An meinem dritten Tag im Bayerischen Wald plante ich eine Wanderung auf den Falkenstein. Das Wetter klarte ein erstes Mal seit ich hier war ein wenig auf und ich beschloss gegen neun Uhr, auf den Falkenstein aufzubrechen. Als Route hatte ich mir die „Heidelbeerrunde“ ausgesucht, da sie über den Schillerweg führte, also scheinbar für Schriftsteller gut gangbar war und ich das Höllbachgespreng sehen wollte.
Ich war bereits gewarnt worden, dass ich bei schönem Wetter nicht allein auf dem Falkenstein sein würde und beeilte mich. Kurz vor dem Parkplatz preschte eine Gruppe Autos mit selben auswärtigen Kennzeichen hupend an mir vorbei. Als ich etwas später an der abmarschbereiten Gruppe vorbeiwanderte, fasste ich nur ein Ziel: Diesen Menschen aus dem Weg zu gehen. Ja, die Einsamkeit der letzten Tage arbeitete weiter in mir, aber anders als gedacht. Auf dem Schillerweg versuchte ich nicht nur, einen kleinen Vorsprung vor der unhöflichen Wandergruppe zu ergehen, sondern fühlte mich bald vom steten Klacken von Bergstöcken unter Druck gesetzt. Allerdings kam das Klacken immer näher, obwohl ich ein stattliches Chiemgauer Bergfex-Tempo angesetzt hatte. Bald überholte mich eine Nordic-Walking-Dame und ich musste ihr respektvoll zunicken. Sie bog übrigens Richtung Urwald ab und das Klacken verhallte in den Wäldern. Auch die unhöfliche Wandergruppe vor denen ich davonwanderte, war aus meinem Sichtfeld verschwunden. Sie hatten vermutlich eine andere Route genommen. Bald war ich wieder allein mit meinen Gedanken und völlig eins mit der Wildnis. Wieder wurde ich belehrt, dass ich die Schildermarkierungen des Nationalparks nicht ganz verstand. Die 3 ½ Stunden des Heidelbeerweges besagten nicht die Gesamtdauer, sondern die Dauer bis zum Gipfel. Als ich das begriff, war es längst zu spät.
Kalter Nebel war aufgezogen und ich fror und ärgerte mich, weil ich Möchtegern-Bergfex mal wieder meine Jack-Wolfskin Jacke unten im Tal gelassen hatte. Es wurde von Kilometer zu Kilometer unangenehmer. Nach einer stattlichen Wanderung erreichte ich die Höllbachschwelle, einen kleinen See, in dem sich das Wasser des Höllbachs staute. Da es zu nieseln begann, suchte ich dort Schutz unter dem Dach der dortigen Hütte. Ein Wanderer erzählte mir neidisch, dass die anderen Wanderer diese Nacht in der Hütte verbringen durften und seufzte, wie cool das doch sei. Ich seufzte auch und dachte daran, wie cool manche Schriftsteller heutzutage hausen dürfen. Ich hörte noch kurz einem alten weißen Mann zu, der vor seinen Enkeln dozierte, dass es Eiszeiten schon immer gegeben hätte und als nächstes statt der Klimaerwärmung sowieso eine Eiszeit käme. Dann lachte er in sich hinein und bemerkte, ihm sei es ja Wurst, er würde die Eiszeit ja sowieso nicht mehr erleben. Ich fragte mich kurz, wie Thoreau zu gängigen Wissenschafts- Fakten respektive – Meinungen stand, aber ich hatte es gerade nicht parat. Ich seufzte meinerseits auch und setzte die Wanderung fort.
Ab jetzt wurde sie durchaus spektakulär. Denn der Weg ging vorbei an einem prächtigen Wasserfall und der Höllbach musste über die glitschigen Felsen mit gekonnten Sprüngen überquert werden. Es folgte eine kurze Kletterpartie, bei der sogar mit allen vier Gliedmaßen über den Fels geklettert werden musste. Ab jetzt war der Weg nichts mehr für Familien mit Kinderwagen und Mountainbiker. Es hatte aber auch seinen Vorteil: Ich wanderte wieder überwiegend allein. Wobei es sich am Nadelöhr Wasserfall noch kurz staute, da alle Wanderer noch ihr Insta-Selfie aufnehmen wollten.
Nach zweieinhalb Stunden Wanderung kam der Falkenstein endlich in die Nähe und die Wandergruppen wurden wieder mehr. Kurz vor dem Gipfel genoss ich die magische Landschaft, ein freies Feld voller umgeknickter Bäume, über das der Nebel waberte. Dann marschierte ich die letzten Meter Richtung Gipfel. Das erste was ich vom Gipfel sah war… ein Parkplatz.
Gibt es etwas deprimierenderes, als 8 Kilometer und 500 Höhenmeter gewandert zu sein, nur um einen Parkplatz zu erreichen? Aber anstatt mich zu ärgern, kletterte ich noch den Fels bis zur Spitze des Falkensteins hinauf. Dort wurde ich schließlich belohnt mit einer wunderschönen Aussicht auf… den Nebel. Ein Mann mit einer Spiegelreflexkamera schaute ebenfalls etwas frustriert in sein Okular und rätselte, wie er den Nebel so ins Bild setzen könnte, dass sich der Aufstieg gelohnt hatte.
Egal, ich freute mich nun auf eine warme Mahlzeit im Schutzhaus Falkenstein. Ich schätzte es bisher sehr, dass auch hier im Bayerischen Wald die Gasthäuser so viel Wert auf vegetarische und vegane Speisen legten. Voller Vorfreude nahm ich die Speisekarte zur Hand. Es gab die üblichen Fleischgerichte. Wo waren denn die vegetarischen Gerichte? Ah, hier: Salate: Grüner Salat mit… Speck. Okay, hier die Suppen: Knoblauchsuppe… mit Speck. Dann hier: Käsenocken mit… Speck! Das gibt’s doch nicht! Die einzige warme vegetarische Speise war eine Pfannkuchensuppe. Ich wollte mich eigentlich bei der Bedienung beschweren, fragte dann aber doch, ob das Wetter noch besser würde. Der Mann lächelte mich an, als hätte ich in fremden Zungen mit ihm gesprochen. Erst später bestätigte sich die Vermutung. Er war, wie gefühlt alle Bedienungen hier in der Gegend, ein Tscheche.
Ein sehr gelungener Apfeldatschi versöhnte mich wieder und ich wanderte wieder zurück. Diesmal nahm ich die schnelle, direkte Route Richtung Zwieselwaldhaus. Beinahe hätte ich das eigentliche Highlight übersehen: Den Gipfel zum kleinen Falkenstein. Er war nicht weniger spektakulär wie der große und hier unten war der Nebel so aufgeklart, dass man eine schöne Rundumsicht hatte. Von hier oben sah ich nun auch das Wildniscamp ein erstes Mal aus der Luft. Ganz klein lag es da in der unendlichen Weite der bayerischen Wälder. Hier unten lebte ich nun also. Und ich war der einzige zivilisierte Mensch im Umkreis von vielen, vielen Morgen Holz.
Ich war in die Wälder gewandert und kam fünf Stunden und 15 Kilometer später wieder im Wildnis Camp an. Bereits seit einer Weile hatten mich trübe Gedanken auf Trab gehalten, was wohl passieren würde, wenn ich vergessen hätte, das Haupthaus abzusperren. Wilde Wanderer würden dann in der Küche stehen und die Küche völlig coronaunkonform verwüsten. Der Speisesaal wäre voller Fremder, die die Kühlschränke und Getränkekästen leerten. Aber schon von weitem sah ich, das Haupthaus war so leer und ordentlich, wie ich es verlassen hatte. Als ich die Tür meiner Walden-Hütte öffnen wollte, merkte ich sofort, dass etwas anderes nicht stimmte. Sie ging auf. Obwohl sie ja nur, so wurde mir eingebläut, von innen aufgehen kann, auch wenn sie verschlossen ist. Hatte ich etwa… Es war nicht schwer, meine Wertsachen zu kontrollieren. Ich hatte ja keine dabei, das heißt, mein Laptop war im Haupthaus und das Handy hatte ich bei mir. Offensichtlich hatte niemand die Camping-Lampe gestohlen, auch nicht das angetrunkene alkoholfreie Bier. Und die schmutzige Bekleidung sowieso nicht. Stop, wo war das Ipad? Es war nicht im Schrank, auch nicht unter der Kleidung und im Koffer sah ich es auch nicht. Verdammt, ich wurde beklaut. Was waren denn das für Menschen, die auf gut Glück testeten, ob eine Thoreau-Hütte offen ist und dann auch noch die Frechheit haben, etwas zu stehlen? Und was sind das nur für Menschen, die auf eine Thoreau-Woche ein Ipad im Wert von 500 Euro mitnehmen? In der Aufregung telefonierte ich nach der Telefonnummer der Polizei Zwiesel und eilte zwischen Haupthaus und Hütte hin und her. (Nicht ohne jeweils penibel doppelt abzusperren) Die Mail mit der Polizeinummer dauerte etwas aufgrund Netzschwankungen. Währenddessen checkte ich noch einmal die Hütte, nur um vor der Polizei nicht als trotteliger Schriftsteller dazustehen, wenn sich das Ipad doch noch, sagen wir mal im Rollkoffer befand und aufgrund seiner schwarzen Tarnfarbe beim ersten Suchen nicht zu sehen gewesen war. Als ich im Halbdunkel der Hütte zwischen meinen Socken auf dem Boden des Rollkoffers tatsächlich mein Ipad entdeckte, stand ich nur vor meiner Frau als trotteliger Schriftsteller da. Ich atmete erleichtert auf.
Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Während meines Jahres als Zivildienstleistender in der Jugendherberge Prien war eine der ersten Regeln, dass so gut wie jede Woche eine Schulklasse aufgeregt berichtete, dieses und jenes sei gestohlen worden und sich kein einziger Diebstahl jemals bestätigt hatte. Thoreau hätte sich ins Fäustchen gelacht. Er besaß bekanntlich kein Ipad.
Nachdem es mir gelungen war, mich in einen erleichterten Euphoriezustand zu versetzen, indem ich ein Problem gelöst hatte, das nur durch meine Einbildungskraft entstanden war, stand ich vor dem nächsten, virtuellen Problem. Virtuell deshalb, weil es ebenfalls kein Problem wäre, wäre ich nicht ein äußerst komplizierter Esser. Dem Grunde nach bin ich ein typischer Carnavorier. Drei Fleischmahlzeiten am Tag waren für mich nicht nur nicht unüblich, sondern die Regel. Bevor nun alle Thoreau-Fans entsetzt aufschreien und ihr Lesemedium beiseite werfen, gleich die Auflösung: Wer mit einer Yogalehrerin verheiratet ist und sich auch nur ansatzweise mit Greta, Luisa oder Yuval Noah auseinandergesetzt hat, der wird den Fleischkonsum wie selbstverständlich erst reduzieren und schließlich komplett einstellen. Hätte ich nie geglaubt, ist aber so. So transformierte ich zu einem Fleischesser, der drei Mal täglich Fleischersatzprodukte konsumierte. Aus dem einfachen Grund, da sich eine schwache Seele wie die meine nur schwer vom liebgewonnenen Geschmackserlebnis Fleisch befreien kann. Thoreau lebte übrigens seinerseits überwiegend vegetarisch. Einem Farmer, der ihm weiszumachen versuchte, dass Pflanzennahrung weder für Knochen- noch Muskelaufbau fähig sei, entgegnete Thoreau mit dem Fingerzeig auf dessen Rinder. Die seien doch stark an Knochen und Muskeln. Und was essen die? Fragte er. Thoreau ernährte sich überwiegend von selbstgebackenen simplen Brot und den Bohnen und Früchten aus seinem Garten. Wobei mehr das Überleben als der Genuss im Vordergrund stand. Allerdings ließ er sich regelmäßig in Concord bei den Emersons zum Essen einladen. Was es dort gab, verschweigt er im Buch. Aber zurück zum Leben in den Wäldern und meinem Problem: Mein thoreausches Essen im Wildniscamp bestand aus folgender reichhaltiger Auswahl: Sonnenblumenbrot, Vollkornbrot, dreierlei Käse, 2 x Tomatenaufstrich, 1 Gurke, 1 Rispe Cocktailtomaten, 1 Paprika, dazu ausreichend Kaffee, Schwarztee und 1 Packung Crunchy-Müsli, Marmelade und 1 Flasche Milch.
Für eine ausgewogene Mahlzeit war also gesorgt. Allerdings war nichts dabei, das meine Belohnungsrezeptoren aktiviert hätten, sprich, mir einen Genuss verschafft hätte. Dachte ich zunächst. Nachdem ich am ersten Tag brav meine Käse-Schwarzbrote verzehrt hatte, aß ich als Nachspeise ein Crunchy-Müsli mit der frischen Milch, die noch von den Rangern übrig war. Und es schmeckte mir herrlich. Vermutlich wegen des Zuckers im Crunchy und da man im Haushalt einer Yogalehrerin überwiegend zuckerfrei lebt. Zwei Tage lang war mein täglicher Höhepunkt nach jeder Mahlzeit die Schüssel Hafercrunchy. Bis die Milch ausging. Kein Problem, im Kühlschrank war ja noch die ursprüngliche Flasche Milch. Allerdings flockte sie und als ich das Datum kontrollierte, war sie auch schon abgelaufen. Ich aß das Müsli trotzdem. Und hatte den restlichen Tag einen flauen Magen, was womöglich einer ganz ordinären Hypochondrigkeit meinerseits geschuldet ist. Was ich damit eigentlich erzählen will ist, dass somit auch der letzte Quell eines Genusses endgültig versiegt war.
Sie merken natürlich, dass es sich hier um einen sehr unzuverlässigen Erzähler handelt. Denn ganz so wie Thoreau seine Familie Emerson hatte, so hatte auch ich die vielen Wirtschaften im Nationalparkgebiet, wo ich einkehren und mir den einen oder anderen kleinen Genuss verschaffen konnte.
Am Abend saß ich, nachdem ich den Ofen angefeuert hatte, eine Weile in der Stille vor meiner Hütte und schaute dem Sonnenuntergang zu. Nein, auch am dritten Tag hatte ich bisher jenen Planeten namens Sonne noch nicht zu Gesicht bekommen, obwohl er zweifelsfrei da war. Seine rötlichen Abschiedsstrahlen reflektierten an den höheren Ausläufern des Falkenstein und tauchten ihn in mystisches Licht.
Ein mutigerer Mensch als ich, wäre auch nach Einbruch der Dunkelheit weiter draußen gesessen, wäre vielleicht sogar ein wenig in den Wäldern spaziert. Ich aber zog es vor, die Nacht dem Schlaf zu überlassen und ging zu Bett.