Wann ist man ein Schriftsteller? Diese Frage hat mich mein ganzes Leben begleitet, und kürzlich durfte ich mit jungen Autorinnen und Autoren vom W1 Kulturzentrum Regensburg darüber diskutieren. Die trafen sich zu einem Schreib-Retreat im mir wohlbekannten Knallerhof am Güßhübel bei Kirchanschöring. Schon als ich ankam, ahnte ich, dass dieses Treffen an sich schon wieder Inspiration für neue Geschichten sein könnte.
Inspiration und Austausch am Güßhübel
Der Güßhübel ist ein außergewöhnlicher Kraftort in der Nähe von Kirchanschöring, und dazu noch ein Ort meiner Ahnen. Immer wieder durfte ich in den letzten Jahren als Autor an den Güßhübel zurückkehren, meine Geschichten vorlesen oder mich für neue inspirieren lassen. Als ich die jungen Regensburger Autoren sah, die barfuß im Schatten der Obstbäume saßen und den Blick über die Weite des Voralpenlandes Richtung Untersberg schweifen ließen, war mir sofort klar: Dieses Schreib-Retreat war eine geniale Idee. Denn Autoren – jedenfalls Autoren wie ich – brauchen nichts mehr als einen ruhigen, unfassbar schönen Ort und anregende Gesellschaft interessanter Menschen.
Die bunte Truppe junger Schreiber aus Regensburg hatte es natürlich in sich. Da waren die unterschiedlichsten Charaktere zusammengekommen. Und mittendrin Johannes, der Leiter der Schreibgruppe, der immer wieder von seiner Leidenschaft für die bildende Kunst erzählte.
Auch so manch berühmter Autor begleitete uns. Allen voran Benedict Wells, dessen neu erschienenes Buch „Die Geschichten in mir“ Ausgangspunkt mancher Betrachtungen war. Die Hauptperson meiner Kurzgeschichte „Der Tag, als die Kultur starb“ war ebenfalls Teil unserer Diskussionen, anhand derer ich viel über die Entstehung meiner Geschichten erzählen konnte. Und natürlich war auch Wolfgang Herrndorf da, wie immer, wenn ich von Literatur erzähle, weil kein Autor mich so sehr inspiriert hat. Geht es nach Benedict Wells’ Ansage „Steal your Darlings“, so habe ich einiges von Herrndorf geklaut. Möchte aber zu meiner Verteidigung sagen, dass ich das Klauen von ihm abgeschaut habe, denn er war ein Meister im Verstecken von „Eastereggs“ der Weltliteratur.
Die Frage nach dem Schriftstellersein
Klar, die jungen Autorinnen und Autoren waren da, um selbst zu schreiben. Aber auch, um von anderen zu lernen, die schon etwas Erfahrung haben, wie der Schreibprozess in Gang gebracht werden kann. Auch wenn sich bei mir der große kommerzielle Erfolg noch nicht eingestellt hat, kann ich zumindest darüber erzählen, wie ein Roman entsteht. Und auch ich habe mich beim Nachdenken über diesen Prozess dabei erwischt, dass ich immer erst von anderen erzählen muss, von meinen Vorbildern, um meinen Schreibprozess zu erklären.
Also fing ich in der warmen Abendsonne am Güßhübel an, von meinem literarischen Erweckungserlebnis zu erzählen. Alle, die Benedict Wells' „Die Geschichten in uns“ schon gelesen haben, werden nun gelangweilt die Augen verdrehen. Aber auch bei mir war es John Irving. Das ist vielleicht kein Zufall. Als Sohn der Büchereileiterin hatte ich zwar Zugang zu tausenden Büchern, aber bei den Erwachsenenbüchern interessierten mich nur die Blockbuster von Michael Crichton, John Grisham oder auch Stephen King. Das, was wir in der Schule als Literatur kennenlernten, wie „Kabale und Liebe“ oder so ziemlich alle Dramen von Max Frisch, fand ich gähnend langweilig. Was ziemlich seltsam ist für einen Teenager, der längst selbst zu schreiben begonnen hatte.
Vielleicht deshalb schenkte mir zufällig eine lose Bekannte, die wusste, dass ich leidenschaftlicher Schreiber war, zu meinem 20. Geburtstag John Irvings „Garp und wie er die Welt sah“. Und ich sah seitdem die ganze Welt anders. Als ein verkopfter Schreiberling, der manche Wirrungen der Pubertät nie ganz aufgearbeitet hatte, durfte ich ein erstes Mal in den Kopf eines anderen Menschen hineinschauen, der teils mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte. Ich war begeistert von dem Buch. Und davon, dass man so schreiben konnte. Dass so etwas möglich war, so tiefe Gefühle zu beschreiben und gleichzeitig im Leser auslösen zu können. Es war ein life-changing book. Hinzu kam, dass Garp schon als junger Mann behauptete, Schriftsteller zu sein, obwohl er noch jahrelang keine einzige Zeile schreiben würde.
Bei dieser Anekdote schaute ich auf und fragte in die Runde, ab wann man denn ein Schriftsteller sei. Ab dem Moment, an dem man zu schreiben beginnt? In dem Moment, in dem man ein Buch veröffentlicht hat? Oder erst dann, wenn man es bei einem Verlag veröffentlicht hat? „Dann bin ich immer noch kein echter Schriftsteller“, musste ich kleinlaut zugeben. Die Antwort, die mir am besten gefiel, bezog sich auf Tätigkeit und Beruf: „Wer schreibt, ist ein Autor. Schriftsteller ist eher die Bezeichnung für den Beruf.“ Diese Antwort gefiel mir deshalb recht gut, weil ich dann immerhin als „Teilzeit-Schriftsteller“ firmieren darf.
Berufung und Brotberuf
Ich erzählte schließlich, wie ich nach dem Abitur als Garp-Geschädigter Autor beim Berufsberater saß und ihm erklärte, dass ich genau weiß, was ich gut kann und was mir Spaß macht: „Ich habe schon einen Roman geschrieben. Ich verdiene mit Schreiben ein wenig Geld. Ich möchte Schriftsteller werden!“
Der Berufsberater sah mich dann mit einem so leicht mitleidigen Blick an und erklärte mir lang und breit, wie schwer es ist, als Schriftsteller seine Miete zu bezahlen. Ich war enttäuscht. Und ich war wütend. Und ich dachte mir: „Das, was du kannst, kann ich schon lange!“ Und bewarb mich kurzerhand selbst beim Arbeitsamt. Der Rest ist Geschichte. Heute sitze ich selbst als Berufsberater jungen Autoren gegenüber und versuche ihnen Hilfestellung auf dem Weg zum Schriftsteller zu geben.
Ein Plan für das Leben als Autor
Da auch unter den jungen Regensburgern der eine und die andere dabei war, die überlegte, mit Schreiben Geld zu verdienen, musste ich noch meine Vision, meinen Plan erklären: Damals wusste ich bereits, dass ich ein Autor bin, der nicht nicht schreiben kann. Ich würde mir also einen Beruf suchen müssen, der mir die Miete bezahlte und genügend Freizeit bot, um nach der Arbeit Schriftsteller sein zu können. Rückblickend muss ich zugeben, dass der Plan gar nicht so verkehrt war.
Denn alle in meinem engen Umfeld, die sich für einen schreibenden Beruf entschieden haben, meist für eine Zeitung, haben zwar den ganzen Tag geschrieben, aber nichts Literarisches mehr. Und nach Feierabend hatten sie keine Lust mehr auf Prosa und Fiktion.
Natürlich gibt es noch die jungen Leute, die alles auf eine Karte setzen und sich als Schriftsteller durchsetzen wollen. Benedict Wells ist einer, der das geschafft hat, und die Lektüre seines Werdegangs ist zwingend empfehlenswert!
Wie Romane entstehen
Jetzt hatte ich schon eine Stunde lang geredet und noch kein Wort davon erzählt, wie mein Roman „Falko“ entstanden war. Ich wusste bereits, dass viele Autoren ein großes Thema, vielleicht ein Lebensthema haben, das sie nur entdecken müssen. Bei mir war es erst das ausgelassene Partyleben junger Erwachsener und deren Weigerung, endlich erwachsen zu werden. So entstanden die Kleinstadtrebellen. Und dann besuchte mich der Tod ein erstes Mal. Und auch meine wild feiernden Twentysomethings mussten sich mit dem Tod auseinandersetzen. Ich wusste, dass der Tod nicht mehr aus meinen Büchern verschwinden würde. Die Frage war nur, wen es als Nächstes erwischen würde. Meine Romanhelden waren immer noch junge Erwachsene, die sich ins Leben stürzten, die lebten und liebten, als gäbe es kein Morgen. Doch diesmal hatte mein Hauptprotagonist Hans einen triftigen Grund: Er wird damit konfrontiert, dass seine Mutter Krebs hat und sterben könnte. Sein exzessives Leben ist ein auswegloser Versuch, die Realität zu verdrängen.
Die literarische Verarbeitung von Tod und Verlust
Anhand von „Sterne sieht man nur bei Nacht“ konnte ich recht gut erklären, wie meine Geschichten teils entstehen. Diesmal orientierte ich mich an Thomas Mann. Dessen „Tod in Venedig“ war beispielsweise nichts weiter als eine Nacherzählung seines Italienurlaubs. Er hatte wochenlang einem hübschen Jungen am Strand nachgeschaut, einige skurrile Seltsamkeiten in Venedig erlebt und schließlich alles aufgeschrieben. Alles, was irgendwie mit dem Tod zu tun hatte, verstärkte er, alles andere ließ er weg. „Tod in Venedig“ wurde zu einer seiner berühmtesten Erzählungen. Der Urlaub hatte sich gelohnt. So ähnlich erging es mir mit den „Sternen“. Der große zweite Teil, der komplett in Paris spielte, war nichts anderes als meine Hochzeitsreise. Ich ließ Hans, Ellis und Loni Schneider dieselben Orte besuchen. Ich konzentrierte mich auf die morbide Stimmung in Paris. Und mit einem zweiten Zaubertrick versuchte ich Thomas Mann zu imitieren: Ähnlich wie auf dem Zauberberg, wo der Leser über hunderte Seiten eingelullt wird, versuchte ich dem Leser vergessend zu machen, dass Hans’ Mutter krank ist. So wie Hans selbst es verdrängt. Obwohl im Paris-Teil der Tod überall auftaucht, omnipräsent ist, spielt er paradoxerweise keine Rolle mehr. Nur, um im dritten Teil der „Sterne“ umso mächtiger zurückzukehren.
Ich kannte den Tod schon lange...
Der Tod war nun also Teil meiner Literatur. „Sterne sieht man nur bei Nacht“ war eigentlich die Aufarbeitung des Todes meiner Mutter. Während ich das Buch schrieb, starb mein Vater. Und in dem Monat, in dem ich die „Sterne“ veröffentlichte, war die Beerdigung meines Schwagers Daniel. Daniel, der Mann meiner Schwester, kämpfte eineinhalb Jahre lang mit und gegen ein Glioblastom. Am letzten Heiligabend, den er noch gesund erlebte, hatte ich auf der Couch in seinem Wohnzimmer als Geschenk „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf ausgepackt. Das berührende Tagebuch meines Lieblingsschriftstellers, der drei Jahre lang das Leben mit dem tödlichen Hirntumor in seinem Blog beschrieben hatte. Ich wusste ganz genau, was die Diagnose Glioblastom bedeutete, als ich in meiner engsten Familie damit konfrontiert wurde. Die eineinhalb Jahre, in denen Daniel alle Phasen der Krankheit durchlaufen musste und ich ihn dabei begleiten durfte, waren die intensivste Zeit meines Lebens. Ich wurde ein zweites Mal Papa. Mit der Familie zog ich um. Einige der größten Momente eines Lebens waren stets überschattet, weil der Tod immer mit dabei war.
Nach Daniels Tod las ich „Arbeit und Struktur“ noch viele, viele Male. Kein Buch hat mir in meinem Leben so viel Trost gespendet. Von keinem Buch habe ich so viel über das Schreiben gelernt und den Wert des Lebens. Und die Unabwendbarkeit des Todes. Dennoch hat es mehr als ein Jahr gedauert, bis mein Lebensthema und mein nächstes großes Schreibprojekt begriffen, dass sie zusammengehören.
Die Entstehung von„Falko“
Ich wollte einen großen Jugendroman schreiben. Eine Hommage an „Tschick“. Ein Coming-of-Age-Roman, den ein junges Publikum locker, lässig, vergnügt wegliest. Und den ein älteres Publikum aufgrund seiner Tiefe und literarischen Verweise ebenfalls liebt. Also warf ich die Themen Tschick, Glioblastom und Roadtrip in einen Topf. Bisher wäre es ein „Tschick 2.0“ geworden. Langweilig. Eine wichtige Zutat fehlte noch. Aus einem Grund, der sich heute nicht mehr nachvollziehen lässt, der aber unabwendbar und absolut folgerichtig erschien, wurde diese Zutat Falco. Im Nachhinein sind es oft die bescheuertsten und unmöglichsten Ideen, aus denen dann doch etwas Großes entsteht. Denn ich wollte einen humorvollen, leicht zu lesenden Coming-of-Age-Roman über den Tod und das Sterben schreiben. Mit Happy End natürlich. Und mir war schon klar, dass das größenwahnsinnig ist. Aber ich habe angefangen zu schreiben. Erst unzählige Textproben, um den Sound, die Stimme des Romans einzufangen. Bald kam die Idee, dass beide erzählen sollten: Falko und Wolfgang. Und ziemlich früh kam die Idee, dass sie bei ihren Roadtrips nicht nur nach Wien, sondern auch nach Altötting fahren müssten. Um dort den Tod von Altötting zu zerstören. Es war die Schlüsselszene nicht nur bei der Romanentstehung, sondern des ganzen Buches. Als ich ein erstes Mal von der Idee erzählte, ahnte ich, dass das Buch funktionieren würde, wenn der Tod von Altötting funktioniert. Und es war im Winter 2019, als ich das Kapitel ein erstes Mal vor Publikum vorlas. Und ratet mal wo? Richtig! Es war hier, am Güßhübel, wo Falko ein erstes Mal in den Köpfen der Zuhörer real wurde. Damals war das Buch noch nicht fertig. Aber aufgrund der Reaktionen im Publikum wusste ich, dass Falko funktionieren würde!
Ein Buch schreiben - ein Weg voller Höhen und Tiefen
Mit dem fertigen Manuskript begab ich mich noch auf eine lange Suche nach einer Agentur. Und auch dieser Weg schien wie vorgezeichnet. Es war ausgerechnet die Benedict-Wells-Lesung in Regensburg, bei der sich alle Puzzlesteine zu fügen schienen. Ich durfte Benedict Wells einige Fragen stellen, ließ mir Tipps geben, erzählte von Falko. Und nachts, als ich nach einer unvergesslichen Nacht todmüde ins Bett fiel, checkte ich noch einmal die Mails. Eine davon war von derselben Agentur, bei der auch Benedict Wells unter Vertrag stand. Sie wollten mein Manuskript! Ich war außer mir vor Freude! Alles schien seinen vorbestimmten Gang zu nehmen, und ich sah mich schon selbst als gefeierter Autor bei „Regensburg liest ein Buch“ mit Falko auf der Bühne. Aber jener 10. März 2020 war nicht nur in meinem Leben ein geschichtsträchtiger. Sondern für die gesamte Kulturszene, für das ganze Land. Vielleicht die ganze Welt. Denn die Corona-Pandemie hatte begonnen, das Leben lahmzulegen. Es war die allerletzte Kulturveranstaltung für lange Zeit. Und auch die Buchbranche zog an der Handbremse. Die Agentur schickte mir einige Wochen später eine karge, knappe Mail, in der sie mir mitteilte, dass sie keine neuen Autoren unter Vertrag nähmen.
Ich war also zunächst ein Corona-Verlierer. Falko würde im Eigenverlag veröffentlicht werden. Aber zuvor geschah noch ein anderes kleines Wunder, das ich noch erwähnen musste: Ich war einer der Ersten, der eine Corona-Kurzgeschichte veröffentlicht hatte. Google bemerkte das und zeigte meine Kurzgeschichten-Rubrik meiner Homepage www.chiemgauseiten.de fortan auf den ersten drei Plätzen an. Auf einmal war ich literarisch auf der Landkarte. Zumindest im Internet. Zigtausende Schüler mussten im Homeschooling meine Kurzgeschichten analysieren, und verzweifelte Väter schrieben mir E-Mails, was ich, der Autor, sich bei dieser und jener Kurzgeschichte wohl gedacht hatte.
So wurde ich doch noch zu einem Pandemie-Gewinner und profitiere bis heute zumindest online davon.
Schreiben als Weg und Ziel
Mein Wunsch an die jungen Autoren ist, dass sie ihren Weg gehen. Dass sie sich mit Begeisterung und Leidenschaft in das Schreiben stürzen. So wie ich. Aber auch die Energie haben, ihre entstandenen Texte so eifrig zu überarbeiten, wie es beispielsweise Benedict Wells macht. Schreiben ist eine Leidenschaft. Schriftsteller vermutlich ein Beruf. Beides hat seine Reize. Ich werde meinen Weg weiter dahin gehen, Schriftsteller zu sein. Und sage an dieser Stelle Danke an die Inspiration vom Güßhübel und den jungen Autoren, über das Schreiben zu schreiben.
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