Wandern im Bayerischen Wald

Das Walden-Tagebuch Tag 4

Den vierten Tag in meiner Hütte im Nationalpark Bayerischer Wald habe ich mit Wandern verbracht. Diesmal habe ich mich für eine Wanderung von Zwieslerwaldhaus über den Urwald im Paul Hawlik Hain bis nach Bayerisch Eisenstein entschieden. Es wurde insgesamt eine vierstündige Wanderung über 20 Kilometer durch die wunderschönen Landschaften des Bayerischen Waldes.

Der Morgen in der Thoreau-Hütte

Zu behaupten, mein Schlaf in der Hütte sei ein seliger Schlummer, wäre ein wenig romantisiert. Das Hin- und Herwälzen wurde einzig von seltsamen, nicht uninteressanten Träumen unterbrochen. Ich erhielt eine dritte Impfung undefinierbaren Wirkstoffs, verursachte einen spektakulären Autounfall in Australien, ein riesiges Frachtflugzeug stürzte in Mannheim ab. Der schlimmste Alptraum aber war, dass ich ein Zweitauto gekauft hatte, einen rostigen Lada. Ein Alptraum zumindest aus Umweltsicht.

Nach drei Nächten, in denen ich mit Sonnenuntergang zu Bett ging, war ich nun pünktlich mit Sonnenaufgang hellwach. Wobei man in einer Talsenke in den Wäldern weniger von Sonnenaufgang denn von leichter Lichterhellung sprechen kann. Meine Morgenroutine bestand aus einigen Übungen auf der mitgebrachten Yogamatte und dem barfüßigen Rüberhuschen ins Haupthaus. Was Thoreau wohl dazu gesagt hätte, wenn direkt neben seiner Walden-Cabin ein gigantisches Seminarhaus mit Küche, Toilette, Dusche und fließendem Wasser gestanden hätte? Oder umgekehrt, wäre ich ebenfalls in den Walden-Teich gesprungen, so wie es die Morgenroutine von Thoreau gewesen war? Die Morgenmomente unter der Dusche erfüllten mich mit tiefer Dankbarkeit, dass ich trotz aller Einfachheit die eine oder andere Wohltat unserer Zivilisation weiter in Anspruch nehmen durfte.

Dieser dritte Morgen in der Wildnis beschenkte mich mit all den Sensationen und Merkwürdigkeiten, die ich mir zuvor erhofft hatte. Die Sonne ging wirklich und wahrhaftig auf, sie zeigte sich als weißgelb leuchtender Ball hinter den südlichen Ausläufern des Falkensteins. Mit ihrem Erscheinen erwachte auch die umliegende Tierwelt und ein kleines Konzert von Tier- und Vögelstimmen erfüllte das Camp. Noch wunderbarer aber waren die unzähligen Spinnennetze in den Wiesen, in denen sich der Frühtau noch hielt und silbern in der Sonne glänzten. Altweibersommer sagen wir deshalb. Auf der anderen Seite der rötlich verfärbte Farne, und die Birken, zwischen denen die Hütte steht, im Morgenlicht. Indian Summer sagen sie in der Sprache Thoreaus.

Wandern im Paul Watzlik Hain

Beschwingt begann ich meine Wanderung ohne klares Ziel, nur mit einer vagen Vorstellung, dass ich die Urwälder sehen wollte. Ich war recht früh losgekommen und für einen Sonntag bei strahlendem Sonnenschein war es auf dem Parkplatz Zwieslerwaldhaus noch recht ruhig. Spontan wählte ich diesmal die Luchs-Route. Sie führte erst durch die Wälder, aus der Ferne hörte ich einen Fluss. Hier wie dort waren die vom Borkenkäfer angegriffenen oder niedergestreckten Fichten zu sehen. Die Fuchs-Fährte führte mich zu einer großen Wanderweggabelung, die von einem unermüdlich quellenden Brunnen markiert wurde. Ich hatte mein eigentliches Ziel, den Paul Watzlik-Hein erreicht. Eine Weile ging es steil bergauf und beinahe wäre ich vor dem eigentlichen Höhepunkt der letzten Tage vorbeigelaufen. An einem Rastplatz führten Planken etwas in den Wald hinein. Sie führten auf eine riesige Tanne zu. Eine Tafel erklärte, dass die Tanne 600 Jahre alt sei und man sechs Erwachsene bräuchte, um sie vollumfänglich zu umfassen. Ich berührte die raue Rinde der Tanne und malte mir aus, was sie seit ihrer Geburt aus einem winzigen Samen schon alles gesehen hatte. 1421 ritten noch edle Ritter durch diese Wälder. Böhmische und Baierische im ewigen Grenzstreit. Die Erde war noch flach und der Mittelpunkt des Universums. Der Mittelpunkt meines Universums ist für einen Moment diese Tanne. Thoreau hätte sie umarmt, er war ein leidenschaftlicher Bäume-Umarmer. Ich habe zu viel Respekt vor der Tanne. Außerdem gelten im Wald immer noch die Corona-Regeln.

Ein schmaler Pfad führt weiter mitten durch den Urwald. Er ist ebenso eindrucksvoll wie jener, den ich an meinem ersten Tag hier draußen durchwandern durfte. Baumgiganten ragen hoch in den Himmel. Ihre älteren Geschwister liegen bereits in der Horizontalen. Auf ihnen wachsen bereits die ersten jungen Tannen. Wir sehen uns wieder in sechshundert Jahren!

Der Urwald endete an einem anderen merkwürdigen Ort. Schwellhäusl heißt es. Ein Teich und ein altes Gebäude, inzwischen Wirtshaus und ein menschenleerer, sehr gemütlicher Biergarten. Es ist noch früh. Vielleicht komme ich wieder, dachte ich.

Wandern nach Bayerisch Eisenstein

Die Luchs-Fährte führte weiter Richtung Bayerisch Eisenstein. Es ging steil über einen Berg, in der Spitze 850 Meter. Mein an sich vorzeigbares Wanderertempo wurde immer wieder jäh unterbrochen, da mir unzählige gute Gedanken ins Hirn schossen, welche ich sofort niederschreiben musste. Es war mein kreativstes Wegstück und auch das, an dem ich am langsamsten vorwärts kam.

Als die mir entgegenkommenden Wanderer an Zahl stetig zunahmen, war klar, dass ich mich Bayerisch Eisenstein näherte. Ich schaute immer wieder unruhig auf die Striche meines Handynetzes. Denn seit 10 Uhr hatte mein Jüngster sein allererstes Fußballspiel. Bei diesem Ereignis wäre ich gerne dabei gewesen, wenn auch nur per Video. Als ich mit dem Bahnhof die Zivilisation erreicht hatte, startete ich meinen Videoanruf. So durfte ich zumindest einige Minuten meinen Kleinen anfeuern. Zu meinem Entsetzen sank allerdings mein Akku auf unter 30 Prozent. Kein Wunder, ohne mein Handykabel mit Power-Charge Funktion hatte ich das Handy nur sporadisch aufladen können.

Bayerisch Eisenstein hatte einen netten Lokschuppen, der meinen Kindern sehr gut gefallen hatte. Einige prächtige Gebäude und einen großen Wander-Park, der die zentrale Schaltstelle sämtlicher Wanderungen in alle Richtungen zu sein schien. Da ich die Luchs-Fährte nicht mehr fand, plante ich, über die Seebach-Schleife zurückzumarschieren.

Auch diese Wanderung ließ sich recht abwechslungsreich an – wie übrigens alle Wanderwege, die ich in den vier Tagen ausprobiert hatte. Es ging die ersten Kilometer an einem Mühlbach entlang, in dem ich immer wieder Fische ihrer stromlinienförmigen Tätigkeiten nachgehen sah. Von den Bäumen wehten bunte Blätter auf den Mühlbach und überholten mich bald und ich fragte mich, wo wohl ihr Reiseziel sein würde. Vielleicht ein größerer Fluss, vielleicht das Meer. Wahrscheinlich aber die E-Werke Bayerisch Eisenstein, in die der Bach mündete.

Die Seebach-Schleife

Ich folgte weiter dem Bach, übrigens der Große Regen, der für einige Kilometer als stattlicher Bach durch den Bayerischen Wald rauscht. Nach einer Weile wurde mir auch klar, was anders war, als bei meinen bisherigen Wanderungen. Es war laut. Nicht störend laut. Aber auch nicht die gewohnte Stille des Waldes. An einem Wehr wurde das Wasser des Baches wieder geteilt und der eine Teil plätscherte behaglich weiter, während der andere ein lautstark ratterndes Wasserrad antrieb. Es war allerdings keine Mühle, wenn aber doch, dann eine Elektrizitätsmühle. Ich schaute eine Weile der Gischt zu und erinnerte mich an jenen Dichter-Satz „Die Mühle zerstäubt Diamanten“. War das auch Thoreau? Nein, es war natürlich Heinrich Heine. Ob beide voneinander wussten? Die bissige Ironie mit der Thoreau teilweise über seine Mitmenschen schrieb, hätte Heine vermutlich gefallen. Und umgekehrt. Und während Thoreau in seiner Hütte das Leben bis ins Mark aussaugte, träumte Heine in seiner Bettengruft in Paris von Deutschland und bereitete sich auf den Tod vor.

Das letzte Teilstück führte am Mühlbach entlang bis zur Seebachschleife. Ich war seit über drei Stunden unterwegs und hatte die fünfzehn Kilometer fast voll und freute mich auf eine Wirtschaft. Allerdings war Seebach nicht das erhoffte Ziel meiner Reise (Ich dachte, Ludwigstal sei gleich um die Ecke)

 

Bereits ziemlich erschöpft musste ich einsehen, dass ich noch über eine Stunde des Wanderns vor mir hatte. Da mein Hunger immer größer wurde, wählte ich den kürzesten Weg nach Zwieselwaldhaus, der auch am Schwellhäusl vorbeiführen würde.

Am Schwellhäusl

 

 

Wieder ging es bergauf und bergab, mein Elan war aber schon merklich im Eimer. Als ich endlich das Schwellhäusl erreichte und ich voller Vorfreude den Weg nach unten eilte, hatte sich das Bild merklich verändert. Der Parkplatz war voll. Das ganze Areal war voller schreiender Kinder und Familien in Sonntagstracht. Vor dem Schwellhäusl stand eine lange Schlange, der Biergarten war voll. Scheiße.

Ich setzte mich kurz auf einen Felsen, trank die halbe Wasserflasche leer und beobachtete kurz die Sonntagsgesellschaft, die ich so nicht unbedingt hier in der Wildnis erwartet hätte. Dann nahm ich den linken Weg nach Zwieselwaldhaus, da ich diesen nicht gekommen war. Und wieder war es ein fantastisches Wandererlebnis. Der Weg führte an einem kleinen Kanal entlang. Ich erfuhr, dass dieser einst für das Triftwesen gebaut wurde. Er verlieh der Wanderung eine recht schwerelose Sonntags-Note und die im Dutzend an mir vorbeiwandernden Familien mit ihren Kinderwägen taten ihr Übriges. Ich war also nicht mehr in der Wildnis, sondern in der Fußgängerzone.

Letztendlich war ich 20 Kilometer und 5 Stunden gewandert, als ich ausgehungert am Waldhaus ankam, wo ich schon am ersten Tag das Schild mit den veganen Rucola-Süßkartoffelschnitten bewundert hatte. Die gönnte ich mir jetzt. Und als die Rechnung für Speis und Trank nicht einmal zehn Euro betrug, war ich ganz und gar begeistert von diesem kleinen Wirtshaus und froh, dass ich nicht über die Schwelle des Schwellhäusls getreten war.

Leben wie Thoreau - Die Tagesroutinen

Nach vier Tagen hatten sich einige Routinen eingespielt. Sie flankierten meinen Tagesablauf und gaben mir unter den insgesamt doch ungewohnten Bedingungen den nötigen Halt. Nach dem Aufwachen machte ich meine üblichen Gymnastikübungen, um die Spannungen der Nacht aus meinem Rücken zu vertreiben. Danach ging es gleich ins Haupthaus, wo mir fließendes Wasser zur Verfügung stand und ich warm Duschen und kalt Zähneputzen konnte. Auch das Frühstück nahm ich an meinen angestammten Platz im Speisesaal ein, wobei ich stets neidisch nach draußen blickte und mir wünschte, es sei ein wenig sonniger für ein Frühstück an der frischen Luft. Am Vormittag begann ich meine Wanderungen, die mich meist auch zu schönen Gasthäusern führte, wo ich mir eine warme Mahlzeit gönnte. Am Nachmittag trank ich im Haupthaus einen Kaffee und nutzte die freie Zeit zum Schreiben und Lesen im „Walden“. Heute, am einzigen Sonnentag, streifte ich noch eine Weile über das Camp, schaute mir all die architektonisch faszinierenden Hütten, das Baumhaus, das Haus über dem Bach, das Glashaus, in Ruhe an und las in der Sonne weiter. An jedem einzelnen Tag befiel mich mit Einbruch der frühen Dämmerung eine trübe Stimmung und eine latente Angst vor der Einsamkeit und Angst davor, nachts Angst zu haben. Um dem entgegenzuwirken machte ich stets einen letzten Spaziergang ins Dorf. Dort betrachtete ich sehnsüchtig die Menschen in den Gastgärten, für die der Tag noch nicht zu Ende war. Und ich rief im 4G Netz meine Nachrichten ab.

Zurück in der Hütte feuerte ich den Ofen an, telefonierte mit meiner Familie und schrieb noch so lange, bis es draußen endgültig finster war. Jede Nacht ging ich mit Sonnenuntergang schlafen und stand mit Sonnenaufgang auf.

Das gesamte Walden-Tagebuch lesen: