Mein erster Tag in der Thoreau Hütte führte mich in den urigen Wald des Nationalparks Bayerischer Wald – ein Ort, an dem die Natur sich selbst überlassen bleibt und der Mensch zum stillen Beobachter wird. Hier teile ich meine Eindrücke, wie es ist, in diese ursprüngliche, fast magische Wildnis einzutauchen. Kein Lärm, keine Ablenkung – nur der Wald, die Stille und die eigenen Gedanken. Begleite mich auf diesem Weg und entdecke, was es heißt, mit der Natur auf Tuchfühlung zu gehen.
Nach einer ausführlichen Einführung in das Wildnis-Camp, blieb einzig in Erinnerung, dass es verdammt viele Regeln in der Wildnis gibt. Und dass man überaus viel verkehrt machen kann. Und im besten Fall nach den Tagen im Wald einzig der Koch auf einen sauer ist. Der erste Impuls war, mich höflich für die Einladung zu bedanken und wieder nach Hause zu fahren, wo ich einzig den Regeln meiner Frau unterworfen war und nicht für ein ganzes Camp verantwortlich war. Die Frage, was Thoreau an meiner Stelle getan hätte, ließ sich natürlich leicht beantworten. Es ist bekannt, was der Autor von der „Pflicht zum zivilen Ungehorsam“ von Regeln und Autoritäten hielt. Trotzdem oder folglich ging ich furchtlos in die Wälder und bezog dort meine Hütte. Das Wildniscamp am Falkenstein liegt mitten im Nationalpark Bayerischer Wald. es gibt dort für die Gäste, die in der Regel aus Schulklassen bestehen, unterschiedliche Hütten. Zum einen die Länderhütten wie ein Tipi, eine Jurte, oder auch die Thoreau Hütte. Es gibt aber auch die wundervoll gestalteten modernen Erlebnishütten wie ein Baumhaus, ein Haus am Fluß, oder eine Erdhütte.
Unweit des Camps befindet sich der Wanderparkplatz Zwieslerwaldhaus. Dort parkte ich mehr als mein Auto. Ich stellte im Zwieslerwaldhaus meine letzte Verbindung zur Zivilisation ab. Der Wanderparkplatz war der Startpunkt der vielen, sehr gut ausgeschilderten Wanderungen durch den Nationalpark Bayerischer Wald rund um den Falkenstein. Gut, ein Thoreau hätte auf die Schilder wohl nicht geachtet und wäre seinen eigenen Weg gegangen. Aber für mich war alles hier so überwältigend neu, dass ich recht dankbar war, die Nationalparkverwaltung des Bayerischen Waldes mich fiktiv bei der Hand nehmen zu wissen. Petra, meine Ansprechpartnerin von Waldzeit e.V., hatte mir empfohlen, unbedingt den Urwald zu besuchen. Die Strecke war mit 3-4 h ausgeschrieben. Das erschien mir ein guter Start.
Ich spazierte durch einen typischen Bergforst, wie ich ihn von zu Hause zur Genüge kannte. Ich wäre vielleicht sehr enttäuscht gewesen, hätten nicht längst intensive Gedankenprozesse ihre Tätigkeit begonnen. Ich war tatsächlich allein in der Wildnis und würde die nächsten Tage noch alleiner sein. Erinnerungen kamen hoch, als ich zuletzt im Bayerischen Wald war. Familienurlaub, ich war Elf. Meine Eltern sind inzwischen gestorben. Und mein Papa war damals in etwa so alt, wie ich jetzt. Etwas in mir begann zu arbeiten. Zu Hause gab es in meiner Familie einige unaufgearbeitete Themen. Als ich mitten im Wald auf einmal bemerkte, dass ich Netz hatte, rief ich sofort an. Wandernd telefonierte ich mit meiner Frau, ließ mir von den Schwierigkeiten des Lebens in der Zivilisation berichten. Und merkte, dass ich Heimweh hatte. Dabei war ich noch keinen halben Tag weg. Das war neu. Inzwischen war ich eine Dreiviertelstunde unterwegs und nach meinem Richtungsgefühl war ich stets geradeaus gelaufen. Stand auf dem Schild vielleicht 3-4 Stunden?
Kurz bevor ich entschlossen war, umzudrehen, lotste mich ein Schild bergab nach links. Auf dem Schild stand klar und deutlich „Zwieslerwaldhaus – P“ Ich war also richtig. Aber auch ein wenig enttäuscht. Der Wald hatte sich bisher nicht von meinen heimischen Chiemgauer Wäldern unterschieden. Erst jetzt wandelte sich der Wald. Das, was ich die gesamte Wanderung über für den Urwald gehalten hatte – einen sehr langweiligen Urwald – war gar keiner. Die Bäume wurden mächtiger und moosiger und waren von unzähligen Pilzen bewachsen. Erst jetzt hatte ich offensichtlich den eigentlichen Urwald erreicht.
Das wahrhaftig eindrucksvolle am Urwald war aber nicht nur die Höhe und Vielfalt der Bäume. Es war etwas anderes. Etwas, das so auf der Hand lag, dass ich als zivilisierter, obwohl Wald liebender Mensch, noch nie gesehen hatte. Links und rechts des Weges lagen, wie gigantische Monstrümer, die verwitternden Riesenstämme umgefallener Bäume. Natürlich! Wer hätte vor Urzeiten die Baumstämme aufräumen sollen? Die Eichhörnchen? Der Gedanke, dass die erhabenen Baumstämme der einst majestätischen Fichten und Eichen noch Jahrzehntelang die Vegetation des Waldbodens und die Landschaft auch in der Vertikale prägen, faszinierte mich ungemein.
Kürzlich hatte ich im Dino-Park Altmühltal das lebensgroße Modell eines verwesenden Tyrannosarus Rex gesehen, an dessen Kadaver sich unzählige Tiere wochenlang labten. Ein ähnliches Bild, im noch gigantisch größeren Stil, bot sich hier im Wald. Die Titanen von einst waren nun Wasserspeicher und Nahrungsgrundlage von Myriaden von Kleinsttieren und Pflanzen. Selten hat mich ein Waldspaziergang so intensiv über Vergänglichkeit und den ewigen Kreislauf des Lebens nachdenken lassen. Thoreau hätte hier seine helle Freude gehabt. Und sofort war der nächste Gedanke da: Kannte Thoreau solche Wälder noch rund um den Walden-Teich? Oder wurden auch damals schon alle Wälder vom Menschen kultiviert?
Vor lauter Staunen merkte ich erst gar nicht, dass es zu regnen begonnen hatte. Eine Weile schützte mich noch das Dach des Waldes. Als ich mich der Siedlung, also der Zivilisation näherte (Ich war fast zwei Stunden unterwegs gewesen), schüttete es aus vollen Kübeln. Meine Jack-Wolfskin Jacke blieb trocken. Aber meine Hose hatte dem Regen nichts entgegenzusetzen. Immer schneller werdend, kehrte ich in meine Hütte zurück.
Am Abend hatte ich ausreichend gelesen und geschrieben und sehnte mich erneut nach den Menschen. Die Siedlung Zwieslerwaldhaus würde mein persönliches Concord werden, dachte ich Wie Thoreau spazierte ich in die Stadt, um dort irgendwo einzukehren. Aber es regnete noch immer und es waren keine Touristen da (außer mir). Folglich hatten die beiden Gasthäuser geschlossen. Ich war allein. Zurück in meiner Hütte verzehrte ich ein Schwarzbrot mit Aufstrich, versuchte erfolglos den Holzofen einzuheizen und las noch eine Weile im Schein meiner Campinglampe. Mit dem Sonnenuntergang ging ich ins Bett.
Auf die Tage in meiner Hütte hatte ich mich sehr gefreut. Was mir in meiner naiven Vorfreude ein wenig entgangen war: Auf jeden Tag folgt eine Nacht. Schon in der Zivilisation spielte mir meine rege Fantasie und die Erinnerung an zu viele Psycho-Horrorfilme wie „Blair Witch Projekt“, die ich früher geschaut hatte, so manchen üblen Streich. Vor der ersten Nacht hatte ich mir bislang keinen Gedanken gemacht. Es waren zwei Dutzend Ranger rund um meine Hütte postiert, ich war also nicht allein. Da sich die Ranger aber weder blicken noch hören ließen, konnte ich nicht einschlafen. Die Müdigkeit eines langen Tages und ein kleines Bier, das Nachhelfen sollte, drückten mir die Augenlider zu, aber ich konnte einfach nicht schlafen. Als das Wachen in unruhige Traumbilder hinüberglitt, wurde ich nicht vom erhofften Tiefschlaf heimgesucht, sondern wachte jede Stunde kurz auf. War da ein Geräusch? Erst als um 5 Uhr der Wecker ging, also die Schwarze Nacht ihre Bedrohung verloren hatte, fiel ich in den erhofften seligen Schlummer.