Zeitenwende

Ein friedlicher Urlaub mit Blick auf schneebedeckte Berge nimmt eine dunkle Wendung, als Erinnerungen und unbeantwortete Nachrichten eine verheerende Realität enthüllen. Ein intimer Blick auf das persönliche Drama, das sich inmitten eines größeren Konfliktes, angelehnt an die Spannungen des Ukraine-Krieges, abspielt.

Diese Geschichte entstand während einer Friedensdemo in Freiburg unter den Eindrücken der ersten Wochen des Ukraine-Krieges. Ich versuchte mir vorzustellen, was es mit meinem Leben machen würde, wenn ich, jetzt gerade, während ich im Urlaub bin, einen Anruf erhalten würde, dass mein Haus nicht mehr existiert. Dass ich kein Heim, keine Heimat habe und ich nicht weiß, ob und und wann ich wieder nach Hause zurückkehren kann.

Zeitenwende

Wir sitzen in der Sauna mit Panoramablick auf die schneeweißen Berge. Wir atmen tief durch, die Anspannung der letzten Tage fällt ein wenig ab. Wir sind endlich da. 1000 Kilometer sind wir gefahren, um die Gletscher zu sehen, um die Pisten hinabzujagen, um die Kälte zu spüren. 

 

Hektisch war es zugegangen. Wir hatten verschlafen. Schlaftrunken Kaffee gebrüht, das Auto bepackt, die Hälfte vergessen. Die sich wabernd ausbreitende Erkenntnis, was wir alles vergessen hatten. Das Ladekabel für das Handy, den historischen Roman und das Buch von Sorokin, die wir in Ruhe lesen wollten. Zum Glück haben wir die Kinder nicht vergessen, scherzten wir, als es längst zu spät war, wieder umzudrehen. Und blickten vorsichtshalber in den Rückspiegel. 

 

Dann die vielen Baustellen, die Staus. Das zähe Stopp and Go und das wachsende unruhige Gefühl, noch mehr vergessen zu haben. Wichtigeres vergessen zu haben. Die Verkehrsnachrichten verhießen nichts Gutes. Weitere Staus. Ferienbeginn im Osten, die Fernstraßen verstopften immer mehr. Die Ankunftszeit auf dem Navi nahm bedrohliche Ausmaße an. Wir würden erst in der Dunkelheit ankommen. 

 

Nach hunderten Kilometern leichtes loslassen. Alles, was nun vergessen war, würde im Haus bleiben. Wir hatten den Point of no Return erreicht. In der Ferne waren, ganz klein, die Berge zu sehen. Die Kinder weinten, weil es ihnen zu lange dauerte. Für eine große Pause hatten wir keine Zeit mehr. Wir mussten rechtzeitig ankommen, da es keinen späten Check-in gab. Wir schrien uns an, wir hofften und bangten, als die Straße frei war und als wir einmal über 150 fuhren, hallte wieder die Frage durch das Auto, ob wir nicht etwas Wichtiges vergessen hatten. Die Kinder husteten und zur Angst, dass wir zu spät kamen, gesellte sich die Angst, dass sie uns gar nicht hereinließen. Weil jemand krank war. Dabei brauchten wir den Urlaub so sehr. Nach all dem Stress, nach all dem Druck. Wir brauchten eine Pause, einmal durchschnaufen.

 

Wir atmen die ätherischen Öle tief ein. Die Berge leuchten silbern im Mondschein. Die Kinder schlafen seit einer Stunde. Wir freuen uns über die Mitternachtssauna. Nach dem ersten Aufguss ist der Kopf durchgepustet. Er ist leer. Resetknopf gedrückt. All die alten Gedanken sind hinaus geschwitzt. Das eiskalte Wasser hat den Rest erledigt. Wir liegen, in Bademäntel gemummelt auf der Terrasse in der klirrend kalten Luft. „Ich glaube, ich weiß, was wir vergessen habe“

 

Wir schauen uns an. 

 

„Wir haben das Gas nicht abgedreht.“

 

„Das kann nicht sein.  Dieses Gefühl haben wir doch immer.“

 

Wir stimmen in das Schweigen der Eislandschaft ein. Diese Kälte bildet Kristalle auf unseren Haaren.

 

„Der Kaffee ist übergegangen, wir haben ihn von der Herdplatte gerissen, die Kinder haben geschrien. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir das Gas wieder abgedreht hätten.“

 

Dann schütteln wir den Kopf. „Wir haben das Gas sicher abgedreht.“

 

Mitten im zweiten Aufguss fahren wir hoch. 

 

„Der Kaffee kochte über, die Kinder schrien, wir stellten den Kaffee beiseite, das Wasser schwappte über den ganzen Herd, wir haben uns die Hand verbrüht, die Hand minutenlang unter das Wasser gehalten, die Kinder haben weiter geschrien. Wir haben das Gas ganz sicher nicht abgedreht“, sind wir uns nun sicher. Oder?

 

Im kalten Wasser nehmen wir uns vor, den Nachbarn anzurufen. Der gieße doch sowieso die Blumen für uns. Hoffentlich rauche er nicht wieder. Ob er das schon einmal getan habe? Wir schütteln den Kopf. Nein, warum solle er das tun? Wir haben uns den Rauchgeruch sicher nur eingebildet.

 

„Wir rufen ihn lieber an“, beschließen wir und steigen aus dem eiskalten Becken.

 

Auf dem Weg zur Umkleidekabine stellen wir uns vor, was alles hätte passieren können. Wenn das Gas den ganzen Tag aufgedreht gewesen wäre und der Nachbar auf die Idee gekommen wäre, schon Abends die Blumen zu gießen, weil er in seinem eigenen Haus nicht rauchen darf. Und sich in unserer Küche die Zigarette zwischen die Mundwinkel gesteckt hätte und den Daumen an das Feuerzeug gelegt hätte. 

 

Aber warum hätte er das tun sollen? Und sicherlich haben wir das Gas nicht vergessen abzudrehen, beschwichtigen wir uns.

 

Als wir nach dem Handy in der Umkleidekabine greifen, sehen wir 28 Anrufe in Abwesenheit und 39 neue Nachrichten. 

 

Wir spüren, wie alles in uns zusammensackt. Unsere Hände zittern. Wir wagen es nicht, die Nachrichten zu öffnen. Wir müssen uns setzen. Alles wird klamm, die Gewissheit, was passiert ist, sickert langsam durch unsere Venen, hat den Kopf noch nicht erreicht. Die aktuellste Nachricht zeigt einen Link auf die regionale Nachrichtensendung. 

 

Wir klicken darauf. Unter dem Bild einer lodernden Flammenhölle steht „Toter nach Gasexplosion“ Wir hören wie in Samt gepackt zu, wie eine blechern weit entfernte Stimme davon berichtet, wie eine Gasexplosion ein Einfamilienhaus völlig zerstört hat. Die Explosion habe weite Teile des Hauses zerfetzt. Was noch übrig blieb, sei in einem Großbrand vernichtet worden. Es wurde bisher eine Leiche geborgen. Vermisst werde noch immer die Familie, die in dem Haus wohne.

 

Unsere Hände zittern. Wir wollen uns kurz freuen, dass die Familie, die in diesem Haus wohne, noch lebt. Aber wir können nicht. Wir können auch nicht weinen. Wir können nur entsetzt durch die Nachrichten scrollen. Wir sehen die letzte Nachricht des Nachbarn, der fragt, ob er heute schon die Blumen gießen soll. Wir sehen die ersten besorgten Nachrichten der anderen Nachbarn, ob wir in Sicherheit seien. Wir sehen die ersten verwackelten Aufnahmen von Blaulicht in unserer Straße. Von den Flammen. Von einem verkohlten Teddy, der einmal unseren Kindern gehört hat und den Resten eines Fotoalbums, das nass und angekokelt auf dem Gehweg vor unserem Haus liegt. 

 

Ein neues Foto kommt herein. Es zeigt die rauchenden Grundrisse eines Hauses, das vermutlich einmal unseres gewesen ist. Der Apfelbaum und die Kinderschaukel im Garten sind verbrannt. Es ist nichts mehr übrig, das bewohnbar wäre, das daran erinnert, dass noch vor einem Tag hier tatsächlich eine Familie gewohnt hat.

 

Wir wagen es nicht, uns anzuschauen. Wir leben noch. Aber wir sind in einem fremden Land, wir haben nur das dabei, was in unseren Kofferraum passte und haben nicht einmal ein Handyladekabel. Wir sprechen nicht die Sprache der Menschen in diesem Land, wir dürfen einige Tage willkommene Gäste hier sein. Aber was dann? Alles sackt unter uns weg. Wir begreifen, dass es keinen Ort mehr gibt, um zurückzukehren. Wir blicken an uns hinab. Wir tragen Bademantel und Saunaschlappen. Die Kinder schlafen noch friedlich in ihrem Bett. Sie ahnen noch nicht, dass sie am nächsten Tag in einer anderen Welt aufwachen werden. In einer feindseligen Welt. In einer Welt, in der sie weniger beschützt sind, einer Welt, die sie vor schier unlösbaren Herausforderungen stellen wird. Uns ist mit einem Mal kalt. Unendlich kalt.

Kurzgeschichte über den Angriff auf die Ukraine

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