Die Verantwortung trägt der Zufall

Kurzgeschichte für Jugendliche

Kurzgeschichte Jugendliche Verantwortung trägt der Zufall
Kurzgeschichte für Jugendliche

Wie kleine Zufälle das Schicksal einer ganzen Familie über Generationen bestimmen können. Kurzgeschichte für Jugendliche über den Lauf des Schicksals: Ein Jugendlicher bricht heimlich zu einer Party auf, um ein Mädchen zu sehen. Durch Zufall entdecken seine Eltern sein Verschwinden. Ein Fahrradunfall mit dem Auto des Mädchens führt zu dramatischen Wendungen. Jahre später reflektiert er die Ereignisse dieser Nacht und deren Auswirkungen auf sein Leben und seine Familie.

Eine meiner ersten Kurzgeschichten, die ich geschrieben habe, als ich selbst ein Jugendlicher war. Die Geschichte eignet sich deshalb ganz besonders für Jugendliche und junge Erwachsene zum lesen, vorlesen und interpretieren.

Kurzgeschichte über den Zufall

Irgendein Philosoph, dessen Namen ich mir nicht merken konnte, sagte einmal: „Das Leben ist nur ein wahlloses Zusammenspiel einzelner Zufälle.“ Was er damit meinte, begreife ich erst jetzt nach und nach, da ich mich an die Kleinigkeiten zurückerinnere, die dazu führten, dass die Dinge so wurden, wie sie heute sind.

Der erste Zufall meines Lebens geschah bereits vor fünfundzwanzig Jahren, als sich die Natur dazu entschloss, mich zu einem Jungen werden zu lassen. Die Sache, wie das mit den X- und Y-Chromosomen so im Detail funktionierte, sollte ich zwar später in Bio einmal durchpauken, allerdings ist davon in meinem Gedächtnis ebenso viel hängen geblieben wie von den Namen irgendwelcher Philosophen. Fakt ist, ich wurde ein Junge. Fakt ist auch, wäre ich ein Mädchen geworden, hätte meine Geschichte gar nicht diesen ganz speziellen Lauf nehmen können. Denn kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag strahlte mich meine Mom das erste Mal an und himmelte: „Schau nur! Dir sprießt ein kleines Bärtchen.“

Wenn Mütter doch nur wüssten, wie furchtbar peinlich das für einen Jungen ist, der gerade den Schock überwunden hat, mit einer tiefen Bärenbrummstimme sprechen zu müssen. Wäre ich ein Mädchen geworden, wäre mir wohl beides erspart geblieben.

Etwa ein Jahr später, in jenem wundervollen, endlosen Sommer nahmen die Dinge ihren Lauf. Mein Vater fuhr gerne mit dem Rad, eigentlich fast immer. Distanzen unter zehn Kilometer legte er aus Prinzip auf seinem Rennrad zurück. Bei Strecken über zehn Kilometern wog er zumindest ab, ob er Zeit und Lust auf einen Ausflug hatte, oder lieber doch ins Auto stieg. Ich war davor immer ein braver Junge gewesen und weiß gar nicht so recht, wieso es sein sonst so ruhiges Blut derart in Wallungen gebracht hatte. Ich wollte eigentlich nur die Jalousien herunterlassen, um ins Bett zu gehen. Da sah ich unten an der Straße Tommy. Er sah ebenfalls zu mir rauf, hatte wohl noch Licht brennen sehen und winkte mir zu.

Ich wollte nur kurz „Hallo“ sagen, als ich im Pyjama auf den Balkon ging und Tommy fragte, was er um diese Zeit noch draußen mache. Tommy stand geheimnisvoll im matten Licht der Straße. Es war wohl halb zehn und die Luft roch nach dem beginnenden Sommer, nach Lebenslust und Abenteuer. Ich wusste, dass Mom und Dad erst um zehn heimkommen würden, deswegen bat ich Tommy kurz herauf.

„Was für’n dummer Zufall, ich wollte eigentlich über das Brennerwegbrückerl gehen, das wäre kürzer gewesen. Aber irgendwie habe ich geahnt, dass du noch wach bist.“

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Tommys Stimme spannte mich ungemein auf die Folter: „Nun erzähl schon, was hast du vor?“

„Also, in der Berner Hütt'n ist heute Tequila Turbo Saufen. Weißt du, wer da ist?“ Er musterte mich herausfordernd. „Die Hasenfuß Bianca.“

Tommy wusste, dass ich auf dieses Mädchen schon seit Wochen ein Auge geworfen hatte. Sie mochte mich, hatte ich den Anschein. Die urplötzlich aufgetretene Gelegenheit, Bianca heute noch zu sehen, entzündete ein so helles Feuer in mir, dass es mich blendete. Ohne Umschweife zog ich meine Kleider wieder an, ließ das Haus so zurück wie gewöhnlich, wenn ich eher ins Bett gegangen war, und sperrte auch die Haustüre zu wie immer. Ich nahm den Schlüssel mit, damit Mom und Dad keinen Verdacht schöpften. Ich war zwar schon fast sechzehn, doch außer zu einer Videosession bei meinen Kumpels, wo jede Menge alkoholfreies Coca-Cola und Chips vernichtet wurden, ging ich am Wochenende nie fort, trank keinen Alkohol und Mädchengeschichten gab es auch keine nennenswerten, die bis zu meinen Eltern vorgedrungen wären. Es war, wie man so schön sagt, das erste Mal. Und einmal ist immer das erste Mal.

Ich hatte nur eine winzige Kleinigkeit übersehen. Es war nicht kalt draußen, dennoch dachte ich, dass es klüger wäre, eine Jacke drüberzuziehen. Da ich meine eigene Jacke in der ganzen Aufregung nicht fand, nahm ich die Windjacke meines Vaters. Wenigstens dachte ich, es sei die meines Vaters gewesen. Ein tödlicher Fehler. Meine Eltern kamen erst um elf nach Hause. Später als geplant. Sie schienen einen netten Abend gehabt zu haben und gabelten auf dem Nachhauseweg zufällig Onkel Gerhard auf, der an diesem Freitag vom Kartlerstammtisch auf dem Weg zur Telefonzelle war, um sich ein Taxi zu rufen. Ein weiterer Wink des Zufalls: Wären meine Eltern nur eine Minute früher oder später nach Hause aufgebrochen, wären sich die drei auch nicht begegnet. Zum einen weil, wie meine Tante später einmal beiläufig erwähnte, der Onkel Gerhard normalerweise nie vor zwölf nach Hause kam. Zum anderen, weil er meistens mit dem Auto fuhr. Nur an diesem Tag hatte er bereits früh vierzig Mark beim Schafkopfen verloren, dabei frustriert mehrere Schnäpse getrunken und irgendwann genervt das Spiel beendet. Zum Fahren fühlte er sich zu angetrunken und wollte sich ein Taxi rufen. Da das Telefon beim Wirt vorübergehend außer Betrieb war, musste er ins Dorf raus zur nächsten Telefonzelle. Dort traf er schließlich auf meine Eltern.

Jedenfalls fragte Onkel Gerhard natürlich gleich nach seiner Jacke, die er meinem Vater vorige Woche mitgegeben hatte. Als der ihn bei einer seiner seltenen Visiten besuchte, schlug nämlich das Wetter von Sonnenschein auf Nieselregen um und mein Dad musste noch die zehn Kilometer mit dem Rad nach Hause fahren. Um sich nicht endgültig zu erkälten, ließ er sich trotz vehementer Proteste letztendlich die Jacke ausborgen. Meine Eltern boten ihm an, einzusteigen und planten, zu Hause zusammen noch gemütlich ein Glas Wein zu trinken, den Abend geruhsam ausklingen zu lassen und ihn anschließend selbst heimzufahren. Nett geplant, doch Papas fotografisches Gedächtnis und seine Erinnerung, dass Onkel Gerhards Jacke zuvor noch genau dort am nun leeren Kleiderhaken hing, machte mir und irgendwie auch ihm letztendlich den Garaus. Er brauchte keine dreißig Sekunden, um festzustellen, dass mein Bett leer war. Er hatte dies noch nie zuvor kontrolliert. Wäre diese verdammte Jacke nicht gewesen, er wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, ich könnte außer Hause sein. Ein Zustand, den ich meiner Familie damals zum ersten Mal zugemutet hatte. Ich konnte ja nicht ahnen, welch ein Chaos ich dadurch anrichten würde. Sie fanden keinen Zettel. Ich hätte einen Zettel mit einer Nachricht wie „bin bei Hansi“ hinterlassen sollen, schimpften sie später. Doch wie hätten sie wohl reagiert, wenn sie sofort erfahren hätten, dass ich beim „Turbo Tequila Saufen“ in der Berner Hütt'n war und gerade den wohligen Schauer des ersten Zungenkusses erfuhr. Der heilige allwissende Geist muss in meine Mom gefahren sein, die, krank vor Sorge um mich, dummerweise als erstes Tommys Mutter anrief, obwohl Tommy nicht einmal zu meinem engeren Freundeskreis gehörte. Und der gute Tommy hatte seiner Mom noch nie etwas vorgemacht. Sie wusste darüber Bescheid, dass in der Hütte Alkohol getrunken wurde, vertraute aber ihrem frühreifen, verantwortungsbewussten Sohn so sehr, dass sie sicher war, es würde nie ein Anruf aus dem Krankenhaus kommen. Der Tommy war ja schon so reif für sein Alter!

Ironischerweise sollte sie diesen Anruf noch im Laufe dieser Nacht erhalten. Doch zunächst war es meine Mom, die sich sorgenvoll meldete, und Tommys Mutter tat keinen Deut dazu, ihre Sorge zu lindern. Im Gegenteil, sie erzählte, dass beinahe meine gesamte Klasse dort sein müsste und meinte: „Mir ist manchmal selbst nicht geheuer, was die Kids dort treiben, aber so lange noch nichts passiert ist...“

„So lange noch nichts passiert ist?“, schrie meine Mom, die es plötzlich einfach wusste, dass ich dort war. Es war Aufgabe meines Dads, mich zu holen. Die Berner Hütte lag einen Kilometer außerhalb der Siedlung am Waldrand, also eine Raddistanz. Das Vorderlicht am Rennrad meines Vaters funktionierte seit gestern nicht mehr, weil ich es die Nacht über aus Versehen im Regen stehengelassen hatte. Weder ich noch er hatten es bis dahin bemerkt, doch in seiner Wut, in der die Sorge inzwischen umgeschlagen war, raste er gedankenlos und ohne Licht in die Nacht hinein. Die Nacht, die ihm natürlich erst auffiel, als er aus der hell beleuchteten Siedlung auf die Landstraße gelangte. Es war Biancas Mutter, die in viel zu schnellem Tempo die Sandstraße entlang raste. Sie war im Begriff gewesen, Bianca abzuholen und hatte sie knutschend mit irgendeinem fremden Jungen erwischt: mit mir. Ich weiß bis heute nicht, ob ich verstehen soll, warum sie so wütend war. Ich meine, wir taten ja nichts Verbotenes, wir hatten uns nur recht innig geküsst.

Jedenfalls düste sie mit meiner Bianca in ihrem Volvo in einem Affenzahn davon und wenig später hörte ich auch schon den Kracher und die Schreie. Es war eigentlich Bianca, die am lautesten schrie, obwohl ihr am wenigsten passiert war. Es hatte ein schrilles Klirren und ein ohrenbetäubendes Reifenquietschen gegeben und die gesamte Hütte, nicht wenige der Jungs und Mädchen sturzbetrunken, rannten zum noch leuchtenden Licht des Wagens.

Mein Dad blutete im ganzen Gesicht, aus dem Mund, der Stirn, dem Kopf und seine Arme waren mit Glassplittern übersät. Er war frontal in die Windschutzscheibe geschleudert worden und mit seinem Oberkörper auf Biancas Mutter geprallt, die sich eine mittelschwere Gehirnerschütterung und eine mehrfach gebrochene Nase zuzog. Bianca kam mit einem Schock davon. Später, als ich meinen Humor kurzzeitig wieder gefunden hatte, stellte ich die Sache stets so dar, dass sie mein nasser, unbeholfener Kuss in diesen Schockzustand versetzt hatte. Mein Vater hatte Glück im Unglück und in diesem Glück irgendwie wieder Unglück. Er hatte sich nichts gebrochen, auch keine inneren Organe verletzt. Er war ein durchtrainierter Sportler, war sogar noch vom Fahrrad abgesprungen, bevor er gegen das Auto knallte und hatte sich so vielleicht sogar das Leben gerettet, wenn man das so sagen kann. Doch die Scherben rissen ihm tiefe Wunden in die Haut und erwischten auch die Schlagader am Hals. Das Blut schoss ihm in einer Fontäne aus dem Hals und um ein Haar wäre er verblutet. Keiner war imstande, ihm zu helfen. Biancas Mutter war zu benommen, von den Schnapsleichen war schon gleich gar keine Hilfe zu erwarten. Ich war es natürlich, der ihm, mich vage an einen Erste-Hilfe-Kurs erinnernd, die Blutung stillte. Doch das Blut war überall, eine riesige Lache hatte sich auf dem Sitz des Wagens gebildet und er blutete immer noch aus zahlreichen anderen Wunden. Als der Notarzt endlich kam, nahm er neben meinen Vater auch Tommy wegen akutem Verdacht auf Alkoholvergiftung mit.

In der Notaufnahme erklärte man meiner Mutter: „Der Zustand ihres Mannes hat sich stabilisiert. Er hat viel Blut verloren und wir mussten ihm eine Bluttransfusion geben. Sie wissen, dass er eine seltene Blutgruppe hat? Es war schwer, eine passende Blutkonserve zu finden, die Zeit war knapp.“ Worte, deren Bedeutung meine Mutter erst Jahre später richtig verstand.

Meine Eltern gewöhnten sich daran, dass ich Woche für Woche neue Erfahrungen mit Mädchen, Alkohol und den Freuden des jungen Lebens machte. Das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater war herzlicher als jemals zuvor. Und meine Mutter meinte stets, sie gönne es mir von ganzem Herzen, wenn ich mein Leben in vollen Zügen genießen könne. Ich sei ein fröhlicher Junge und sie sei stolz auf mich. Sie hatten mir also beide verziehen.

Leider nahm die Geschichte weiter ihren Lauf. Bianca und ich verloren recht schnell das Interesse füreinander. Wir lebten nebeneinander, doch nie miteinander und der Kontakt brach schließlich gänzlich ab.

Aber mit den Jahren kann sich natürlich auch vieles wieder verändern. Ich war wohl knapp zwanzig, als ich Bianca das erste Mal seit gut einem Jahr ganz zufällig wieder sah. Sie war gerade aus Amerika zurückgekehrt, wo sie als Au-pair-Mädchen gearbeitet hatte. Ein Jahr kann für junge Menschen eine verdammt lange Zeit sein, und sie versuchte gerade, zu Hause wieder neuen Fuß zu fassen. Sie hatte sich wirklich verändert. Sie strahlte nur so vor Schönheit und Charisma und ich spürte in ihrer Nähe etwas, was ich seit unserem Abend in der Hütte nie wieder gefühlt hatte.

Und diesmal war es Liebe auf den ersten Blick, obwohl es eigentlich zweite Liebe auf den zweiten Blick war. Natürlich war alles nicht so leicht. Bianca hatte während ihres Auslandsaufenthalts neben einer geheimnisvollen, begehrenswerten Aura auch ganz besonders eines gewonnen: Stolz. Sie hielt mich hin, wartete ab, ob es mir gelingen würde, sie zu erobern. Die Erinnerung ihrer suchenden Zunge noch wohlig im Unterleib warb ich um ihre Gunst, als wäre ich ein Gentleman im England des 19. Jahrhunderts. Ich rief sie unverbindlich an, bat sie artig um ein Rendezvous und führte sie standesgemäß zum Essen aus. Dann gingen wir ins Kino, zweimal sogar in ein Theaterstück, oft spazieren und natürlich auch zu so mancher Party. Ihre höfliche Distanz hielt sie mir gegenüber aufrecht, obwohl ich immer deutlicher spürte, wie gern sie selbst mich zu haben begann. Dies machte sie nur noch begehrenswerter. Sie war die Frau meines Lebens, das wurde mir in dieser Zeit immer klarer. Ich achtete plötzlich wieder auf mein Aussehen. Dazu gehörte auch, dass ich mich jeden Tag sorgfältig rasierte. Mein Bartwuchs neigte damals wie heute nicht dazu, zu diesem lasziven Dreitagebart zu sprießen, den manche Frauen so erotisch finden. Bianca und ich verabredeten uns in dieser Zeit schon seit zwei Monaten, ohne dass außer einem gewissen unleugbaren Knistern und einem netten Abschieds- oder Begrüßungskuss je etwas gelaufen wäre. An diesem Samstagabend spürte ich es mehr denn je: Diese Nacht ist für mich, ich werde alles riskieren. Aus Biancas Stimme glaubte ich eine gewisse Sehnsucht nach mir zu hören, als sie mich anrief. Ich stürzte überhastet ins Bad. Mein Vater, der gerade herauskam, gab mir noch einen kumpelhaften Klaps: „Rendezvous?“

Ich antwortete nichts, sondern suchte nach meinem Rasierer. Es war diese klassische Begebenheit, mit der man immer genau dann konfrontiert wird, wenn etwas ganz besonders wichtig erscheint: Man betrachtet sich im Spiegel, die kleinen schwarzen Härchen sind auch aus zwei Metern Entfernung überdeutlich zu erkennen. Und ausgerechnet jetzt ist die letzte Rasierklinge längst auf der hiesigen Mülldeponie. Ich war ein sturer Nassrasierer. Meiner Ansicht nach war es nur durch eine ordentliche Nassrasur zu erreichen, dass die Haut tatsächlich von jedweden haarigen Unkräutern befreit wurde.

Keine Rasierklingen da. Jetzt wusste ich wieder, warum ich mich schon seit drei Tagen nicht mehr um den Bartwuchs gekümmert hatte. Ich wusste natürlich auch, dass Bianca keine Bärte mochte, weil sie das Gefühl als unangenehm empfand, wenn die Stoppel sie piksten, wenn ich ihr doch ein wenig näher kam. Dann schob sie mich stets freundlich, aber dezent beiseite. Aus Fehlern lernt man, ich hatte mir geschworen, ihr nie wieder unrasiert entgegenzutreten. Schon gar nicht heute. In meiner Not griff ich zum Trockenrasierer meines Vaters. Er war noch warm, mein Dad schien ihn gerade benutzt zu haben. Da ich inzwischen in eine prägnante Zeitnot geraten war, fuhr ich mit dem Brummer auch ohne Rücksicht auf Verluste über mein Gesicht und mähte dabei auch zwei mir gestern entwachsene Sorgenpickel nieder. Ich hätte nie gedacht, dass man mit einem Trockenrasierer so übel schneiden könnte. Ich war immer der Überzeugung gewesen, derartiges gelänge nur der scharfen Klinge der Gillette Sensoren. Weit gefehlt. Ich blutete an besagten zwei Stellen im Gesicht. Ich ahnte noch immer nicht den Lauf der Dinge, als mir mein Dad zwei Minuten später auf ein Pflaster im Gesicht zeigend bestätigte: „Komisch, mir ist heute das Gleiche passiert. Sachen gibt’s. Vielleicht ist mal wieder ein neuer Rasierer fällig, ehe uns das alte Ding noch umbringt.“

Natürlich wurden Bianca und ich an diesem Abend endlich endgültig ein Liebespaar. Auch wenn sie mich gefragt hat: „Hast du dich geschnitten?“ Bianca hätte sich in ihrem Leben kein schlechteres Timing aussuchen können.

An dieser Stelle ist es nun an der Zeit, den offensichtlichen Rest der Geschichte kurz und knapp zu schildern. Wie ich bereits andeutete, steht in meiner Erzählung das Thema „Blut“ sehr im Mittelpunkt. Ich selber hatte nie so richtig über Blut nachgedacht. Bis zu diesem Herbst, als Bianca und ich zum ersten Mal offen darüber sprachen, zu heiraten. Nicht lange, denn mein Vater wurde plötzlich krank. Er war anfällig für sämtliche Krankheiten wie ein Kleinkind, das im T-Shirt durch den Herbstmatsch rennt. Es ging ihm von Monat zu Monat schlechter. Meine Mutter, einst ein lebensfroher, fröhlicher Mensch, wurde ihrerseits immer stiller. Sie kümmerte sich aufopferungsvoll um meinen Dad, doch immer, wenn ich um Details bat, was die Ärzte über seine Krankheit gesagt hätten, blockte sie mich ab. Ich wusste, dass er sterben würde. Denn nie zuvor hatte ich in den Augen meiner Mutter eine so große Angst gesehen.

Ich schätze, ich habe wohl von Anfang an gewusst, was ihm fehlte. Ich verdrängte es einfach, weil ich dachte, diese Krankheit gäbe es heute gar nicht mehr. Erst an diesem Tag, an dem ich begriff, dass Bianca seit Wochen nicht mehr mit mir schlief, löste sich die Blockade in meinem Gehirn: „Geh zum Arzt, verdammt noch mal, geh zum Arzt!“ schrie sie mich an.

Ich bin nicht gegangen. Vater starb im Frühling.

Ich wünschte, ich könnte sagen, es gäbe einen Schuldigen an seinem Tod. Ich wünschte, ich könnte jemanden verantwortlich machen für das, was er uns angetan hat. Ich wünschte, es gäbe einen Verantwortlichen. Ich wünschte, ich könnte einfach sagen, die Ärzte seien schuld. Sie sagen, die Chance bestünde eins zu einer Million. Sie sagen, es sei ihnen unerklärlich. Es sei einfach ein extrem seltener, trauriger, bedauerlicher und tragischer… Zufall.

 

Ende

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