Pfeilspitze auf Höhe des Kopfes des Vaters befand, ließ er die Schnur los.
Ende
Hat Dir diese Geschichte gefallen? Ich freue mich über einen Kommentar ganz unten. Es gibt übrigens noch eine Zwillingsgeschichte zum gleichen Thema, die im Stil des Magischen Realismus geschrieben wurde: Der Bogen des Lebens
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JYupWMLW (Montag, 27 November 2023 12:26)
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