Kurzgeschichte für Jugendliche über die flüchtigen Momente einer Sommernacht am See. Vier Freunde stehen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, erleben erste Brüche in ihren Beziehungen und werden mit der Realität ihrer Träume konfrontiert. Zwischen Sternschnuppen und Schweigen entfaltet sich eine melancholische Geschichte über das Ende der Unbeschwertheit und die Suche nach ihrem Platz in der Welt.
Kurzgeschichte zu der ich inspiriert wurde, als ich Abend für Abend noch am Tüttensee schwimmen gegangen bin und die letzten verbliebenen Badegäste während des kippenden Hochsommers rund um die Perseidennacht beobachtet habe.
Der See war ein fast kreisrundes, umwaldetes Gewässer wenige Kilometer außerhalb der Stadt. Für uns war er wohlig überschaubar, weil man von jeder Stelle des Ufers den gesamten See überschauen konnte. Und gleichzeitig geheimnisvoll unnahbar, weil er in einer Senke lag, umgeben von hoch gewachsenem Wald, der die meiste Zeit des Tages seine größer werdenden Schatten auf die Wasseroberfläche warf. Niemand wusste, wie tief der See war, manche erzählten sogar, dass er als Einschlagsloch eines antiken Kometen entstanden sei. Uns war es egal. Wir wussten, dass es Schlangen im See gibt, und mehr Grusel und fantastische Geschichten, die sich um den See rankten, brauchten wir nicht.
Wir waren endlich alt genug, um in den Sommernächten zu tun und zu lassen, was wir wollten, obwohl wir alle noch bei unseren Eltern wohnten. Wir waren fast jeden Tag am See, sprangen vom Steg ins Wasser, schwammen zur hölzernen Insel, wo die Mädchen versuchten, uns ins Wasser zu schubsen und selbst laut schreiend im Wasser landeten. Abends spielten wir Volleyball so lange, bis es dunkel war, und manchmal sprangen wir danach noch einmal ins Wasser. Aber selten, weil die Mädchen sich vor den Schlangen fürchteten. Dabei war die einzige reale Gefahr die Mückenplage, die den See jedes Jahr befiel.
Einmal übernachteten wir am Ufer. Es war kalt und feucht und die Mücken saugten uns halb leer, aber wir wärmten uns in unseren Schlafsäcken und bald spürten wir die Mücken nicht mehr, und es wurde warm und aufregend. Und immer stiller. Mitten in der Nacht, als die Stille zu gleichmäßigem Atmen wurde, sagte einer nur: "Die Sterne!" Und wir starrten die restliche Nacht auf das fast kreisrunde Stück Universum über uns.
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Wir redeten den restlichen Sommer darüber, es wieder zu tun, die Nacht zu wiederholen. Aber Ines war nicht mehr mit Hans zusammen, und Ellis wollte nicht, dass sie in Peters Schlafsack schlief, und überhaupt war nach dieser Nacht einiges kompliziert geworden.
Im August, als es schon herbstlich früh dunkel wurde und der Sommer sich in drückender Schwüle noch einmal aufbäumte, sprangen wir im Abendlicht ins Wasser. Peter rief: „Wer als Erster bei der Plattform ist!“, und Ines und Ellis versuchten, ihn einzuholen. Ines war schneller, weil sich Ellis die ganze Zeit umdrehte und schaute, wo die anderen waren. Aber wir waren nicht mehr so viele wie noch am Anfang des Sommers. Die einen waren mit ihren Eltern auf einer Kreuzfahrt und der Rest irgendwo in der Toskana im Urlaub.
„Hast du jetzt schon einen Plan?“, fragte Peter, als wir auf der Plattform saßen und die Beine ins trübe Wasser baumeln ließen.
Ines lachte und spritzte mit ihren Füßen Wasser in seine Richtung. „Nein!“, sagte sie. „Tausendmal Nein! Und ich liebe es!“
Ellis hob den Kopf.
„Leben im Konjunktiv ist mein Plan“, sagte Ines und ließ ihre Füße über die Wasseroberfläche gleiten, sodass man ihre in Regenbogenfarben lackierten Zehennägel und das Tattoo an ihren Zehen sehen konnte. „Ich könnte noch ein Freiwilliges Ökologisches Jahr mit den Klimaklebern machen“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Mach ich aber nicht.“ Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ sich rücklings auf die Bohlen zurückfallen. Ihr Bikini spannte etwas, als sie ihre Glieder von sich streckte. Ihre Beine berührten Peters Schenkel. „Ich könnte mit diesem Literaturstipendium durch Italien reisen, ein wenig vögeln, darüber schreiben und in einer Feministenzeitung veröffentlicht werden. Aber das mach ich auch nicht.“
Peter schaute sie lange an. „Wenn du so weitermachst, bist du im Herbst alleine da. Geh doch mit Ellis nach Berlin. Ist doch egal, was du studierst. Hauptsache weg.“
Ines stubste Peter in die Seite und tat so, als wollte sie ihn ins Wasser schubsen. „Das sagt ausgerechnet der, der irgendeinen Scheiß studiert, weil er sowieso das Erbe seines Vaters übernehmen muss. Oder schlimmstenfalls die ganze Firma.“
„Mich interessiert Biologie wirklich!“ Beide lachten.
Ellis glitt lautlos ins Wasser und schwamm zurück ans Ufer. Wir folgten ihr. Es war die Nacht, als wir doch noch ein letztes Mal die Schlafsäcke aus dem Auto holten und uns ans Ufer legten, um die Perseiden anzuschauen.
Ellis wollte erst nicht. Wegen der Mücken, der Schlangen und überhaupt. Als Peter sagte, es sei noch immer warm und trocken und die Mücken nicht der Rede wert, blieb auch sie. Wir lagen eng beieinander in der Wiese und die Öffnung über dem See wurde immer schwärzer und die silbern blinkenden Punkte immer mehr. Als nach einer Stunde des Starrens nichts passiert war, vermutete Peter, dass die Sternschnuppen vielleicht außerhalb des Stücks Himmels, der uns zur Verfügung stand, herunterregneten.
„Ist das eine Metapher?“, fragte Ines. „Die Perseiden schütten tausende Sternschnuppen herunter, und wir schauen auf den einzigen Punkt am Himmel, an dem es keine Sternschnuppen zu sehen gibt.“
„Auf dein Leben vielleicht!“, antwortete Peter mit leiser Stimme. „Du bist ja die Einzige, die noch nichts hat.“
„Ich brauche auch nichts. Ich bin die Sternschnuppe“, sagte Ines, und Peter rückte ihr ein wenig näher.
Bald kroch die Kälte vom See her über das Gras bis zu unseren Schlafsäcken. Die Nachgeräusche wurden lauter, bis es ganz still war. Bis auf das Rascheln in den Schlafsäcken und das kaum hörbare Schmatzen, das entweder vom See oder von uns kam. Wer von uns die Augen noch aufhatte und alleine im Schlafsack lag, schaute auf den kreisrunden Abschnitt am Himmel, an dem immer mehr silbern blinkende Punkte zu erkennen waren. Es waren sehnsüchtige Blicke, voll Hoffnung, jeden Moment eine Sternschnuppe zu sehen. Aber die Sterne blieben, wo sie waren, und wir fragten uns, welche Wünsche sich die anderen aufsparten für den Fall, dass doch ein Meteorit silbern über das Firmament schweifte.
„Schläfst du schon?“, fragte Hans.
Ellis schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht.“
„Ich auch nicht.“
Irgendwo da draußen waren die Schlangen, die erst in der Nacht aktiv wurden. Und die letzten Mücken, die noch nicht satt waren, lauerten auf ihre Chance, wenn die warmen, feuchten Körper aus den Schlafsäcken ragten.
„Keine einzige Sternschnuppe“, sagte Hans. „Heute haben wir kein Glück.“
„Heute“, stimmte Ellis zu. Und fragte: „Wie hältst du das aus?“
„Dass keine Sternschnuppe zu sehen ist?“
Ellis schwieg.
„Da!“, flüsterte Hans und zeigte auf den schmalen Ausschnitt Himmel.
Ein Satellit, ungewöhnlich groß und hell, tauchte auf.
„Wenn das eine Sternschnuppe wäre, was würdest du dir wünschen?“, fragte Hans.
Ellis schwieg.
Hans deutete zum Himmel: „Schau! Noch einer!“ Hinter dem Satelliten folgte in kurzem Abstand ein zweiter.
„Und du?“, fragte Ellis.
„Ich würde schon gerne wieder…“, er stockte. „Aber sie… Schau! Noch einer!“
In exakt gleichem Abstand folgte ein dritter Leuchtpunkt den ersten beiden.
„Was ist das?“, fragte Ellis.
Ein vierter Satellit erschien, und wie an einer geraden Schnur glitten die weißen Punkte in gleichmäßigem Abstand über den Himmel.
Ellis merkte, wie sich Hans' Körper anspannte. „Ich weiß nicht, was das ist. Aber es sieht unheimlich aus.“
Die Kette aus Lichtpunkten wurde immer länger. Bald waren sieben zu sehen, und es wurden immer mehr.
„Ich habe Angst“, sagte Ellis.
„Du brauchst keine Angst haben. Das sind sicher nur Satelliten.“
Als die silbernen Punkte wie eine lange Kette den gesamten Himmelsausschnitt durchkreuzten, funkelte eine Sternschnuppe auf. Hell glühend und so riesig, als sei sie ein Meteorit, der direkt auf uns zuraste. Sie zerschnitt die Lichterkette in einem rechten Winkel, sodass kurz ein großes silbern illuminiertes Kreuz am Himmel zu sehen war.
„Jetzt darfst du dir was wünschen!“, sagte Hans.
„Ich kann nicht“, sagte sie, und beide lauschten in die Stille, die nur von einem kaum hörbaren Geräusch überlagert wurde, wie das Blutsaugen der Mücken klingen könnte oder die Wasserschlangen, wie sie über die feuchte Wiese glitten.
„Ich habe nur einen einzigen Wunsch, den ich aber nie aussprechen würde.“
„Sollst du auch nicht, sonst geht er nicht in Erfüllung.“
„Ich bin schwanger“, flüsterte sie. „Ich bin schwanger.“
Ende