Die sogenannte "stade Zeit", die stille Adventszeit vor Weihnachten, ist für viele Menschen, vor allem Mütter, die stressigste Zeit des ganzen Jahres. Warum eigentlich? Und was müsste passieren, dass die Weihnachtszeit tatsächlich eine stille, "stade" Zeit wird? Es müsste schon etwas außergewöhnliches passieren. Etwas wie ein europaweiter Blackout. Dies ist die Geschichte über ein Blackout-Weihnachten.
Schon seit Wochen war es die stressigste „stade Zeit“, an die sich Marion jemals erinnern konnte. Bereits Ende November begannen die ersten Weihnachtsfeiern. Die Schul- und Sporttermine ihrer Kinder nahmen mit dem sich zum Ende neigenden Jahr noch einmal rasant zu. Es gab keinen Abend, an dem sie nicht eines ihrer Kinder irgendwo abholen hätte müssen, oder selbst woanders anwesend sein musste. In den wenigen freien Stunden am Wochenende wurden gehetzt Plätzchen gebacken, in einer Hauruck-Aktion das Haus mit allem geschmückt, was irgendwie gerade griffbereit war. Dazwischen wurden die Kinder angeschrien, die absolut keinen Sinn für die Weihnachtsvorbereitungen hatten und trödelten und bummelten und sich auf nichts konzentrieren wollten. Am Nikolaustag waren die Kinder so frech, dass Türen knallten und auch die hoffnungsvoll draußen vor der Tür abgestellten Stiefel leer blieben.
Eine Woche vor Weihnachten hatte Marion noch nicht einmal die Hälfte der Geschenke besorgen können und selbst die hatte der Amazon-Paketbote gebracht, weil sie keine Zeit gefunden hatte, in Ruhe in der Stadt einkaufen zu gehen. Nach zwei weiteren Weihnachtsfeiern, einem ganztägigen Fußball-Hallenturnier und einem Lern-Marathon auf eine wichtige Schulaufgabe mit ihrem Kind, kam Marion spät abends in der Küche wieder zu sich. Sie merkte, dass sie, das Gesicht in den Händen vergraben, über dem Tisch gebeugt saß und geweint hatte. Eine Hand strich ihr über die Schulter. „Was ist denn los?“ Ihr Mann war gerade von der Schicht gekommen.
„Ich schaff’ das alles nicht mehr“, schluchzte sie. „Ich kann nicht mehr.“
Ihr Mann nahm sie in den Arm. „Schau, das kriegen wir schon hin. Ich versuche, morgen früher von der Arbeit heimzukommen. Und notfalls können wir die restlichen Erledigungen auch am 24. am Vormittag erledigen.“
Marion seufzte und schloss die Augen. „Wenn du meinst, dass das klappt…“ sagte sie und ihre Stimme klang sehr resigniert.
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Am Tag vor Heiligabend war in ihrer Arbeit die Hölle los. Es schien, als hätten alle Kunden mit ihren Anliegen bis kurz vor dem Weihnachtsurlaub gewartet. Sie musste bis weit in den Nachmittag im Büro bleiben und schrieb eine WhatsApp-Nachricht nach der anderen, damit die Nachbarn den Kindern die Wohnung aufsperrten und sich die Kinder noch eine Pizza besorgten, um nicht gänzlich zu verhungern, bis sie selbst von der Arbeit heimkam. Natürlich konnte ihr Mann nicht früher aufhören und kam seinerseits erst nach Hause, als es bereits dunkel war.
Marion hatte weder für das Weihnachts-Essen eingekauft, noch ein Geschenk für ihren Mann und ihre Geschwister. Einzig die Geschenke der Kinder waren verpackt im Schrank versteckt.
Als Marion spätabends völlig desillusioniert am Küchentisch saß, nahm sie ihr Mann wieder in den Arm: „Mach dir keinen Kopf. Wir haben morgen noch den ganzen Vormittag für alle Erledigungen. Wir schaffen das schon. Außerdem ist es doch nur Weihnachten.“
„Nur Weihnachten“, knurrte sie, schüttelte den Kopf und ging, völlig erschöpft, ins Bett.
Sie stellte sich den Radiowecker auf fünf Uhr früh. Sie würde am 24. powern und mit einer neuen Jahresbestleistung in Sachen Zeitmanagement für ihre Familie das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten vorbereiten, schwor sie sich.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war es bereits hell. Sie fuhr aus dem Bett und rannte ans Fenster. Draußen war alles weiß, es hatte geschneit. Warum war der Wecker nicht gegangen? Sie griff nach dem Radiowecker. Das Display war schwarz. „Wir haben verschlafen!“, schrie sie und boxte ihrem Mann in die Seite. „Lass mich schlafen!“, knurrte er und drehte sich auf die andere Seite.
Marion eilte ins Wohnzimmer und suchte nach ihrem Handy. Die Uhrzeit zeigte Acht Uhr an. „Warum ist der Wecker nicht gegangen?“, schrie sie in die Stille des Hauses.
Aus einer Gewohnheit heraus wollte sie als Erstes die Nachrichten auf dem Handy checken. „Seltsam“, dachte sie. „Kein WLAN.“ Dann hielt sie das Handy ans Fenster und versuchte, sich ins Mobilfunknetz einzuloggen. „So eine miese Verbindung“, schimpfte sie, als auch das nicht klappte. „Alexa, spiel die Nachrichten!“, befahl sie. Doch es blieb auch in der Küche still. Marion rieb sich die Augen. Sie war noch ganz verschlafen. Aber langsam schwante ihr, dass es etwas nicht stimmte. Auf den Schreck hin erstmal einen Kaffee, dachte sie und drückte auf den Espresso-Knopf der Kaffeemaschine. Nichts passierte. Verdutzt rieb sich Marion die Schläfen. „Hm, geht auch nicht. Was geht denn noch?“ Sie drückte auf den Lichtschalter. Auch nichts. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch die Weihnachtsbeleuchtung aus war. Sie warf einen Blick nach draußen. Auch hier war kein einziges Licht zu sehen. Vielleicht, weil es schon hell war? Marion atmete einmal tief durch und goss Wasser in einen Topf. Immerhin das funktioniert. Sie stellte den Topf auf den Herd, um das Wasser aufzukochen. Doch auch der Herd ging nicht. Sie probierte es bei den Lichtschaltern. Nichts. „Wir haben keinen Strom!“, rief sie.
Erst jetzt torkelte langsam ihr schlaftrunkener Mann in die Küche. „Wie, kein Strom?“ „Nichts! Alles ist aus. Nichts geht mehr. Nicht einmal das Internet!“ Langsam wurde auch ihr Mann wach. Er kramte in der Schublade nach einer Taschenlampe und ging zum Sicherungskasten.
Nach einigen Minuten kehrte er ratlos zurück. „Hier ist alles in Ordnung. Es scheint ein Problem in der ganzen Straße zu sein.“
Marion nickte. „Hoffentlich kriegen die das rasch in den Griff. Ich habe noch so viel zu erledigen!“
Da es schon so spät war, beschloss Marion gleich zum Supermarkt zu fahren, um die wichtigsten Einkäufe zu erledigen. Sie zog sich um und wunderte sich beim Zähneputzen über die absolute Stille im Haus. Normalerweise liefen um diese Zeit Radio, Kaffeemaschinen, Wasserkocher. Nun war es absolut still und sie schaute durch das geöffnete Fenster draußen den Schneeflocken zu.
Auf der Straße ärgerte sie sich, dass der Schneepflug noch nicht gefahren war. Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Auto vom Schnee befreit hatte. Und die Fahrt durch die Siedlung wurde zu einer Schlitterpartie. Sie ließ ihre Weihnachts-CD mit ihren liebsten Weihnachtssongs laufen und sang leise mit. Alle Häuser waren dunkel, fiel ihr auf. Der Stromausfall schien in der ganzen Siedlung zu sein.
Auch die Hauptstraße war nicht geräumt und die Autos stauten sich schon. Es wurde viel gehupt und die Menschen schienen noch genervter zu sein als schon die gesamte Adventszeit bisher.
Als sie beim Supermarkt einbog, war bereits der ganze Parkplatz voll und es hatte sich auch hier ein Stau gebildet. „Na herrlich!“, stöhnte sie. „Ich bin viel zu spät dran.“ Als sie einmal um den Parkplatz herum fuhr, sah sie, dass auch der Supermarkt dunkel war. Vor der verschlossenen Tür standen unzählige Menschen und diskutierten miteinander. Marion kurbelte das Fenster herunter. „Haben die noch nicht aufgemacht?“ Eine Frau drehte sich um und schüttelte den Kopf. „Haben sie denn die Nachrichten nicht gehört?“, fragte sie und wandte sich wieder den anderen zu. Marion sah ihr verwundert nach und fuhr wieder Richtung Straße zurück. Sie schaltete auf Radio um. Rauschen. „Hm“, machte sie. „Haben die Kinder die Sender verstellt?“ Sie schaltete auf automatischen Sendersuchlauf. Nichts. Alle Sender waren verstummt. Langsam wurde es ihr unheimlich. Auf einmal blieb das Radio auf einer seltsamen Frequenz stehen und sie hörte zwischen statischen Geräuschen die monotone Stimme eines Nachrichtensprechers. Er faselte etwas von „Bürgerinnen und Bürger“ und gab in strengem Befehlston Anweisungen. War das der Bundeskanzler? Sie drehte das Radio etwas lauter und versuchte, die kryptische Botschaft des Sprechers zu verstehen. Sie begann nach wenigen Sätzen wieder von vorne. Und nach und nach ergaben die Sätze einen Sinn. „Die Bundesrepublik Deutschland hat den Katastrophenfall ausgerufen“, erklärte die Stimme. Marion schüttelte den Kopf. „Wegen dem bisschen Schnee?“, und bog wieder ab in ihre Straße. „In den frühen Morgenstunden ist es zu einem Totalausfall der Stromversorgung in ganz Europa gekommen“, erklärte der Sprecher weiter. Marion blickte auf. „Das erklärt einiges“, murmelte sie.
„Wir bitten die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben. Bitte vermeiden Sie unnötige Fahrten und halten die Straßen für Rettungspersonal frei. In dringenden Notfällen wenden Sie sich an die Nummer…“ Marion hatte genug gehört. „Ist das der Blackout, von dem sie im Internet immer geredet haben?“, fragte sie sich.
Als sie das Auto abstellte, sprach sie ihren Nachbarn, der gerade Schnee schaufelte, an. „Ja, die Nachricht habe ich auch gehört“, sagte er. „Bei uns geht auch nichts. Kein Telefon, kein Internet, kein Strom. Nur das Wasser läuft noch, zum Glück.“
„Aber was ist passiert?“
„Ich war heute schon bei meinem Schwager. Der arbeitet für die Stadtwerke. Er sagt, das war sicher ein Hackerangriff. Oder das Stromnetz ist wegen Überlastung zusammengebrochen. Oder vielleicht auch wegen des Schnees. Er weiß es auch nicht. Er fürchtet aber, die werden das erst in einigen Tagen wieder hinkriegen.“
„Einige Tage?“, entfuhr es Marion. „Aber es ist Weihnachten!“ Der Nachbar lächelte. „Ja“, entgegnete er. „Manche Dinge sind, wie sie sind. Ob es Weihnachten ist, oder nicht.“
Zu Hause waren die Kinder schon auf und hatten Kerzen angezündet. „Mama, Mama, es ist so schön!“, jubelten sie. Marion setzte sich nach dem Schock erstmal an den Küchentisch und überlegte, was noch alles zu tun sei. „Einkaufen brauch’ ich nicht, weil alles zu hat. Raus soll ich auch nicht mehr. Was mach’ ich denn jetzt?“
„Nichts!“, sagte ihr Mann, der gerade den Christbaum ins Wohnzimmer schleppte. „Ich und die Kinder schmücken jetzt den Baum.“
„Und ich? Ich muss doch auch irgendwas machen! Ich muss doch noch das Essen für 15 Personen herrichten!“ Dann fiel ihr wieder die Nachricht ein. „Stimmt, wir werden heute Abend ja ganz allein Weihnachten feiern.“
„Jippie!“, schrie eines der Kinder. „Dann können wir den ganzen Abend gemeinsam spielen!“
Am frühen Nachmittag saß Marion in der Küche und merkte, dass ihr langweilig war. Sie hatte alles erledigt. Da sie ohnehin nichts Warmes zubereiten konnte, hatte sie Aufstriche und Kartoffelsalat zubereitet und Brot geschnitten. Die Geschenke für die Kinder lagen unter dem Baum. Die Kinder spielten draußen im Schnee. Und sie hatte nichts zu tun. Wie konnte das sein? Sie griff aus einer Gewohnheit heraus nach ihrem Handy. Aber da ging ja auch nichts. So blieb sie sitzen und schaute zum Fenster hinaus, wo es erneut zu schneien begonnen hatte.
Ab halb fünf wurde es immer finsterer. Da das Wohnzimmer abgesperrt war, saß die ganze Familie in der mit Kerzen hell erleuchteten Küche. Da sie ohne Handy und Internet nichts anzufangen wussten, schlugen die Kinder vor, ob sie nicht gemeinsam singen wollten. Während draußen der Wind immer stürmischer die Schneeflocken auf die Erde trug, sangen sie gemeinsam alle Weihnachtslieder, die ihnen einfielen. Dann erzählten sie sich von den vergangenen Weihnachtsfesten. Beschrieben sich den Duft von Punsch und Glühwein und den saftigen Würsten, die es nur an Weihnachten gab. Die Kinder vermissten ihre Cousins und Cousinen, fanden aber, dass es auch mal schön sei, nur mit ihren Eltern den Heiligabend zu verbringen. Und sie lauschten in die seltsame Stille hinein, ob sie irgendwo ein Glöckchen hörten. Nach einer Weile versprach der Vater nachzuschauen, ob das Christkind schon gekommen sei und verschwand hinter der Wohnzimmertür. Die Kinder warteten ungeduldig und fragten schon, warum es dieses Jahr so lange dauerte, bis er nachgeschaut hatte. Doch dann läutete tatsächlich ein Glöckchen und der Vater lugte bei der Tür heraus: „Habt ihr das auch gehört?“ „Ja!“, riefen die Kinder.
Als sie langsam die Türe öffneten und in das Wohnzimmer hineinschauten, konnten sie erst gar nicht glauben, was sie sahen. Überall brannten Kerzen. Echte Kerzen, keine LED-Leuchten. Selbst der Christbaum war mit echten Kerzen geschmückt. Unter dem Christbaum lagen genau zwei Geschenke. Hoffentlich sind die für uns, dachten die Kinder.
Es war seltsam, dass sie nur zu viert um den Weihnachtsbaum herumstanden, aber auch irgendwie besonders und feierlich. Die Kinder lasen im Schein der Kerze abwechselnd die Weihnachtsgeschichte vor und anschließend sangen alle zusammen „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Marion erinnerte sich an die Geschenkeschlachten der vergangenen Jahre, an Abende, an denen die Kinder „Stille Nacht“ in Begleitung von Schlagzeug und E-Gitarre gebrüllt hatten. An laut schreiende, Geschenke aufreißende Kinder. Die danach dennoch enttäuscht waren, dass das Christkind nicht das teuerst mögliche Lego-Set gebracht hatte.
Diesmal waren die Kinder ganz ruhig. Sie öffneten leise ihre Geschenke und freuten sich über die beiden Gesellschaftsspiele, die sie bekommen hatten. „Spielen wir die heute noch?“, fragten die Kinder und wirkten in diesem Moment wirklich dankbar und zufrieden.
Es gab an diesem Heiligen Abend ein bescheidenes, kaltes Abendessen. Anschließend spielte die Familie noch bis spät in die Nacht im Kerzenschein die Gesellschaftsspiele. Der Blackout würde noch zwei ganze weitere Tage dauern. Zwei Tage, an denen die Kinder tagsüber im Schnee herumtollten und abends mit den Eltern Spiele spielten, bis sie müde und erschöpft ins Bett fielen. Und Marion genoss jede einzelne Sekunde des Blackout-Weihnachtens. Sie musste keine Verwandtenbesuche machen, sie musste nicht Skifahren, sie musste keine WhatsApp-Nachrichten beantworten. Als in der Nacht des 26. Dezembers das Licht wieder anging und das Handy wieder zu klingeln und piepsen begann, seufzte Marion. Und hoffte, dass es vielleicht jedes Jahr an Weihnachten einen Blackout geben würde.
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Lisa (Donnerstag, 19 Dezember 2024 13:42)
Eine wunderbare Geschichte, die bestimmt für viele Familien zutrifft. Ich wünsche mir auch einmal Weihnachten mit einem Blackout.
Bernhard (Freitag, 15 Dezember 2023 07:52)
Liebe Marlene, vielen Dank für die schöne Rückmeldung! Ich freue mich immer darüber zu erfahren, wie Euch meine Geschichten gefallen.
Schöne Grüße,
Bernhard
Marlene (Sonntag, 10 Dezember 2023 22:15)
Sehr schöne Geschichte, passt perfekt in unsere Zeit. Wirklich gut geschrieben.
Andrea Graser (Montag, 03 April 2023 23:52)
Ihre schöne, hintergründige Coronaweihnachtsgeschichte habe ich an meinem Adventsfenster vorgelesen ,voller Erfolg.
Dieses Jahr werde ich Weihnachten im Dunkeln vorlesen.�
Sie können einfach schreiben und alle Altersgruppe erreichen, weiter so!
Danke für Ihre schönen Geschichten❤️
Liebe Grüße
Andrea Graser vom Wirtshaus Popp
die ihren Pfarrer immer unterstützen muss beim Adventsfenster, mach ich aber gerne !