Eine Kurzgeschichte über eine junge Frau, die ein erstes Mal New York besucht. Mehr über den Autor Lukas Böhl erfährt ihr auf seiner Webseite www.sinnblock.de
Wie aufregend das alles war. Zum ersten Mal war sie allein verreist und dann gleich nach New York. Alles hier war so unvertraut, ganz anders wie Zuhause in der schwäbischen Kleinstadtidylle ihrer Heimatstadt. Sie würde ihren Geburtsort von jetzt an nie wieder Stadt nennen, nachdem sie das hier gesehen hatte. So muss eine Stadt sein, voller Leben, laut, bunt, mit jungen Menschen und Läden mit Mode, die nicht an Modenschauen im Altersheim erinnerten. Sie kam vor lauter Aufregung gar nicht dazu, die Stadt richtig zu genießen, denn alles musste mit dem Foto oder dem Handy festgehalten werden. Jeder rauchende Gully, jedes gelbe Taxi, jedes Gebäude, jedes Schaufenster, der Himmel durch die nach oben ragenden Hochhäuser. Die Kamera ihres Handys wurde zur Verlängerung ihres Auges, sie selbst nahm die Stadt gar nicht richtig wahr.
Und so, die Kamera hoch in die Luft haltend, um einen über der Stadt kreisenden Hubschrauber zu filmen, merkte sie gar nicht, dass sich aus der Masse der an ihr vorbeilaufenden Menschen ein junger Mann herausgelöst hatte und sie ansah. Als der Hubschrauber außer Sichtweite geraten war, schwenkte sie mit der Kamera nach unten und erblickte durch das Objektiv das vergrößerte Auge des Fremden, was sie ängstlich aufschreien ließ. Schnell riss sie die Kamera herunter, um zu sehen, wer das war. Sie wollte schon kreischend davonlaufen, als ihr auffiel, wie hübsch das Gesicht ihres Gegenübers war. Den Mund leicht geöffnet, die Kamera auf halbem Weg zu ihrer Hüfte haltend, schaute sie verwundert in die magisch schillernden grünen Augen des sie anlächelnden Fremden. Zuhause, nein in ganz Deutschland, hatte sie noch nie einen so gutaussehenden Menschen gesehen. Das gab es nur im Fernsehen. Markante Wangenknochen, an denen man ein Brot hätte aufschneiden können, durchdringende, glasklare grüne Augen, die Haare elegant nach hinten gelegt, einen Trenchcoat mit grauem Pullover darunter, dazu zerrissene schwarze Jeans und locker gebundene Stiefel. Sie fühlte sich plötzlich unsicher, sie wollte flüchten, nicht neben einem so schönen Mann gesehen werden. Der aber bemerkte ihre Verunsicherung und hielt sie am Arm fest, als sie wegwollte.
„Hey Nina, don’t you remember me? Grundschule in Deutschland, weißt du? Sorry, mein German ist nicht mehr so gut!“
Das war zu fantastisch, um wirklich zu passieren, dachte sie. Schnell durchforstete sie ihr Unterbewusstsein nach einem zu diesem Kerl passenden Namen, einer Erinnerung, irgendetwas.
„No, I‘m sorry. Ich kann mich nicht erinnern“, stammelte sie.
„Oh, that’s fine. It’s been a while. Bad Durrheim, 2002. Chris, you know? Ich war nur ein Jahr dort“, sagte er mit einer Stimme, die so sexy war, dass Nina kaum auf die Worte achtete, die sie formulierten. Sie hing an seinen Lippen und merkte plötzlich, wie offensichtlich sie starrte.
„Nina? Bist du sleeping?“, fragte er wieder in seinem Kauderwelsch und riss sie aus ihrer stillen Bewunderung.
„Ahh...ja, doch, ich erinnere mich“, sagte sie schnell, ohne sich über den Wahrheitsgehalt ihrer Worte im Klaren zu sein. Doch wer würde einem so schönen Geschöpf widersprechen und ihm einfach den Rücken zukehren? Außerdem glaubte sie sich an einen Jungen in der Grundschule zu erinnern, der eines Tages weggezogen war.
„People always remember me. No one vergisst mich“, sagte er mit seinem unwiderstehlichen Lächeln.
„Das glaub ich gerne“, sagte Nina plötzlich laut.
„Haha, du bist funny! How about a coffee. I can show you around“, wieder er.
Nina konnte gar nicht nein sagen, so erstaunt war sie über das, was gerade passierte. Das musste an der Stadt liegen, sowas erlebt man nur in New York. Sie hakte sich bei ihm ein und ließ sich von ihm geschickt durch die Menschenmenge navigieren. Er zeigte ihr den Times Square, macht ein paar Fotos von ihr und führte sie dann in eine abgelegene, ruhigere Straße, wo er ihr die Tür zu einem kleinen Coffee-Shop öffnete.
„My favorite coffee in town!“, versicherte er ihr wieder mit diesem verheißungsvollen Lächeln. „Thanks!“, sagte sie und regte sich selbst über ihren klischeehaften deutschen Akzent auf, der für ihn wahrscheinlich bauernhaft wirkte.
„Sorry for my accent!“, entschuldigte sie sich mit leicht gerötetem Gesicht. Sie wollte Eindruck bei ihm schinden, er war bis jetzt ein echter Gentleman gewesen und könnte zur besten Geschichte ihrer Reise werden, eine, die sie nie vergisst.
„Oh never mind, that’s cute! Mir gefällt dein accent!“, sagte er charmanterweise, als er sie zu einem kleinen Tisch in der Ecke geleitete. Er fragte sie, was sie möchte. „Chai Latte!“, den wollte sie unbedingt probieren. Schnell zog sie ihren Geldbeutel hervor und kramte nach etwas Kleingeld. Chris legte die Hand auf den Geldbeutel, sah sie an und sagte: „That’s on me!“ Sie legte den Geldbeutel auf den Tisch und sah ihm hinterher, wie er zur Kasse schlenderte, selbst sein Gang war sexy. Er drehte sich um und zwinkerte ihr zu, verlegen sah sie weg, musste kichern.
Dann fing sie sich wieder, holte ihr Handy aus der Tasche und loggte sich ins W-LAN des Ladens ein. Schnell textete sie ihrer besten Freundin, was gerade passierte. Die war allerdings schon im Bett, was Nina nicht davon abhielt, ihr einen Smiley nach dem anderen zu schicken. Da fiel ihr ein, dass ihre Freundin es nur glaubte, wenn sie ihr ein Bild schicken würde. Heimlich hob sie das Handy über die Tischkante, zoomte hin und schoss ein Foto von ihm. Es war nicht das beste, aber man konnte seine Wangenknochen noch gut genug sehen. Ganz aufgeregt nahm sie eine Sprachnachricht auf, als Chris plötzlich ihren Kaffee vor sie stellte. Das Handy fiel ihr beinahe aus den Händen, sie konnte es gerade noch fangen und knallte es auf den Tisch.
„Hey!“, sagte sie, um die Peinlichkeit zu überspielen, „i just texted my mom back in Germany.“
Er legte seinen Mantel über den Stuhl und setzte sich zu ihr. „Tell her my regards!“, sagte er, „I think i still remember her. Ein bisschen smaller als du mit blonde hair?“
Nina fiel fast die Kinnlade herunter als er das sagte. Wieso konnte er sich daran erinnern und sie sich nicht, wer er war? Sie musste er herausfinden.
„Chris, where did you live in Bad Dürrheim?“
Chris wich aus, sagte mal hier, mal da. Erzählte, dass sein Vater in Deutschland stationiert gewesen wäre und dort seine Mutter kennengelernt hat. Sie zogen oft um und ließen sich irgendwann scheiden, weshalb Chris mit seinem Vater zurück nach Amerika musste. „Aber ich will vergessen das“, schloss er damit ab und lenkte dann das Gespräch auf Nina: „Was machst du in USA?“
Nina versuchte weiterhin ihm einer Erinnerung zuzuordnen, doch kam nicht über den mysteriösen Jungen hinaus, der mal in ihrer Klasse hätte gewesen sein können und vom dem sie gar nicht sicher war, ob es ihn überhaupt gegeben hat. Trotzdem war sie immer noch hin und weg von ihm.
„Just for vacation. Can i speak German? My English isn’t that good...“
„Sure, ich verstehen alles!“, sagte er.
„Ich wollte einfach mal was von der Welt sehen und wo ginge das besser als in New York? Die Stadt ist so toll! Ich könnte den ganzen Tag mit Shoppen verbringen! Trotzdem ist mir hier alles eine Nummer zu groß und viel zu laut. Außerdem stinkt es in den Straßen. Ich könnte mir nicht vorstellen, hier immer zu leben. Was arbeitest du eigentlich, Chris?“, antwortete sie und sah in neugierig an, während sie am Strohhalm sog. „Mhh wie lecker!“, entfuhr es ihr. Chris machte auf einmal einen veränderten Eindruck, wurde irgendwie nachdenklich, druckste herum. Nina tat so, als würde sie das nicht sehen und ließ ihn zappeln, irgendwas verheimlichte er vor ihr. Vielleicht war er gar nicht der, der vorgab zu sein. Schließlich fing er sich wieder und sagte lächelnd: „I earn my money with tourism. Aber nur till ich habe genug money für mein Startup.“
Sollte sie weiter auf seinen Job eingehen oder das Startup, überlegte sie. Doch er kam ihr zuvor: „Aber that’s ein secret noch. What do you do for a living?“
Schon wieder lenkte er ab, irgendetwas stimmte da nicht, dachte sie. Langsam kamen ihr echte Zweifel an seiner Geschichte. Nur verstand sie nicht, woher er ihren Namen hatte wissen können. Sie sah ihn an, dann fiel ihr Blick plötzlich auf die Kamera, die vor ihr auf dem Tisch lag. Am Gurt hing ein kleines Schildchen mit ihrer Adresse und ihrem Namen. Sie sah zu ihm auf, er hatte ihre Reaktion genau studiert. Sie kniff die Augen zusammen.
„Doch woher wusste er, wie meine Mutter aussieht?“, fragte sie sich. Da fiel ihr ein, dass er mit ihrem Handy ein paar Fotos auf dem Times Square gemacht hat. Ihr Hintergrundbild zeigte sie und ihre Mutter, die ihr wirklich ähnlich sah. Jeder hätte diese Verbindung herstellen können. Er sah sie immer noch aufmerksam an, verfolgte jede Bewegung ihrer Augen. War sie einem Betrüger aufgelaufen? Hilfesuchend sah sie sich im Kaffee um, doch da schnappte er ohne Vorwarnung ihre Kamera, riss seinen Mantel vom Stuhl und rannte davon. So schnell, dass sie sich erst traute aufzustehen, als er bereits über alle Berge war. Das Mädchen hinter der Theke sah sie mitfühlend an und signalisierte mit einer Geste: „I’m sorry.“
Nina war am Boden zerstört, ihr war alles zu viel, dicke Tränen schossen ihr in die Augen und sie wäre jetzt am liebsten Zuhause im sicheren Bad Dürrheim bei ihrer Mutter gewesen. In einer Art Schockstarre verharrte sie auf dem Stuhl, nicht in der Lage, dem Kerl hinterher zu rennen. Plötzlich war alles, was sie vorhin noch mit verliebter Euphorie in den prächtigsten Farben gesehen hatte, hässlich und abstoßend. Der Chai Latte hinterließ einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge, sodass ihr schlecht wurde. Sie musste hier weg, zurück ins Hotel, in Sicherheit. Wie gern hätte sie jetzt ihre Mutter angerufen, um sich so richtig auszuweinen. Zum ersten Mal fiel ihr auf wie jung und unerfahren sie noch war. Dass sich bis jetzt immer ihr Vater oder ihre Mutter um alles gekümmert hatten. Mit dem Ärmel ihres Pullovers wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, packte ihre Sachen zusammen und verließ stillschweigend den Raum, ohne sich von der Kassiererin, die sie immer noch mitleidend ansah, zu verabschieden.
Traurig lief sie durch die auf einmal schmutzigen Gassen, wo hinter jeder Mülltonne ein Verbrecher, unter jedem rauchenden Gully ein Monster zu warten schien. Sie schreckte vor jedem Geräusch zurück, machte einen großen Bogen um jeden, der ihr zu nahe kommen konnte. Schließlich entdeckte sie ein Taxi auf der anderen Straßenseite und sprintete so schnell sie konnte dorthin, riss die Tür auf und schrie den Fahrer beinahe schon hysterisch an: „Drive!“
Der Fahrer, ein älterer Mann mit faltigem Gesicht, ergrauenden schwarzen Haaren und dicker Lederjacke, die ihren von etlichen gerauchten Zigaretten in unzähligen Mittagspausen geschwängerten Moschusgeruch im ganzen Taxi verteilte, drehte sich nicht einmal um und fuhr einfach los. Sie konnte die Adresse ihres Hotels gerade noch so formulieren, bevor ein heftiges Schluchzen sie überkam, das sie schnell mit einem leichten Hüsteln zu übertönen versuchte und sich dann an die Tür kauerte, von wo aus sie die fremden Straßen hinter einem Wasserfall von Tränen hasserfüllt beobachtete.
Jeder Passant schien ihr Böses zu wollen. Ein betrunkener Mann mit einem Walkman tanzte um das Taxi, während es an einer Ampel zum Stehen kam und sie überkam ein Gefühl von Ekel und Abscheu. Wie hatte sie jemals glauben können, diese Stadt sei das, was ihr unzählige Hollywood-Filme und Lifestyle-Magazine versprochen hatten? Ihr wurde ganz anders bei dem Gedanken, wie sie vor ihrer Reise über ihre Heimatstadt gesprochen hatte, sie würde sich persönlich dafür entschuldigen. Menschen und Gehwege, bunte Lichter und Werbereklame, nichts davon nahm sie mehr wahr. Nur der zunehmende Mond, der einsam am Himmel hing, schien sie zu verstehen. Lediglich ein einziger Stern schaffte es sich gegen die Lichtverschmutzung der Stadt am Himmel durchzusetzen und baumelte in einer geraden Linie unter dem Halbmond, fast so als hätte dieser seinen Köder nach den Menschen ausgeworfen. Sie zeichnete die Linien des Mondes mit ihren erkalteten Fingern am Fenster nach und flüsterte: „Take me home!“
Der Taxifahrer, der wohl über ein sehr gutes Gehör verfügte, sagte ganz selbstverständlich, als hätte sie mit ihm gesprochen: „Just a couple more minutes, young lady.“ Seine Stimme hatte etwas Väterliches an sich, sein Akzent, den sie nicht richtig zuordnen konnte, wirkte beruhigend. Für einen Moment hatte sie vergessen, weshalb sie traurig war, und lächelte dem Mond zu, aber dann beschlich sie wieder das Gefühl, dass doch nicht alles gut war. Ihr fiel die Kamera ein, die gute teure Kamera. Wie sollte sie das ihren Eltern erklären? Im Lügen war sie nicht genug. Sie wusste genau, was ihr Vater sagen würde, wenn sie es ihm beichtete. „Du sollst doch nicht mit Fremden reden! Das hättest du besser wissen müssen! Selbst Schuld!“, gab sie sich selbst die Standpauke in ihrem Kopf, um sich schon mal darauf vorbereiten zu können.
Dann, ganz plötzlich, kam das Taxi wieder zum Stehen. Sie waren da, vor ihnen thronte das Hotel auf der anderen Straßenseite. Der Taxifahrer richtete den Rückspiegel auf sie. Ihr Blick fiel auf den Taxameter, wobei ihr beinahe die Augen aus den Höhlen sprangen. Das würde sie nie und nimmer zahlen können. Ihre Augen suchten nach einem Ausweg, einer Fluchtmöglichkeit. Adrenalin schoss ihr ins Blut. Im nächsten Moment riss sie die Tür auf und lief was ihre Beine hergaben. Dabei überkam sie ein hysterisches Lachen, doch gleichzeitig fingen die Tränen wieder an zu kullern, als sie so ziellos und verzweifelt über die Straße rannte, ohne zu wissen, wo sie eigentlich hinwollte. Denn ihr Hotel befand sich ja direkt vor ihr, der Mann wusste also, wo sie wohnte und musste nur an der Rezeption nach ihrem Namen fragen. Mit dieser Erkenntnis blieb sie stehen, völlig außer Atem, die Tränen noch immer in Strömen fließend. Sie konnte diesen armen Mann doch nicht um seinen Verdienst bringen. Beschämt drehte sie sich um, das Taxi stand immer noch an derselben Stelle, der Motor brummte im Standgas.
Wie ein begossener Pudel lief sie zurück, klopfte sachte ans Fenster und entschuldigte sich demütig bei dem Fahrer. Doch anstatt sie anzuschreien, lächelte dieser: „I knew you we’re going to run away, young lady. Anyone who’s crying in a taxi at night is running away. Now that you have come to know the city, you can enjoy it! Trust me.“ Ninas Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, aber die Tränen wollten einfach nicht aufhören. „How much?“, fragte sie mit weinerlicher Stimme. Er schaute auf den Taxameter, setzte ihn zurück und sagte dann wieder mit seinem väterlichen Lächeln: „A smile and whatever you can pay me.“ Sie glaubte ihren Augen und Ohren nicht, ein erleichtertes Schluchzen fand seinen Weg nach draußen und machte einen kaum merklichen Lächeln Platz. Dann suchte sie nach ihrem Geldbeutel, fand ihn und zählte die Scheine darin. Sie zog vier davon heraus und hielt sie dem Taxifahrer fragend entgegen, der sie mit breitem Grinsen bereitwillig annahm.
„Thank you! Enjoy your stay!“, sagte er dann, ließ das Fenster hoch und brauste davon.
Mit einem Gefühl der Zufriedenheit lief Nina zum Hotel zurück, als sie ein komisches Gefühl beschlich. Mitten auf der Straße hielt sie an, zog ihren Geldbeutel aus der Tasche und zählte die Scheine. Da war es ,als träfe sie der Blitz. Sie hatte in ihrer Verwirrung sechs anstatt vier Scheine herausgezogen, viel mehr, als es ursprünglich gekostet hatte. Sie hatte bei all ihrer Trauer vergessen, dass sie vorhin noch bei der Bank gewesen war. Sie wollte schreien, drehte sich nach allen Seiten hin um, ob das Taxi noch in Sichtweite war, doch es war zu spät. Sie sackte auf die Knie, versteckte das Gesicht in den Händen und weinte so bitterlich, dass sich bald eine Menschentraube am Straßenrand versammelt hatte und sie beobachtete.
Der Concierge des Hotels war nun auch auf sie aufmerksam geworden. Er erkannte sie wieder und eilte zu ihr hinüber. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, kniete er sich vor sie hin und schob behutsam ihre Hände zur Seite. Ihr Gesicht war klatschnass vor lauter Tränen, sie war zu müde, um ihn anzuschreien, auch wenn sie ihm gerne eine verpasst hätte für all das, was die Stadt ihr heute angetan hat. Aber sie war müde, todmüde und ließ sich daher wie ein nasser Sack von ihm in die Lobby tragen, wo er sie auf einer Couch ablegte.
„Do you need something? How can i help you?“, fragte er sie immer wieder, aber sie hörte nicht zu. „Just leave me alone...“, sagte sie schließlich, schob ihn beiseite und schlenderte zu den Aufzügen. Wie in Trance drückte sie die Taste mit dem Pfeil nach oben, bis ein Aufzug die Tür öffnete und sie darin verschwand. Sie drückte auf die Nummer fünf und sah sich im Spiegel an. Ein schrecklicher Anblick. Die Augen aufgequollen, das Gesicht mit roten Flecken überzogen, die Haare zerzaust, das Makeup verschmiert. Ihr Anblick widerte sie an, sie drehte sich um und sah sich, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Werbereklame an der Aufzugswand an. „New York – a city you will never forget“, las sie laut vor und brach erneut in Tränen aus.